Leidenschaft, Dialog und Partizipation



1 Auf den ersten Blick ist die Lage der Sozialdemokratie paradox. Die Finanzkrise hat den Wirtschaftsliberalismus entzaubert. Die Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten kulturell erheblich modernisiert. Den Konservativen und Liberalen fehlt es an klarer Orientierung und Projekten. Sozialdemokratische Positionen hingegen finden breite Zustimmung. Und doch weht in weiten Teilen Europas der Wind nicht in die Segel der sozialdemokratischen Parteien. In Deutschland ist die Lage differenziert. Die SPD kann viele ihrer Hochburgen halten oder nach Schwächephasen zurückerobern (wie im Frühjahr 2011 in Hamburg); zugleich aber können wir mit der aktuellen Lage nicht zufrieden sein.

Darum führt der zweite Blick zu der Einsicht, dass die SPD im letzten Jahrzehnt viel Vertrauen verloren hat. Das kann nicht allein damit erklärt werden, dass die politischen Wettbewerber an Attraktivität gewonnen haben. Viele frühere Wählerinnen und Wähler der SPD haben sich enttäuscht ganz von der Politik abgewendet.

2 Das verloren gegangene Vertrauen muss nun mühsam wieder hergestellt werden. Doch wie? Sollte die SPD wieder traditioneller oder moderner werden? Diese häufig gestellte Frage lässt sich nur dialektisch auflösen: Sie muss sich auf der Höhe der Zeit zu ihren traditionellen Werten und Zielen bekennen.

Selbstverständlich braucht eine Partei ein Sensorium für moderne Entwicklungen und neue Probleme. Aber in einer pluralen und nach Orientierung suchenden Gesellschaft verstärken Parteien, die mal diesem Einzelinteresse und mal jener Meinungsumfrage hinterherjagen, die politische Desorientierung. Wer nur eine politische „Nachfragestrategie“ betreibt, kann ganz schnell zum Getriebenen der Berliner Modewellen werden; doch diese spiegeln selten die wahre Lage im Lande wider. Gerade weil die Suche nach Orientierung groß ist, muss die SPD wieder eine politische „Angebotsstrategie“ verfolgen. Sie braucht eine klare politische Idee über den Tag hinaus. Eine Idee, die verschiedenen Lebensrealitäten einen gemeinsamen politischen Ausdruck verleihen kann. Die SPD muss sich drei strategischen Aufgaben stellen: Die politische Mission definieren. Die Sozialdemokratie braucht wieder eine neue Leidenschaft für ihren historischen Auftrag: alle Ungerechtigkeiten und Unfreiheiten zu überwinden, die aus Markt und Herkunft resultieren. Die Liberalen wollen eine Marktgesellschaft, die Konservativen letztlich immer noch eine Gesellschaft, die durch überkommene Privilegien von Klasse, Nation und Geschlecht bestimmt ist. Da diese Kräfte auch in einer demokratischen Gesellschaft immer vorhanden und gut organisiert sein werden, wird die Mission der SPD – im besten reformistischen Sinne – wohl ebenfalls nie an ein Ende gelangen.

Die Finanzkrise hat uns vor Augen geführt, dass eine allzu naive Sicht auf Märkte und Teile der wirtschaftlichen Eliten zu Wohlstandsverlusten und sozialen Spaltungen führt. Die Sozialdemokratie muss wieder zu dem politischen und parlamentarischen Gegenspieler eines entgrenzten und hemmungslosen Kapitalismus werden – gerade um die innovativen und kreativen Potenziale einer modernen Marktwirtschaft zur Entfaltung zu bringen. Sie muss einen klaren Werte- und Interessenstandpunkt einnehmen und Antworten auf das „Zeitalter der Unsicherheit“ (Tony Judt) und das vielfältige „Unbehagen in der Gesellschaft“ (Alain Ehrenberg) finden. Letztlich geht es – wie immer – darum, persönliche Sicherheit und persönliche Autonomie im Wandel zu ermöglichen.

Wir wollen Lebenswohlstand für alle. Doch dieses Ziel wird eben nicht nur durch Empowerment und Chancenförderung erreichbar sein, sondern es setzt auch gemeinschaftliche Lösungen voraus. Ohne eine gerechtere Einkommensverteilung, eine soziale Regulierung der Arbeit, mehr Zeitsouveränität sowohl für die High Potentials als auch die Verkäuferin sowie eine politische Strategie zur Erschließung von zukunftsfähigen Märkten und Beschäftigungsfeldern bleibt das Ziel von mehr Lebenswohlstand letztlich eine leere Worthülse.

Ein gesellschaftliches Zukunftsbündnis schaffen.
So interessant es auch für Medien und andere Politikinterpreten sein mag, neue und alte Koalitionsoptionen durchzuspielen – politische Strategie zielt nicht nur auf parlamentarische, sondern zunächst auf gesellschaftliche Mehrheiten ab. Es gibt in unserer Gesellschaft viel Unbehagen und Kritik, aber auch solidarisches und emanzipatorisches Potenzial. Nur ist dies fragmentiert, kaum durch Diskurse und Organisationen verbunden. Die Verbindungen zwischen unterschiedlichen Lebensrealitäten auf einer gemeinsamen Wertebasis herzustellen, ist im Kern die Aufgabe einer Volkspartei im 21. Jahrhundert.

So entkoppelt sich aktuell die ökologische von der sozialen Frage. Es ist „chic“, für den Atomausstieg und für Klimaschutz zu sein, und diese auch im internationalen Vergleich große Akzeptanz für ökologische Themen wäre ohne die Unterstützung durch die SPD und die Gewerkschaften nicht denkbar. Doch Lebenswohlstand für alle werden wir nur ermöglichen können, wenn wir die ökologische und die soziale Frage in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zusammendenken. Hier liegt die Aufgabe der SPD: den Dialog unter anderem mit dem ökologisch orientierten Bürgertum und modernen Unternehmern über die Gestaltung der Arbeit in der Zukunft zu führen.

Parteistrukturen öffnen und modernisieren.
Diesem Anspruch – eine Volkspartei zu sein, die in der Lage ist, in einer differenzierter gewordenen Gesellschaft neue Verbindungen herzustellen – wird die SPD nur gerecht werden können, wenn sie sich organisationspolitisch erneuert. Die von Sigmar Gabriel und mir vorgeschlagene Öffnung der SPD ist kein Selbstzweck. Sie kann auch nicht isoliert gedacht werden, sondern nur im Zusammenhang mit den beiden anderen genannten strategischen Aufgaben. Wir müssen neue Zugänge in die Gesellschaft aufbauen. Eine mobile, kosmopolitische Wirtschaftsberaterin und ein politik- und bildungsferner Jugendlicher haben möglicherweise wenig gemeinsam. Und beide werden nur schwer für klassische Parteiarbeit zu gewinnen sein. Beide haben aber etwas an Lebenserfahrung in die SPD einzubringen, mögen die Formen und Wege der Ansprache und Beteiligung auch unterschiedlich sein. Die SPD muss wieder zu einem Ort werden, an dem diese Erfahrungen gebündelt und in praktische Politik übersetzt werden.

3 Die SPD war in ihrer Geschichte stets die politische Repräsentantin von Bürgerinnen und Bürgern, die eine Schutzmacht benötigten. Sie muss dies auch in Zukunft sein. Aber nur Schutzmacht zu sein, reicht nicht. Repräsentation muss durch mehr Partizipation ergänzt werden – bei Sach- und Personalentscheidungen. Parteimitglieder, aber auch Bürgerinnen und Bürger sind selbstbewusster geworden. Sie wollen ihre Kompetenzen und Meinungen einbringen und teilhaben an Entscheidungen. Zugleich haben sich Biografien und Geschlechterrollen geändert. In einer dynamischen Gesellschaft kann es keine starre Parteiorganisation geben. Eine Partei der Zukunft muss akzeptieren, dass das dauerhafte Engagement in der Gliederung vor Ort nur eine mögliche Form der Teilhabe darstellt, die aber nicht allen Lebens- und Interessenlagen gerecht wird. Daher wollen wir zum einen auch Nicht-Mitglieder stärker beteiligen – durchaus mit dem Ziel, einen Teil von ihnen als Mitglieder zu gewinnen. Erforderlich sind neue Arenen oder Marktplätze der politischen Beteiligung, die auch Lust auf mehr machen. Zum anderen brauchen wir neue, vernetzte wohnortunabhängige Formen der thematischen Beteiligung in Ergänzung zum Regionalprinzip. Die SPD hat in ihrer Mitgliedschaft ganz viel Expertise – ob aus Lebenserfahrung oder fachlicher Expertise – zu den wichtigen Fragen unserer Zeit. Dieses Gold müssen wir heben. «

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