Länger arbeiten - oder absacken

Das Verhältnis von Alterung und Arbeit wird zu einem Megathema der nächsten Jahrzehnte. In einer Gesellschaft, die so dramatisch altert wie unsere, gibt es keine Alternative dazu, die Erwerbstätigkeit und den Einsatz älterer Arbeitnehmer auszuweiten

Deutschland altert. Die grundlegenden Zahlen sind mittlerweile landauf und landab bekannt: Die Zahl älterer Menschen wird sich im Verhältnis zur Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter etwa verdoppeln. Bleibt es bei dem derzeitigen Erwerbsverhalten, wird in etwa 25 Jahren auf einen Erwerbstätigen, der Lohnsteuer und Sozialabgaben zahlt, ein Rentner kommen.

Dennoch fordern einige Gewerkschaften die Verlängerung der subventionierten Altersteilzeit, und die Rente mit 67 ist so unbeliebt wie eh und je. Solche Einstellungen offenbaren ein Ausmaß an kognitiver Dissonanz, das nahelegt, dass Deutschland nicht nur eine alternde Bevölkerung hat, sondern auch als Gesellschaft altert: Das Land ist zu Neuausrichtungen in Folge veränderter Rahmenbedingungen offensichtlich kaum mehr in der Lage.

Trügt der Eindruck? Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass auch die deutsche Gesellschaft die Fähigkeit besitzt, auf den demografischen Wandel zu reagieren – zwar mühsam und gequält, letztlich aber doch mit den richtigen Maßnahmen. Dabei wird der allmähliche Wertewandel (zum Beispiel die selbstverständlich gewordene Erwerbsbeteiligung der Frauen) ebenso eine Rolle spielen wie äußere Entwicklungen (so treten beispielsweise altersbedingte Behinderungen deutlich später ein als früher) und der Druck der wirtschaftlichen Verhältnisse (etwa der Mangel an jungen Arbeitskräften, der sich bereits in wenigen Jahren merklich abzeichnen wird).

Arbeit ist zentral für unseren Lebensstandard. Je mehr Menschen in einem Land arbeiten, desto größer ist der Kuchen, aus dem die Löhne für die Finanzierung des eigenen Konsums und der eigenen Freizeit sowie die Steuern und Sozialabgaben zur Finanzierung des Konsums und der Freizeit anderer Menschen finanziert werden können. Ein Land, das weniger Menschen beschäftigt, weil es zum Beispiel viele Rentner hat, verliert an Lebensstandard, wenn es den verbliebenen Beschäftigten nicht gelingt, den Beschäftigungsrückgang durch eine höhere Produktivität auszugleichen.

Dieser Beitrag beleuchtet, wie viel Erwerbstätigkeit unser Land braucht, um trotz unserer Alterung nicht noch weiter in der Rangliste der reichen Länder abzusacken – und welche Qualität diese Erwerbstätigkeit haben muss.

Mehr Rentner, weniger Erwerbstätige

Die sich bislang ungebrochen erhöhende Lebenserwartung und die ebenso ungebrochen niedrige Geburtenrate haben für die makroökonomische Entwicklung Deutschlands zwei Folgen. Erstens sinkt zunächst die Zahl der Erwerbstätigen, später auch der Gesamtbevölkerung. Diese langfristige Aussicht ist ungewohnt für das Deutschland der Neuzeit. Deutschland wird als Wirtschaftsmacht schrumpfen, vor allem im Vergleich zu den Aufsteigern China und Indien, aber auch im Vergleich zu etablierten Industrieländern wie den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich. Abgesehen von quantitativ eher unwesentlichen Übergangsphänomenen – etwa der Umstellung der Infrastruktur in Gegenden mit weniger Einwohnern – hat dies jedoch keine unmittelbaren Auswirkungen auf den Lebensstandard jedes Einzelnen in Deutschland. Auch bevölkerungsärmere Länder können bekanntermaßen einen hohen Lebensstandard haben.

Viel wichtiger als die von konservativer Seite immer wieder in den Vordergrund geschobene Schrumpfung ist die zweite Folge: Eine alternde Bevölkerung hat tendenziell mehr Rentner und weniger Erwerbstätige. Denn aus der Dynamik der Alterung folgt, dass zunächst die Zahl der Jüngeren (also tendenziell der Produzenten) schrumpft und erst mit Verzögerung die Gesamtbevölkerung (also tendenziell die Konsumenten). Da der Arbeitseinsatz der wichtigste Faktor für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen und damit für die Einkommen und den Lebensstandard ist, bedeutet die demografische Alterung automatisch eine Bedrohung des Lebensstandards. Nicht nur der Kuchen als Ganzes schrumpft, sondern auch die Anzahl der Stücke, die auf jeden Bürger dieses Landes entfallen.

Dies lässt sich leicht in Zahlen fassen. Bei unverändertem Erwerbsverhalten (Berufseintrittsalter, Renteneintrittsalter und so weiter) sowie gleich bleibender Arbeitsproduktivität wird das zahlenmäßige Verhältnis von Produzenten zu Konsumenten in den nächsten drei Dekaden um etwa 30 Prozent sinken. Dementsprechend wird auch das Produktionsvolumen pro Konsument um etwa den gleichen Prozentsatz sinken.

Erfahrung und Menschenkenntnis

Könnte eine höhere Produktivität dies ausgleichen? Dazu müsste der historische Produktivitätszuwachs der deutschen Wirtschaft von derzeit 1,5 auf 2,4 Prozent steigen – eine Steigerung um 60 Prozent, und das über die gesamten nächsten 30 Jahre. Einzelne Menschen und einzelne Firmen können ihre Produktivität dramatisch ändern, allerdings selten über Dekaden. Erst recht sind der Produktivitätserhöhung einer ganzen Volkswirtschaft enge Grenzen gesetzt. Ich halte es für völlig unwahrscheinlich, dass dies gelingen kann.

Im Gegenteil scheint es doch eher danach auszusehen, dass unsere Arbeitsproduktivität in Zukunft abnehmen wird. Denn folgt man dem gängigen Vorurteil, dass ältere Mitarbeiter weniger produktiv sind als jüngere, dann bedeutet ein höherer Anteil älterer Mitarbeiter automatisch ein Absinken der gesamtwirtschaftlichen Produktivität in Deutschland. In Wirklichkeit jedoch gibt es keinen überzeugenden wissenschaftlichen Nachweis dafür, dass ältere Arbeitnehmer im derzeitigen Arbeitsalltag weniger produktiv sind als jüngere. Eher spricht die bislang angesammelte Evidenz dafür, dass bei der gegenwärtigen Altersgrenze die über die Zeit entwickelte Kunst der Arbeitsteilung und Arbeitsorganisation altersspezifische Vor- und Nachteile in etwa ausgleicht. Folglich gilt es, die Stereotype vom unproduktiven älteren Arbeitnehmer dringend zu ändern.

Mehr noch: Die altersspezifische Produktivität wird in Zukunft tendenziell steigen, wenn nachwachsende Kohorten ihrerseits älter werden, die eine bessere Schulbildung und eine bessere Gesundheitsversorgung genossen haben. Auch die „Kompression der Morbidität“, also die aufgrund des medizinischen Fortschritts kürzer werdende Zeit ernster Behinderungen, wird die Produktivität älterer Menschen erhöhen. Die Wertschöpfung älterer Dienstleister in der alternden Gesellschaft wird zudem von selbst ansteigen, wenn ältere Kunden es schätzen, dass sie von älteren Mitarbeitern bedient werden. Schließlich braucht eine Wissensgesellschaft mehr Erfahrung, mehr Menschenkenntnis und Organisationstalent – Eigenschaften, über die gerade ältere Mitarbeiter in besonderem Maße verfügen. In diesen Trends liegen große Chancen für die alternde Gesellschaft.

Unseren Nachbarn wird es besser gehen

Weitere Fragen drängen sich auf: Braucht man überhaupt einen noch höheren Produktivitätszuwachs? Derzeit haben wir im langfristigen Durchschnitt einen Produktivitätszuwachs von etwa 1,5 Prozent pro Jahr. Selbst wenn wir gar nichts ändern, würde dieser Produktivitätszuwachs dafür sorgen, dass wir auf dem Höhepunkt der Altersbelastung noch immer einen um etwa 12 Prozent höheren materiellen Lebensstandard haben werden als heute, trotz niedrigerer Erwerbstätigkeit und höheren Sozialbelastungen. Reicht das denn nicht?

Ja und nein. Es kommt darauf an, mit wem man sich vergleicht. Es wird uns besser gehen als der Vorgeneration, allerdings nicht viel. Es wird uns aber deutlich schlechter gehen als den Nachbarländern, in denen die Alterung nicht so dramatisch voranschreitet wie bei uns. Bis auf Italien sind das alle übrigen Mitglieder der EU! Seit vielen Jahren wechselt Deutschland mit Italien die rote Laterne des am langsamsten wachsenden EU-Mitglieds. Die Lebensstandard-Schere gegenüber den übrigen Mitgliedsländern wird von Jahr zu Jahr ein wenig größer – kaum merklich in einem einzigen Jahr, aber sehr wohl über eine Dekade oder gar eine Generation.

Wenn wir also halbwegs mit unseren Nachbarn mithalten oder die Schere sogar wieder etwas schließen wollen, benötigen wir mindestens den historischen Produktivitätszuwachs, und dieser wird sich mit verstärkten Anstrengungen auf dem Gebiet der Aus- und Weiterbildung auch im höheren Alter (will sagen: auch nach dem 45. Lebensjahr) durchaus erreichen lassen. Gigantische Sprünge in der Produktivitätsentwicklung sind eher unwahrscheinlich. Mit einer Verbesserung der Qualität unserer Arbeit allein werden wir unseren internationalen Status quo nicht halten können. Auch quantitativ müssen wir etwas tun.

Deutschland hat im internationalen Vergleich eine niedrige Erwerbsbeteiligung. Dies gilt insbesondere für Junge (im Alter unter 25 Jahren), Ältere (über 55 Jahre) und westdeutsche Frauen. Wir stehen zwar besser da als Italien, aber dramatisch schlechter als beispielsweise unsere Nachbarn Dänemark und die Schweiz. Ironischerweise liegt für Deutschland genau hier eine große Chance. Denn wenn wir eine höhere Erwerbsbeteiligung erreichen, steigt die Quantität der Arbeit und kann einen Teil des alterungsbedingten Rückgangs wieder kompensieren.

Was Dänemark schon erreicht hat

Dies lässt sich gut an einem Zahlenbeispiel verdeutlichen. Würde Deutschland in den nächsten 30 Jahren die Erwerbsquote erreichen, die unser Nachbarland Dänemark bereits heute aufweist, so würde bei gleich bleibender Produktivität unser Lebensstandard nur um 11 Prozent sinken. Konkret würde dies bedeuten, dass in den nächsten 30 Jahren das Berufseintrittsalter um 2 Jahre sinken, das Renteneintrittsalter um 2 Jahre steigen, sich die Frauenerwerbsquote zu 90 Prozent an die der Männer angleichen und die Arbeitslosigkeit auf 4,5 Prozent sinken müsste. Für die alternde Gesellschaft Deutschlands scheinen das enorme Zahlen zu sein, selbst wenn sie auf drei Jahrezehnte verteilt werden können. Sie sind aber nicht unrealistisch, denn Dänemark hat sie ja schon erreicht.

Philosophie, Musik und Ehrenamt

Andererseits: Wir haben doch bereits eine hohe Arbeitslosigkeit, die wir nicht wegbekommen. Schaden wir uns da nicht selbst? Die Älteren würden den Jüngeren doch nur die Jobs wegnehmen, wie in einem Nullsummenspiel! Und geht uns nicht ohnehin die Arbeit aus? Wenden wir uns doch lieber immateriellen Werten zu, musizieren und philosophieren wir, wie Meinhard Miegel neulich empfahl! Oder, weniger romantisch und elitär, verhelfen wir dem Ehrenamt zu mehr Auftrieb!

Tatsächlich kann das verstärkte Engagement von Älteren in Ehrenämtern, in der Nachbarschaftshilfe, in familiären Unterstützungsleistungen und Freundschaftsdiensten die negativen Folgen des demografischen Wandels reduzieren. Allerdings sind der Produktivität solcher Tätigkeiten enge Grenzen gesetzt. Denn was für die informellen Aufgaben spricht – die intrinsische Motivation, die menschliche Nähe –, ist oft die Kehrseite mangelnder Professionalität und fehlender Qualitätssicherung. Grenzen der informellen Arbeit zeigen sich zudem in den hohen Depressivitätsraten langjährig pflegender Familienangehöriger. Die steigende Anzahl Älterer bei einer gleichzeitig schrumpfenden Anzahl von potenziell zu deren Pflege fähigen Kindern wird diese Überforderung noch weiter verstärken. Kurz: Eine alternde Gesellschaft wird mehr professionelle Hilfe benötigen und nicht weniger. Das Ehrenamt ist eine Ergänzung, aber keine Alternative zum Erhalt der Erwerbsfähigkeit sowie zum Einsatz älterer Arbeitnehmer.

Geht uns die Arbeit aus? An Schwarzsehern mit dieser Botschaft fehlt es wahrlich nicht. Die Furcht vor dem Untergang der Arbeit ist verständlich, aber falsch, und sie bedeutet letztlich nichts anderes als die Angst vor dem Strukturwandel. Der Blick in die Geschichte zeigt, wie die Arbeit in großen Produktionszweigen verschwunden ist – zum Beispiel in der Landwirtschaft, in der vor 150 Jahren etwa 60 Prozent aller Beschäftigten arbeiteten, vor 100 Jahren noch 40 Prozent und vor 50 Jahren 20 Prozent. Dennoch ist uns die Arbeit nicht ausgegangen. Im Gegenteil blühte erst der Industriesektor, nun sind wir Zeuge des Übergangs zu einer Wissensgesellschaft. Übergänge und Strukturwandel sind schmerzhaft, aber sie widerlegen den Irrglauben vom Untergang der Arbeit.

Die Frühverrentung ist nicht legitimierbar

Und ebenso irrgläubig ist es, wenn wir die Arbeit als ein Nullsummenspiel begreifen. Ältere nehmen nicht den Jüngeren die Arbeit weg. Vielmehr belastet jeder frühverrentete Ältere die Lohnnebenkosten der verbliebenen jüngeren Kollegen, denn wer sonst trägt die Kosten der Subventionierung von Frührente, Scheinarbeitslosigkeit Älterer oder Altersteilzeit? Es ist daher kein Zufall, dass die Arbeitslosigkeit unter Jüngeren gerade in jenen Ländern besonders hoch ist, in denen viele ältere Kollegen früh verrentet werden. Die Frühverrentung ist kein ökonomisch wie moralisch legitimierbarer Akt, um Jüngeren und Älteren zugleich zu helfen. Sondern sie schadet der jüngeren Generation, indem sie deren Soziallasten weiter erhöht und damit ihre Jobchancen deutlich verschlechtert.

„Altern und Arbeit“ wird ein Megathema der nächsten Dekaden. Es gibt keine Alternative zur Erhaltung der Erwerbsfähigkeit und zum tatsächlichen Einsatz älterer Arbeitnehmer. Dies muss das übergeordnete politische Ziel einer Gesellschaft sein, die so dramatisch altert wie die deutsche.

zurück zur Person