Länder und Kommunen - Motoren des zukunftsfähigen Sozialstaats

Damit der Sozialstaat mehr Schutz, Beteiligung und Emanzipation ermöglichen kann, muss er sich qualitativ weiterentwickeln. Nur so können wir die Potenziale aller Menschen fördern und die Spaltung der Gesellschaft überwinden. Dass die schwarz-gelbe Bundesregierung diesen Zusammenhang nicht versteht, rückt Länder und Gemeinden in den Fokus

Im Krisenjahr 2009 erlebte der deutsche Sozialstaat eine Sternstunde. Die Weltwirtschaft brach in einer seit 1929 nicht gekannten Dimension ein, aber anders als vor 80 Jahren griffen die Schutzmechanismen zuverlässig und die Schockwelle konnte abgedämpft werden. Als er am nötigsten gebraucht wurde, hat der deutsche Sozialstaat funktioniert.

Diese Erfahrung darf jedoch nicht blind machen für die Erkenntnis, dass unser Sozialstaat auf viele strukturelle Fragen unserer Zeit keine ausreichenden Antworten mehr gibt. Denn das Fundament, auf dem er gebaut wurde, hat sich verändert: Längst befinden wir uns mitten im Strukturwandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung stieg allein zwischen 2001 und 2008 der Anteil derer, die einer qualifizierten Arbeit nachgehen, von 69 auf 74 Prozent. Der Anteil der einfachen Tätigkeiten sank hingegen von 26 auf 21 Prozent. Und seit 1970 stieg die Zahl der Beschäftigten im Dienstleistungssektor von 45 auf heute 73 Prozent, während sie im produzierenden Gewerbe von 46 auf 24 Prozent sank. Die Wirtschaftskrise beschleunigt diesen Trend noch: Der Dienstleistungssektor ist stabil, ja er wächst sogar teilweise, während Industriearbeitsplätze trotz vehementer Stützungsmaßnahmen massiv wegbrechen.

In der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts sind Erwerbsbiografien voller Brüche und Sprünge sowie die so genannte atypische Beschäftigung der Normalfall, so dass der arbeiterliche Sozialstaat seine Integrationskraft verliert. Dieses mismatch zwischen altem Sozialstaat und neuer Arbeitswelt drückt sich im Anstieg von Armut und prekären Arbeitsbedingungen, wachsender sozialer Ungleichheit sowie sinkenden Aufstiegschancen aus. So ist der Niedriglohnsektor zwischen 1995 und 2009 von 15 auf 23 Prozent angestiegen. Deutschland hat mittlerweile nach den Niederlanden die höchste Teilzeitquote in Europa, wobei die Teilzeitarbeit überwiegend unfreiwillig geleistet wird. Der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit des Einkommens in einer Gesellschaft abbildet, hat sich in Deutschland so negativ entwickelt wie in kaum einem anderen Land der OECD. Kinder zu bekommen bedeutet in Deutschland ein Armutsrisiko: Rund 42 Prozent aller Alleinerziehenden beziehen Arbeitslosengeld II. Wie die Studie „Gesellschaft im Reformprozess“ der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2006 gezeigt hat, macht sich im so genannten Prekariat Fatalismus breit, der Glaube an den sozialen Aufstieg geht verloren. Wenn der Sozialstaat nur notdürftig alimentiert statt Wege zu öffnen, erodiert seine Legitimationsbasis.

Notlagen sollen gar nicht erst entstehen

Der Sozialstaat muss in der Lage sein, soziale Notlagen abzufedern. Doch langfristig reicht das nicht aus: Die Notlagen sollten gar nicht erst entstehen. Die Voraussetzungen dafür sind eine qualitativ hochwertige soziale Infrastruktur sowie frühzeitige, langfristige und lebensbegleitende Investitionen in die Befähigung von Menschen. Dabei müssen die Politikfelder Arbeitsmarkt, Sozialpolitik, Wirtschaftsförderung, Bildung, Gesundheit, Familie, Jugend, Gleichstellung und Integration von Einwanderern stärker miteinander koordiniert und vernetzt werden. Das Ziel ist es, jeden Einzelnen zu aktivieren und zu befähigen – unabhängig von Alter, Herkunft oder Geschlecht und basierend auf einer verlässlichen Mindestabsicherung. Eine Orientierung dafür bieten die skandinavischen Sozialstaaten; sie sind bei der Gewährleistung von Teilhabe, Emanzipation und Sicherheit am fortschrittlichsten.

Im Jahr 2007 hat die SPD in ihrem Hamburger Programm den vorsorgenden Sozialstaat verankert und damit ein wichtiges Signal gesetzt. Das Konzept weist aber nicht nur in die Zukunft, sondern taugt auch als Maßstab, um die elf Jahre sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung seit 1998 kritisch zu bewerten. Zum Beispiel sind in dieser Zeit in der Bildungspolitik die richtigen Weichen gestellt worden. Die Verdoppelung des Anteils der Ganztagsschulen auf 20 Prozent war ein Meilenstein. Auch Fortschritte in der frühkindlichen Bildung sind auf der Habenseite zu verbuchen, wenngleich die Defizite in diesem Bereich noch immer enorm sind. Dort liegt die Ursache für die beschämend hohe Schulabbrecherquote. Den etwa 10 Prozent Jugendlichen eines Jahrgangs, die keinerlei Schulabschluss machen, droht ein Leben in prekärer Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit. Die großen Auffangbecken einer Industrie, die ungelernte Arbeiter absorbieren konnte, gibt es so heute nicht mehr. Transferleistungen sind für Geringqualifizierte nur ein Notpflaster, keine Lösung. Hochwertige, lebenslange Bildung für alle ist daher vorsorgende Sozialpolitik im besten Sinne. Zugegeben: Es ist mittlerweile ein Allgemeinplatz, dass Bildung das Schlüsselthema unserer Zeit ist. Paradoxerweise folgen auf diese Erkenntnis dennoch keine angemessenen Investitionen, Interventionen und Innovationen.

Das Elterngeld ist eine sozialpolitische Errungenschaft, die dazu beitragen kann, die Väter für das Thema Erziehung zu sensibilisieren. Beim Ehegattensplitting hingegen – ein Hemmnis für eine gerechte Teilhabe von Frauen am Erwerbsleben und ökonomisch unsinnig – war die SPD nicht mutig. In den rot-grünen Regierungsjahren hätte es eine Mehrheit dafür gegeben, diese antiquierte Hausfrauensubvention in die Mottenkiste der Geschichte zu verbannen und die frei gewordenen Mittel für vorsorgende Sozialinvestitionen zu nutzen.

Außerdem wurde die Finanzierung unseres Sozialstaats mit den Steuertransfers in den Gesundheitsfonds, der steuerfinanzierten Grundsicherung und der Entlastung der Arbeitslosenversicherung sowie der Stützung der Rentenversicherung durch die Ökosteuer nachhaltiger, gerechter und universalistischer. In der Arbeitsmarktpolitik hingegen fällt die Bilanz gemischt aus: Es war richtig, den Aktivierungsgedanken zu stärken, allerdings ist die Aktivierung für die meisten Menschen eher im Fordern als im Fördern sichtbar. Defizite bestehen vor allem in der beruflichen Weiterbildung.

Die „Herdprämie“ ist der Sündenfall

Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat nun damit begonnen, die ersten Schritte in Richtung eines vorsorgenden Sozialstaats zu untergraben. So verhindert ihre klientelistische Steuerpolitik Zukunftsinvestition in die Infrastruktur eines stärker universalistisch-steuerfinanzierten Sozialstaats. Ein Sündenfall zeichnet sich mit dem Betreuungsgeld ab: Damit würde konterkariert, was in den vergangenen Jahren an Fortschritten in Richtung einer modernen Familienpolitik auch von Teilen der Union mitgetragen wurde. Die „Herdprämie“ setzt falsche Anreize für Eltern und bindet knappe Ressourcen, die für den Ausbau der Kinderbetreuung dringend notwendig wären.


In der Bildungspolitik plant die neue Bundesregierung ein elitäres Stipendienprogramm, anstatt in die Verbesserung der Universitäten zu investieren und den Zugang zu höheren Bildungsabschlüssen für die unteren sozialen Schichten zu verbessern. Der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Aufstiegschancen wird sich in der schwarz-gelben Regierungszeit weiter verstärken.

Vom Bund ist deshalb in den kommenden vier Jahren wohl keine fortschrittliche Sozialpolitik zu erwarten. Deshalb muss die Erneuerung des Sozialstaats von unten kommen: aus Ländern und Kommunen. Das ist schwierig, denn die Steuerpolitik der Bundesregierung schnürt ihnen den Atem ab und engt den Handlungsraum für Zukunftsinvestitionen in eine soziale Infrastruktur ein.

Jetzt ist Kreativität in den Ländern und Kommunen nötig

Das Land Brandenburg zeigt, dass auch mit begrenzten Ressourcen durch Kreativität und Engagement richtungsweisende Projekte entstehen können. Beispielsweise werden in den „Lokalen Netzwerken Gesunde Kinder“ Familien von geschulten, ehrenamtlichen Familienpaten unterstützt, um die gesunde Entwicklung ihrer Kinder zu fördern. Die Paten arbeiten mit Kliniken, Hebammen, Kinderärzten zusammen sowie mit Gesundheits-, Jugend- und Sozialämtern. Um auf dem Weg zum vorsorgenden Sozialstaat weiter voranschreiten zu können, müssen Länder und Kommunen transparent machen, welche Zukunftsprojekte von der Bundespolitik fiskalisch versperrt werden. Bedarfe müssen reklamiert, Kritik muss artikuliert und alternative Ideen müssen präsentiert werden.

Der Weg hin zu mehr Vorsorge ist in den rot-grünen Jahren erkennbar geworden. Aber: Der Prozess verlief zu zaghaft, zu langsam und vor allem zu wenig an denen orientiert, die die größtmögliche Unterstützung benötigen, um sich selbst helfen zu können. Dass der Sozialstaat in der wirtschaftlichen Krise funktioniert, hat er bewiesen. Jetzt sollte er zeigen, dass er auch die gesellschaftlichen Grundlagen für den sozialen und wirtschaftlichen Wandel legen kann. Dabei können die Kommunen und die Länder eine wichtige Rolle spielen, wenn sie die Logik der Vorsorge verfolgen und wenn ihnen der finanzielle Raum dafür gegeben wird. «

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