Kyoto ist tot - und was jetzt?

Die globale Klimapolitik ist nicht am Ende, sondern sie betritt die neue Arena der Real- und Weltpolitik. In Deutschland ist das nur noch nicht angekommen

Jürgen Krönig gebührt Dank für seinen Essay „Die Kyoto-Ära ist vorüber“ in der Berliner Republik 3/2010, dessen Tenor – weniger Hysterie, mehr angelsächsischer Pragmatismus in der Klimadebatte – dezidiert gegen den Mainstream der deutschen Klimapublizistik bürstet. Jenseits der Extreme unfruchtbarer Apologetik und untergangsbeseelter Bußpredigten auf der einen sowie nicht weniger ärgerlicher Verneinung anthropogener Klimaeffekte auf der anderen Seite, lenkt der Autor den Leserblick auf ein gravierendes Defizit: Es fehlt ein engagierter Dialog über Ziele, Instrumente und Maßnahmen der nationalen und internationalen Klimapolitik. Nach dem Debakel von Kopenhagen und dem Minimalismus auf dem Klima-Gipfel in Cancún ist der Bedarf dafür größer denn je.

Rückblickend stellt die 15. Weltklimakonferenz in Kopenhagen nicht mehr und nicht weniger dar als eine Wasserscheide: Sie markiert das Ende einer Dekade, in der Europa die globale Klimapolitik dominierte. Der globale Multilateralismus einer exklusiv von den Vereinten Nationen administrierten Top-down-Klimapolitik ist gescheitert. Der oberste Klimadiplomat der Regierung Barack Obama, Todd Stern, konstatierte ohne Kondolenzträne: „Kyoto is dead.“ Die selbst ernannten Klimamusterschüler der EU-27 wurden in Kopenhagen gründlich entzaubert, und China führte Obama sogar regelrecht vor. Möglich erscheint deshalb nach der atlantischen eine pazifische Dekade, aber unter wessen Führung? Das im Vorfeld der Konferenz in amerikanischen Medien gefeierte „Chimerica“ – eine sino-amerikanische Doppelspitze der Weltdiplomatie – wurde als Hirngespinst der Presse und selbstreferentieller Spin-Doctors enttarnt. Somit bleibt die Frage unbeantwortet, wie belastbar eine derartige geteilte Führungsrolle rivalisierender Mächte tatsächlich wäre.

Indes ist die tektonische Ostbewegung der globalen Diplomatie mit Händen greifbar. China, aber auch Indien, bekamen in Kopenhagen ihr Wunschergebnis. Europa und die Vereinigten Staaten betrieben Schadensbegrenzung in letzter Konferenzminute. So ist es auch wenig überraschend, dass Barack Obama und Angela Merkel nach ihrer Heimreise beim vermeintlichen globalen Jahrhundertthema nur noch stark reduzierten Elan an den Tag legten, wo dessen Früchte neuerdings so unerfreulich hoch hängen.

Es geht jedoch um weit mehr als eine diplomatische Verstimmung. Die Bruchlinien reichen tiefer. Ironischerweise gelang ja in Kopenhagen, was vor allem auch deutsche und europäische Klimaschützer in trautem Einvernehmen mit diversen Umweltministern seit Jahren immer wieder lautstark gefordert hatten: Klimapolitik wurde endlich Weltpolitik – und prompt zerschellte der umwelt- und klimapolitische Illusionismus an den Klippen der „guten alten Realpolitik“. In dem Maße, wie die Klimapolitik ins Zentrum der Weltpolitik rückt, werden Umwelt- und Klimapolitiker faktisch marginalisiert. Ein Schicksal, das sie mit Menschenrechtlern, Rüstungsgegnern oder Tierschützern teilen. Finanz-, wirtschafts- und militärstrategische Interessen treten in den Vordergrund. Ein irritierendes Zwischenfazit lautet daher: Die internationale Klimapolitik ist nicht am Ende, sondern sie betritt eine neue Arena!

Das neue Kraftzentrum heißt Asien

Außerdem wurde in Kopenhagen klar, dass es nicht um die Rettung der Welt geht, sondern um deren Neuaufteilung. Es geht um neue Transferzahlungen und Subventionen für ausgewählte Branchen in Milliardenhöhe, um die Neustrukturierung und Generierung von Märkten für Energie- und Klimatechnologien mit geostrategischer Bedeutung. Der chinesische Solarboom ist dafür nur ein signifikanter Indikator.

Indem Klimapolitik zur Realpolitik wird, verschiebt sich das Kräftezentrum von Europa nach Asien sowie vom alten saturierten Norden der EU-27 in den dynamischen Süden. Wobei derzeit noch völlig offen ist, ob die Vereinigten Staaten tatsächlich willens und in der Lage sein werden, international eine aktiv gestaltende Rolle einzunehmen. Das vorläufige Scheitern des Energie- und Klimagesetzes im amerikanischen Senat ist nicht gerade ein hoffnungsvolles Signal. Dass ein landesweites „Cap and Trade“ unbefristet vertagt wurde, untergräbt einen der wenigen attraktiven Ansätze marktorientierter Politik unter dem Kyoto-Dach: die internationalen Kohlenstoffmärkte, namentlich den Emissionshandel sowie die flexiblen Instrumente zur Treibhausgasreduktion Clean Development Mechanism (CDM) und Joint Implementation (JI). Der unversöhnliche Tenor amerikanischer Innenpolitik vergiftet nicht zuletzt auch die Energie- und Klimadebatte. Geradezu legendär ist der Fernsehspot, mit dem der  Gouverneur des Kohlestaates West Virginia und frisch gekürte Senator Joe Manchin bei den jüngsten Zwischenwahlen für sich warb: Per Blattschuss erlegt er darin den „Cap and Trade Bill“.

Diese doppelte Verschiebung des klimapolitischen Fokus ist bei weiten Teilen der europäischen und besonders der deutschen politisch-medialen Diskursgemeinde noch gar nicht angekommen. Gerade hierzulande pendelt die Politik zwischen idealistischem Sendungsbewusstsein und nicht minder irritierendem Neo-Autarkismus, ganz so, als ob das Heil der Welt auf deutschen Solardächern und mit subventionsgesättigtem Biosprit geschaffen würde. Ein Schurke, wer da nach volkswirtschaftlichem Sinn oder gar Nachhaltigkeit fragt.

Getreu dem Motto „Aus Niederlagen sollst du lernen“ sollte das Jahr 2010 als Chance zur schonungslosen Bilanzierung entlang globaler Fakten genutzt werden. Jenseits des deutschen Schrebergartenzauns ist die Welt im Wandel. So hat China die Vereinigten Staaten beim Energieverbrauch wie bei den Kohlendioxid-Emissionen deutlich überholt und entwickelt sich zusehends zu einem Leitmarkt für Hightech, einschließlich moderner Energietechnologien, die in der Vorstellungswelt mancher europäischen Politiker immer noch eine Art naturgegebenes Privileg Europas zu sein scheinen. Weit gefehlt.

Otmar Edenhofer, Professor für die Ökonomie des Klimawandels an der TU Berlin, hat analytisch präzise den Kern des Problems freigelegt: Kopenhagen sei keine Klima-, sondern eine Wirtschaftskonferenz gewesen, und zwar eine der wichtigsten seit dem Zweiten Weltkrieg. Denn wenn es tatsächlich notwendig ist, das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen, dann dürften bis 2050 nur noch etwa 750 Milliarden Tonnen Kohlendioxid emittiert werden. Dies wiederum bedeutet, dass nur noch rund 5 Prozent der heute bekannten globalen Reserven an fossilen Energieträgern verbraucht werden könnten und die restlichen 95 Prozent unserer – allen Peak-Oil-Unkenrufen zum Trotz – üppigen Vorräte von Öl, Erdgas und besonders Kohle dort verbleiben müssten, wo sie heute sind. Dauerhaft.

Ölabhängigkeit als strategisches Dilemma

Die mutmaßlichen Gewinner und Verlierer einer solchen im wahrsten Sinne des Wortes „radikalen“ Klimapolitik haben offenkundig gerade erst begonnen, ihre jeweilige Situation zu begreifen. Es wäre eine historisch beispiellose globale Neuverteilung der nationalen Wohlfahrten. Ihre Tragweite wäre wahrscheinlich allenfalls vergleichbar mit der ersten industriellen Revolution, mit der die globalen Wohlfahrtsströme sich für ein langes Jahrhundert fast ausschließlich zugunsten Europas und seines dynamischsten Erben, den Vereinigten Staaten, entwickelten. Bereits die vergangenen zwei Jahrzehnte globalisierter Ökonomie haben einen relativen Machtverfall der „alten“ Ökonomien bewirkt und einen rasanten Aufstieg vor allem Chinas und Indiens. Die Klimakarte hätte durchaus das Potenzial zu einem weiteren Trumpf im globalen Spiel.

Wie immer, wenn es in der Weltpolitik wirklich ernst wird, liegt der entscheidende Schlüssel zum Erfolg bei den Amerikanern. Natürlich stimmt die Beobachtung, dass es in den Vereinigten Staaten keinen belastbaren politischen Konsens für eine bindende, multilaterale (Klima-)Politik gibt. Das war unter Clinton nicht anders als unter Bush, und auch die Regierung Obama bekommt ihre Grenzen aufgezeigt.

Warum Klimapolitik auch Sicherheitspolitik ist

Dennoch bleibt der Klimawandel auf der Agenda der politischen Eliten. Das Thema „Klimapolitik als Sicherheitspolitik“ ist in den Vereinigten Staaten ein Top-Thema hoher Militärs. Mit einem für deutsche Ohren mitunter frappierendem Tenor wird die geostrategische Dimension der Abhängigkeit von Ölimporten kritisiert. Sie verschlingen jährlich rund 800 Milliarden Dollar, von denen ein großer Teil die Kassen von Regimen füllt, deren Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und anderen westlichen Demokratien diplomatisch als „schwierig“ umschrieben werden könnte. Hier trifft eine ganz andere Motivation des auch in Deutschland beliebten Topos „Weg vom Öl“ mit der klimawissenschaftlich begründeten Aufforderung zur Verringerung des Verbrauchs fossiler Energieträger zusammen. Auch gilt in Militärkreisen als unstrittig, dass ein forcierter Klimawandel die Probleme von Entwicklungs- und Schwellenländern weiter verschärfen und die ohnehin vielerorts gefährdete zivile Staatlichkeit zusätzlich destabilisieren wird. Selbst  wenn es zynischer Unsinn ist, die grauenhaften bürgerkriegsähnlichen Zustände in Darfur dem Klimawandel zuzuschreiben, spricht viel dafür, dass ein unkontrollierter Klimawandel die Gemengelage künftiger militärischer Bedrohungen noch verschlimmern kann.

China und Indien haben ihre strategischen Prioritäten deutlich gemacht. Umwelt- und Klimaschutz sind ihnen wichtig, aber sie werden auf absehbare Zeit keinerlei externe Restriktionen akzeptieren. Jegliche Beeinträchtigung ihrer selbstdefinierten Wachstumspfade wird auf erbitterten Widerstand stoßen. Und das ist auch nachvollziehbar, denn diese Regierungen werden zuallererst durch das von ihnen „geschaffene“ Wirtschaftswachstum legitimiert – eine Tatsache, derer man sich in saturierteren Ländern gelegentlich erinnern sollte.

In Ermangelung erfolgreicher Weltrettungskonferenzen wäre schon viel gewonnen, wenn Europa einsähe, dass die Utopie der unilateralen Vorleistung, mit deren Hilfe die internationale Staatengemeinschaft inspiriert und zu neuen kollektiven Leistungen mitgerissen würde, in Kopenhagen endgültig widerlegt wurde. Eine Neuauflage wäre kein Ausweis von Klugheit. Naheliegende Optionen wären vielmehr rhetorische Abrüstung und inhaltliche Neustrukturierung mit einem stärkeren Fokus auf wirtschaftlich-technologische Kooperation unter ehrlicher Berücksichtigung der deutschen Interessen. Die deutsche Klimapolitik wird sich „normalisieren“ und nach dem cui bono ihres Handelns befragt werden dürfen. Übrigens steht und fällt auch der oft beschworene Green New Deal damit, dass nicht allein Deutschland oder die EU diese „grünen“ Produkte alimentieren.

Will man die internationale Klimapolitik jenseits von Scheckbuchdiplomatie und Subventionen wirklich dauerhaft politisch und gesellschaftlich verankern, muss kollektives Handeln nachvollziehbarer und transparenter gemacht werden. Auch hier hat das teilweise chaotische Geschachere in Kopenhagen schonungslos die Defizite der real existierenden Klimadiplomatie offengelegt. Leider besteht auch hier kein Anlass zu Optimismus. Gerade die EU-Klimapolitik zeigt, wie schwer es bereits ist, 27 nationale Interessen fair und tragfähig auszugleichen. Genau deshalb sollten wir nicht aufhören, überfällige Fragen zu stellen: Ist der UN-Multilateralismus tatsächlich alternativlos? Ist die internationale Konferenzkarawane das einzige legitimierte Forum? Wer kontrolliert eigentlich den bürokratisch-politischen Komplex oder sorgt zumindest für eine peer review der Tausende von Seiten umfassenden Konferenzdokumente?

Ohne Unterstützung von unten geht nichts voran

In ihrer Berliner Climate Lecture hat die letztjährige Nobelpreisträgerin für Wirtschaftswissenschaften, Elinor Ostrom, für einen „polyzentrischen Ansatz in der Klimapolitik“ geworben. In der besten Tradition der amerikanischen Gründerväter und der federalist papers geht es ihr um das „Empowerment“ kleiner sozialer Einheiten – nicht als Alternative zu letztlich unverzichtbaren globalen Abkommen, sondern als Chance zur Aktivierung gesellschaftlicher Kräfte und zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts. Ohne diese Unterstützung von unten würde jede Klimapolitik bestenfalls als kalter Verwaltungsakt empfunden, und damit geradezu zwangsläufig Gefahr laufen, politisch zu scheitern. Ein solches, die Freiheit und Mündigkeit des Menschen betonendes Empowerment sollte gerade Sozialdemokraten inspirieren, nicht ängstigen!

Jenseits der teilweise realsatirisch anmutenden Diskussionen um kommunale Klimazonen ist Elinor Ostroms Ansatz auch eine Ermutigung zur Verteidigung der Errungenschaften des Individualismus gegen den Kollektivismus, der Eigenverantwortung gegen den Obrigkeitsstaat. Warum dies der Erwähnung wert ist? Ein Blick in die Rhetorik-Arsenale mancher „Klimaschützer“ bis hinauf in die gegenwärtige Regierung zeigt, dass dort der Klimaschutz offenbar als neue Systemdebatte wahrgenommen wird. Und zwar ganz explizit einschließlich der Frage, ob zur Bewältigung der existenziellen Klimakrise die „chinesische Demokratie“ womöglich geeigneter sei als der mühselige, oft sich selbst blockierende Prozess westlich-partizipativ-repräsentativer Demokratie. Spätestens an dieser Stelle sollte der feuilletonistische Spaß an der Selbstkasteiung wohlstandsmüder Mitteleuropäer dann aber aufhören.

So fühlt man sich – auf reichlich halber Wegstrecke zwischen Kopenhagen und dem Ende der Kyoto-Periode – beim Nachdenken über die Zukunft der globalen Klimapolitik ein wenig an die schon legendäre Abmoderation des Literarischen Quartetts erinnert: „Der Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Aber es sind gerade diese Fragen, über die es sich nachzudenken und zu streiten lohnen würde. Einfache Antworten gibt es schon genug. «

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