Kultur der Bengalos

Ob Düsseldorf, Köln, Hannover, Dortmund oder anderswo: In den Fanszenen des deutschen Profifußballs scheinen sich zunehmend Gewalt und Regellosigkeit breitzumachen. Doch gerade die Auswüchse der Ultra-Bewegung sind - zumindest teilweise - das Ergebnis von Missverständnissen und fehlendem Dialog

Der Konflikt zeigte sich schon bei der Eröffnungsfeier der neuen Bundesligasaison. In der Südkurve des Dortmunder Stadions hing ein Transparent mit dem Schriftzug: „Fankodex, Kollektivstrafen, Sicherheitswahn? Das wahre Problem seid ihr“. Und während Ligapräsident Rainer Rauball in seiner Ansprache an „friedliche, überzeugte Zuschauer“ appellierte, hallten von der Tribüne Pfiffe und Sprechchöre: „Fußballmafia DFB!“ Die angespannte Stimmung ist das Ergebnis des falschen Umgangs mit einer neuen Fan-Bewegung im deutschen Fußball: den „Ultras“. Unbegründete Vorbehalte, Dramatisierungen und gefährliches Halbwissen auf beiden Seiten haben zu verhärteten Fronten geführt. Deshalb ist die Angst durchaus berechtigt, dass aus dem Unmut vieler Fans tatsächlich ein massives Problem werden könnte.

Gleich vorweg: Es ist unmöglich, von den Ultras zu sprechen. Zu heterogen sind die Aktiven, zu unterschiedlich sind die einzelnen Gruppen ausgerichtet. Trotzdem ist es wichtig, sich die grundlegenden Gemeinsamkeiten der Ultras bewusst zu machen, wenn im Dialog zwischen dem DFB, den Vereinen, der Polizei und den Ultras taugliche Lösungen gefunden werden sollen.

Der »Kuttenfan« alter Schule stirbt aus

Die Ultraszene umfasst schätzungsweise 14.000 bis 16.000 Aktive – angesichts von rund 400.000 Zuschauern pro Spieltag in der Bundesligasaison 2011/2012 eine kleine Minderheit. Dass sie dennoch das Erscheinungsbild der Fans in der Öffentlichkeit dominieren, ist ihrem Kernmotiv geschuldet: die unentwegte Unterstützung ihres Vereins.

Die Ultra-Kultur schwappte Mitte der neunziger Jahre aus Italien herüber. In Deutschland füllen sie vor allem Jugendliche mit Leben. In der öffentlichen Wahrnehmung haben die Ultras die „Kuttenfans“ mit ihren bestickten Jeansjacken abgelöst. Abzugrenzen sind die Ultras zudem von den Hooligans, die – inspiriert von der Szene in England – die körperliche Auseinandersetzung mit anderen Hooligan-Gruppen suchen. Im Gegensatz zu Kuttenfans unterstützen die Ultras, angeleitet von einem Vorsänger (dem Capo), ihre Mannschaft während des Spiels auch unabhängig vom Geschehen auf dem Platz. Untereinander stehen dabei die Ultragruppen der Vereine in Konkurrenz um den besten Support ihres Teams in Form von Choreografien, Transparenten, Fahnen oder Trommeln.

Auch Bengalos und Rauchbomben gehören zur Ultrakultur. Gerade die Verwendung von Pyrotechnik führte verständlicherweise zu Konflikten zwischen den Ultras auf der einen und den Vereinen, dem DFB sowie der Polizei auf der anderen Seite. Mit Initiativen wie „Pyrotechnik legalisieren – Emotionen respektieren“ haben sich die Ultras dafür eingesetzt, solche „Stimmungsmacher“ einsetzen zu dürfen. In Zusammenarbeit mit den Vereinen und örtlichen Feuerwehren wollten sie ein ordnungsgemäßes Entzünden ermöglichen. Doch die anfänglichen Verhandlungen mit dem DFB über neue Regelungen für Pyrotechnik im Stadion beendeten die Offiziellen nach Angaben der Ultras einseitig, ohne Erklärung. Nach dem Abbruch der Gespräche in der zurückliegenden Saison nahm der Einsatz von Bengalos und Rauchbomben zu – aus Protest.

Nicht alle nehmen Gewalt in Kauf

Es ist bestreitbar, dass Bengalos in den Stadien überhaupt etwas zu suchen haben. Auch die Ankündigung der Ultras, die Bengalos nur in bestimmten Bereichen zu entzünden, könnte sich als Ammenmärchen entpuppen. Skepsis ist angebracht. In jedem Fall stören muss jedoch das Unverständnis des DFB für die Situation. Nur im Dialog mit den Ultras lässt sich langfristig das Ziel erreichen, dass in den Stadien eine für alle Zuschauer angenehme Stimmung herrscht. Der Abbruch der Gespräche sowie Verbote durch die Politik und vom DFB lassen die Situation nur entgleiten. So wurden die radikalen Kräfte innerhalb der Ultras gestärkt. Keinesfalls sind alle Ultras eines Vereins für Rauchbomben und Pyrotechnik. Nicht alle nehmen Gewalt in Kauf. Nun erhielten die radikalen Problemfans eine zusätzliche Legitimation für ihre Einstellung, jeglichen Kontakt zu Offiziellen zu meiden und auf Protest mit allen Mitteln zu setzen.

Instruktiv ist ein Blick nach Italien, wo es Politik und Polizei selbst mit massiver Repression und Verboten nicht gelang, das Problem der gewalttätigen Fans und Ultras zu lösen. Stattdessen waren in vergangenen Jahren auf beiden Seiten schwere Körperverletzungen, sogar Tote zu beklagen. Ebenso kann der „englische Weg“, wo es mit der massiven Erhöhung der Ticketpreise und der Abschaffung von Stehplätzen gelang, zumindest die Stadien der Premier League zu befrieden, nicht die Lösung sein. Dass sich die Probleme in England nur in die unteren Ligen verlagerten und dort auch friedliche Fans in Mitleidenschaft ziehen, zeigt, dass Deutschland einen anderen Weg einschlagen muss. Auch hierzulande blieb die erhoffte Wirkung stärkerer Eingangskontrollen aus. Die Ultras pflegen gute Kontakte zu Ordnern und kennen zahlreiche Wege, um Pyrotechnik ins Stadion einzuschleusen.

Dialog statt Brecheisen sollte die Prämisse der Verantwortlichen lauten. „Der Kuschelkurs muss vorbei sein“ – solche Ankündigungen des niedersächsischen Innenministers Uwe Schünemann mögen Handlungswillen beweisen, verfehlen aber das eigentliche Ziel. Dabei zeigen Vereine wie der FC St. Pauli, dass man durch ein gutes Verhältnis zu den Ultras Probleme im Keim ersticken kann, bevor es zum Kräftemessen kommt. Maßnahmenkataloge wie sie auf dem von Innenminister Hans-Peter Friedrich initiierten Fußball-Sicherheitsgipfel beschlossen wurden, können nur in Zusammenarbeit mit den Fanbeauftragten der Vereine, den Mitgliedervertretern und den Ultras in die Tat umgesetzt werden. Umso bedauerlicher, dass die Vereine keine Zeit hatten, sich untereinander abzustimmen und keine Fanvertreter eingeladen waren.

Ohne Klassenerhalt keine Zukunft?

Alles in allem ist der jetzige Kurs schlicht unwirksam. Er zeugt von Unverständnis und mangelnder Initiative. Der DFB, die Politik und die Polizei müssen erkennen, dass Fanarbeit vor allem Präventivarbeit ist. Auch die Medien sollten lernen zu differenzieren. Das Abbrennen von Bengalos ist ein klarer Regelbruch, aber keine Gewaltausübung. Selten handelt es sich um ungeplante Aktionen, die chaosartig verlaufen (hingegen ist das Werfen von Brennkörpern auf das Spielfeld tatsächlich ein gefährlicher Akt). Und ob man wirklich von Ausschreitungen sprechen und schreiben muss, wenn Zuschauer aus Freude über den Aufstieg ihres Teams vorzeitig das Spielfeld stürmen, ist ebenfalls zweifelhaft.

Gerade die Medien haben anscheinend vergessen, dass Fußball eben nur die schönste Nebensache der Welt ist. Häufig ist von „Schicksalsspielen“ die Rede oder von „Jahrhundertpartien“. Glaubt man den Zeitungen, hängt die Zukunft ganzer Städte vom Klassenerhalt der eigenen Mannschaft ab. Die jüngste Bedrohung des Spielers Kevin Pezzoni in Köln als Reaktion auf den Abstieg des Traditionsvereins markiert den negativen Höhepunkt eines hochstilisierten Fußballkults. Bei Gewalt in und außerhalb der Stadien einzig die Ultraszene verantwortlich zu machen, greift zu kurz. Vielmehr sollte das Ziel sein, die tatsächlichen Gewalttäter aus dem Stadion zu verbannen, indem ein Vertrauensverhältnis zu den Ultras aufgebaut wird. Es kommt darauf an, die Vernünftigen in der Ultraszene zu stärken. Gerade auch weil die Gruppenmitglieder oft jung sind und die Szene wächst, sind Versuche nicht aussichtslos, auf ihre Entwicklung Einfluss zu nehmen.

Auf der anderen Seite müssen die Ultras ihre Ankündigungen wahrmachen und gesprächsbereit bleiben. Sie müssen sich darüber klar werden, in welcher Form sie ihren Verein unterstützen wollen, wie sie zu strittigen Themen wie Pyrotechnik stehen und wie sie sich gegenüber anderen Nicht-Ultra-Fans verhalten. Deshalb sollten sie auch das Gespräch mit ihnen suchen, denn Fußball und Fankurve gehören nicht nur den lautstärksten, sondern ebenso allen anderen, die einfach das Spielgeschehen verfolgen möchten. Die Vereine können dabei den Dialog zwischen den Fangruppen fördern. Verweigern sich die Ultras, schaden sie dem Verein, den sie eigentlich so tatkräftig unterstützen wollen.

Die ihre eigenen Schals entwerfen

Als erste Fanszene stellen die Ultras politische Forderungen an die Vereine und die Fußballfunktionäre. Der Hauptangriffspunkt ist die fortschreitende Kommerzialisierung des Sports, den die Ultras öffentlichkeitswirksam anprangern. Wie weit die Kommerzialisierung fortgeschritten ist, offenbart sich bereits auf dem Weg ins Stadion. Das Hamburger Volksparkstadion hieß erst AOL- und heute Imtech Arena. Das Westfalenstadion heißt Signal Iduna Park. Zudem verdienen die Vereine Unsummen mit immer neu aufgelegten Merchandising-Produktionen: neue Trikots, neue Sponsoren, Werbetouren mit der Mannschaft in Asien. Nur so können die Vereine die Millionentransfers bezahlen, die ihnen Titel im internationalen Wettbewerb versprechen. Ein Werteverständnis bei der Auswahl der Sponsoren sucht man häufig vergebens – so viel zum Thema Vorbildfunktion.

Die Ultras verachten diese Trends. Sie entwerfen ihre Schals selbst, produzieren ihre eigene Fankleidung ohne Werbeaufschrift und bestehen auf die 50+1 Regel, die verhindert, dass ein Kapitalanleger die Mehrheit der Anteile an einem Verein hält. Auch unterstützen die Ultra-Gruppen die Initiative „Pro 15:30“, die für einen fanfreundlichen Spieltag streitet. Dass die Spiele über das ganze Wochenende gestreckt stattfinden, erschwert die Anreise der Fans zu den Spielen, garantiert jedoch hohe Einschaltquoten. Insgesamt rund 600 Millionen Euro haben die Vereine von den Fernsehanstalten für die Rechte an der Saison 2012/2013 erhalten, wovon alleine die öffentlich-rechtlichen mehr als 100 Millionen bezahlen. Angesichts dieser Summen fallen die Eintrittsgelder der Fans kaum noch ins Gewicht. Den Ultras geht es um Traditionen und Werte, weniger um sportlichen Erfolg mit allen Mitteln. Deshalb lehnen sie „Erfolgsfans“ – also Fans, die ihre Unterstützung einzig vom Erfolg ihrer Mannschaft abhängig machen – ebenso ab wie die Champions League oder internationale Wettbewerbe. Die Vereine sind zu Fußballunternehmen herangewachsen, die in Bezug auf ihre Entscheidungsstrukturen mit einem Verein nichts mehr gemein haben. Mitgliederversammlungen verkommen zur Farce. Dagegen richten sich die Ultragruppen, die ihre Entscheidungen oft basisdemokratisch treffen. Diese Forderungen der Ultras gehen jedoch unter und finden keinen Anklang, wenn sie auf Konfrontation setzen – das muss allen Ultras bewusst sein.

Oft werden Forderungen laut, die Vereine und der DFB sollten sich an den Kosten zur polizeilichen Sicherung der Spiele beteiligen, die pro Saison in der ersten und zweiten Liga rund 200 Millionen Euro betragen. Der DFB wiederum verweist auf die Wertschöpfung der beiden Ligen, die bei rund 5,1 Milliarden Euro liegt. Der Fußballbetrieb zahlt rund 1,7 Milliarden Euro an Umsatz- und Lohnsteuer sowie Sozialabgaben. Trotz der zu hohen Polizeikosten bleibt der Fußball für die öffentliche Hand ein Gewinngeschäft. Auch dass auf 250 Zuschauer ein Polizist kommt, ist kein Argument. Bei jedem Volksfest und auf vielen Konzerten ist das der Fall. Sicherheit im öffentlichen Raum ist Aufgabe der Polizei, da sollte man beim Fußball keine Ausnahme machen.

Mehr Geld, mehr Sozialarbeiter

Stattdessen sollten sich die Vereine verpflichten, mehr Geld in ihre Fanarbeit zu investieren sowie in die Schulung der Ordner und des Personals im Umgang mit den Fans. Und weil die Fanszene, auch unabhängig von den Ultras, immer eine Anlaufstelle für Jugendliche ist, müsste jeder Verein verpflichtet werden, Sozialarbeiter einzustellen. Das sollten sich die Vereine mehr kosten lassen als die bisher veranschlagten 4,5 Millionen Euro. Dann könnte sogar die integrative Wirkung des Sports genutzt werden. Ferner bedarf es eines gemeinsamen Finanztopfes aller Vereine für die Fanarbeit, in den abhängig vom Umsatz einbezahlt und nach Problemlage ausgezahlt wird. Das stärkt die Solidarität unter den Vereinen sowie den Austausch von Erfahrungen in der Fanarbeit. Wollen die Vereine weiterhin eine angenehme Stimmung in ihren Stadien, sollte ihnen dieser Preis nicht zu hoch sein.



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