Kritik des Sonderzuges

Eckart von Klaeden fordert eine europäische Ostpolitik

Seit dem Krieg in Georgien und mit dem nahenden Ende der vermeintlichen Stabilität in Russland im Zuge der Finanzkrise hat die Debatte über die Beziehungen zu Moskau an Dringlichkeit gewonnen. Der CDU-Außenpolitiker Eckart von Klaeden gehört zu den profilierten Vordenkern einer Neugestaltung des Verhältnisses zum Nachbarn im Osten. Bereits unmittelbar nach dem Waffengang im Kaukasus hatte er in einem viel beachteten Artikel im Spiegel das "Ende der Illusionen" verkündet und eine Europäisierung der Beziehungen zu Moskau angemahnt. Jetzt hat von Klaeden nachgelegt: In seinem politischen Essay "Kein Sonderzug nach Moskau" unterfüttert er die im Sommer formulierten Forderungen mit empirischen Argumenten.

Kritisch und frei von Polemik zeichnet von Klaedens Essay ein Panorama autoritärer Herrschaft im Russland der Gegenwart. Wie andere Beobachter vor ihm misst er der Verhaftung und dem Schauprozess gegen den Ölmagnaten Michail Chodorkowski eine besondere Bedeutung zu. In der Verfolgung Chodorkowskis bündeln sich verschiedene Tendenzen des politischen Umbaus, der die Epoche seit dem Jahr 2000 prägt: die Instrumentalisierung der Justiz, der Übergang zum Staatskapitalismus sowie die Verfolgung kremlkritischer Stimmen und ihre Verdrängung aus der Öffentlichkeit.

Doch der Verfasser konzentriert sich nicht nur auf diesen spektakulären Fall. Er erklärt auch, wie bürgerliche Freiheitsrechte verloren gingen und warum Wahlen in Russland nur noch die Akklamation von Entscheidungen sind, die ohne Mitwirkung der Bevölkerung getroffen werden. Freilich belässt es der Autor nicht bei einem Blick auf die Strukturen politischer Herrschaft. Ihn interessieren auch die ideologischen Konstrukte, mit denen die russische Führung ihre Macht legitimiert. Kenntnisreich beschreibt von Klaeden die Genese der "souveränen Demokratie", die nach innen autoritär und nach außen imperial auftritt.

Des Weiteren widmet sich der Verfasser den außenpolitischen Konfliktfeldern: Der Westen und Russland streiten etwa über die Erweiterung der Nato, die Zukunft des Kosovo, die Sicherheit der Energieversorgung oder, etwas abseits des medialen Trubels, auch über die Rolle der OSZE, deren Engagement für Menschenrechte den Kreml verärgert. Von Klaeden betont zu Recht, wie sehr das außenpolitische Denken Moskaus von imperialen Mustern geprägt ist, die sowohl auf die sowjetische Epoche als auch auf die Zarenzeit zurückgehen. Der Verfasser nennt die scharfen Konflikte Moskaus mit früheren Sowjetrepubliken und Ländern Ostmitteleuropas. Die russischen Eliten akzeptieren die Souveränität dieser Staaten nur eingeschränkt und intervenierten wiederholt in Fragen ihrer außenpolitischen Orientierung und inneren Entwicklung.

Autoritärer Umbau, imperiale Ambitionen

Besonders beunruhigt zeigte sich der Kreml durch die demokratischen Bewegungen in der Ukraine und Georgien, wo sich die Bevölkerung gegen korrupte Regime und Wahlfälschungen durchsetzte. Ein autoritär-imperiales Paradigma prägt Moskaus Außenpolitik und veranlasst Russland, gegen Liberalisierung und westlichen Einfluss im Bereich der früheren UdSSR zunehmend aggressiv vorzugehen. Einschüchterungsversuche und ökonomischer Druck gehören, wie der Autor aufzeigt, zum Standardrepertoire der russischen Diplomatie.

Eckart von Klaeden resümiert, dass der autoritäre Umbau und die imperialen Ambitionen einer engen Partnerschaft mit Russland im Wege stehe. Er stellt die Wirksamkeit des ostpolitischen Paradigmas eines "Wandels durch Annäherung" beziehungsweise einer zunehmenden Verflechtung infrage und erklärt, dass die russische Ablehnung demokratischer Werte dem Projekt einer "strategischen Partnerschaft" die Grundlage entzieht. Dem russischen Divide et impera, das heißt dem Ausspielen einzelner Länder der Europäischen Union gegeneinander, setzt der Verfasser seine Vision einer koordinierten Russlandpolitik entgegen, deren Ziel es sein müsse, mit dem Nachbarn im Osten auf Augenhöhe zu verhandeln, Streitfragen offen anzusprechen und europäischen Interessen " etwa in der Energiepolitik " größere Geltung zu verschaffen. Wie und durch wen eine solche Politik gestaltet werden würde, bleibt jedoch weitgehend offen.

Eckart von Klaedens Essay ist ein gelungener Abriss der jüngsten Geschichte Russlands. Es gelingt ihm jedoch nicht, die strukturelle Verzahnung zwischen autoritärem Umbau und imperialer Außenpolitik herauszuarbeiten. Schließlich dienen die kalkulierten Konflikte mit dem Westen den russischen Eliten auch zur Absicherung einer Herrschaft, die nicht mehr auf demokratischer Legitimation beruht. In historischer Perspektive wirken schließlich viele der beschriebenen Phänomene wohl vertraut. Es handelt sich um Probleme moderner Staatlichkeit und imperialen Denkens, deren Ursachen weit ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Das Gesellschaft in Russland eine "staatliche Veranstaltung" (Dietrich Geyer) war und ist, gehört ebenso zu den Gemeinplätzen historischer Russlandkunde wie die Feststellung, dass der vermeintlich starke russische Staat häufig dysfunktional handelt " autoritärer Gestus, Willkür, Korruption und bürokratische Wirkungslosigkeit sind Teile desselben Phänomens. Da die Reformära zu Ende ist, treten diese Zustände nun wieder deutlicher hervor.

Parteipolitisch kleinkariert argumentiert der Verfasser allerdings, wenn er eine Politik der Annäherung an autoritäre Regime als sozialdemokratisches Projekt darstellt. Es gilt vielmehr, die deutsche Ostpolitik insgesamt kritisch zu überdenken und zu diskutieren, welche ihrer Traditionen heute noch zeitgemäß sind. Die von Willy Brandt und Egon Bahr begründete neue Ostpolitik war schließlich sowohl in der Aussöhnung mit Osteuropa als auch in der Durchsetzung bundesdeutscher Interessen in den siebziger Jahren unverzichtbar und höchst erfolgreich. Auch unter Helmut Kohl blieb sie aus guten Gründen Teil bundesdeutscher Staatsräson.

Dem Buch fehlt hier ein kritischer Blick auf die neunziger Jahre " auf die Dekade der Männerfreundschaft zwischen Helmut Kohl und Boris Jelzin. In den Zeiten bundesdeutscher Scheckbuchdiplomatie verzichtete Bonn darauf, seinen Einfluss geltend zu machen und demokratische Strukturen in Russland offensiv zu fordern und zu fördern. Stattdessen setzte die Bundesregierung einseitig auf den jeweiligen Amtsinhaber im Kreml. Der Mut zu offener Kritik fehlte selbst dann, wenn wie in den Tschetschenienkriegen massive Menschenrechtsverletzungen zu beklagen waren. Der Verzicht darauf, autoritäre Entwicklungen anzuprangern, ist ein Erbe aus der Zeit des Kalten Krieges, als Entspannungspolitik gegenüber Moskau aus nationalen Gründen Staatsräson war. Problematisch ist, dass das souveräne Deutschland sich nach 1990 nicht über einen ausgewogenen Kompromiss zwischen interessengeleiteter Politik und eigenen Werten in seinen Außenbeziehungen verständigt hat. Vielmehr kennzeichnet die deutsche Diplomatie ein Mangel an Konfliktbereitschaft bei der Verteidigung eigener Interessen und westlicher Werte. Es ist diese vorauseilende Selbstbeschränkung, die nicht nur konzeptionell in die Irre führt, sondern auch das Gewicht deutscher Politik schmälert.

Die Vision einer europäischen Außenpolitik trägt auch heute noch einen utopischen Zug. Die Probleme um die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon und fortdauernde nationale Traditionen " gerade in den großen EU-Mitgliedsländern " werden auch mittelfristig dazu führen, dass bilaterale Beziehungen ihren Stellenwert behaupten. Eckart von Klaedens Essay lenkt den Blick auf die politischen und kulturellen Differenzen zwischen Europa und Russland, die es ernst zu nehmen gilt, wenn darüber nachgedacht wird, wie die Beziehungen zwischen Berlin, Brüssel und Moskau von deutscher Seite gestaltet werden. Damit leistet er einen wertvollen Beitrag zur Debatte über deutsche Außenpolitik, dem noch mehr Gewicht zugekommen wäre, wenn der Verfasser sich parteipolitischer Plattitüden enthalten hätte.

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