Krise? Welche Krise?

Die Fußball-WM - ein Milliardenpoker um Merchandising und Lizenzen. Die ganz normale Welt der Fußballvereine in Deutschland ist anders. Als demokratische Organisationen des "Dritten Sektors" schaffen sie sozialen Reichtum

Achtung! Sie verlassen den demokratischen Sektor“. Ein solches Schild könnte an den Zäunen der Bannmeile hängen, die zur Fußball-Weltmeisterschaft um die Stadien gezogen werden. Denn innerhalb dieser Zäune regiert allein der Weltverband des Fußballs, die FIFA. Kein Produkt darf dort verkauft oder beworben werden, das nicht zur 700-Millionen-Euro schweren FIFA-Sponsoren-Familie gehört. Die FIFA bestimmt auch, welche Fans Einlass in die Stadien haben. So gingen die meisten Karten an die Sponsoren oder wurden als teure Hospitality packages verkauft. Nur ein Drittel aller Karten bot man im freien Verkauf an. Das große Geld zu Gast bei Freunden?

Außerhalb der Bannmeile der Stadien tritt die FIFA ebenso bestimmt für ihre pekuniären Interessen ein: Ein engmaschiges Netz von Beobachtern überwacht, ob jene Vereinbarungen eingehalten werden, ohne die sich Deutschland nicht einmal um die WM-Austragung hätte bewerben können: Es geht vor allem um den Schutz des Merchandising-Umsatzes von geschätzten 1,5 Milliarden Euro. Die FIFA hat das Monopol auf die WM. Kein Bäcker darf unlizensiert „Weltmeister-Brötchen“ backen, kein Schokoriegel unlizensierte Fußballersammelbilder enthalten. „Die Fußballweltmeisterschaft ist kein Allgemeingut, sondern eine Privatveranstaltung der 207 Fußballverbände“, so Gregor Lentze, Geschäftsführer der FIFA-Marketing GmbH. Das ist so weit richtig: Nicht der Staat oder ein Privatunternehmen richtet die WM aus, sondern eine Organisation, die unter den schillernden Begriff des Dritten Sektors fällt. Seit dieses Konzept in den neunziger Jahren in Deutschland die wissenschaftliche Bühne betrat, genießt es dort viel Wohlwollen und gilt vielen als moderne Form der Zivilgesellschaft. Die Kommerzmaschine FIFA passt nicht ganz in dieses Bild – Anlass genug für eine differenzierte Betrachtung der Licht-, aber auch Schattenseiten des Dritten Sektors.

Stirbt das bürgerschaftliche Engagement?

Der Begriff bezeichnet einen gesellschaftlichen Bereich, der sich sowohl vom staatlichen als auch vom marktlichen Sektor unterscheidet, der gewissermaßen zwischen diesen beiden Sektoren liegt. Es handelt sich um ein weites und buntes, ja widersprüchliches Feld mit häufig nicht eindeutigen, eher hybriden Strukturen. Kurzum: Der Dritte Sektor stellt einen besonderen Organisationstyp moderner Gesellschaften dar, der sich von staatlichen Behörden ebenso unterscheidet wie von wirtschaftlich tätigen Organisationen, informellen Gruppen oder Privathaushalten.

Typische Organisationen des Dritten Sektors sind die eingetragenen Vereine. Ihre Merkmale: die freiwillige Mitgliedschaft, durch Freiwillige und Beiträge erbrachte Leistungen, egalitäre und solidarische Sozialbeziehungen der Mitglieder und die demokratische Verfasstheit mit einer Mitgliederversammlung als legislativem und einem gewählten Vorstand als exekutivem Organ. All diese Merkmale führen dazu, dass Vereine ein wertvolles Gut produzieren – sozialen Reichtum.

Kann im Zeitalter der Individualisierung das Vereinswesen überhaupt bestand haben? Stirbt das bürgerschaftliche Engagement nicht aus? Tatsächlich widerlegen empirische Untersuchungen solche Kassandrarufe. Sorgte schon der Freiwilligensurvey von 1999 für Irritationen und Diskussionen über das überraschend hohe bürgerschaftliche Engagement (vgl. dazu die Debatte in der Berliner Republik 1 und 2/2002), so werden diese Daten durch den Freiwilligensurvey 2004 mehr als bestätigt: Die Zahl der freiwillig Engagierten wuchs von 1999 bis 2004 weiter an, und zwar von 34 auf 36 Prozent. Der mit Abstand größte Bereich freiwilligen Engagements fällt auf den Sektor „Sport und Bewegung“ (11 Prozent), gefolgt von den Bereichen „Schule/Kindergarten“ (7 Prozent), „Freizeit und Geselligkeit“ (5 Prozent), „Kirche und Religion“ (6 Prozent), „Kultur und Musik“ und „Sozialer Bereich“ (je 5,5 Prozent). Das bürgerschaftliche Engagement findet überwiegend in Vereinen statt. Und auch deren Zahl ist gewachsen – von 544.701 im Jahr 2001 auf 594.277 im Jahr 2005. Das heißt: Auf 1.000 Bürgerinnen und Bürger entfallen ungefähr sieben eingetragene Vereine. Wahrscheinlich liegt die Zahl der Vereine ohne Rechtsform sogar noch beträchtlich höher. Insofern ist der Scherz „zwei Deutsche = ein Verein“, der bei internationalen Dritter-Sektor-Forschern umgeht, gar nicht so weit von der Realität entfernt.

Wie flächendeckend diese Vereine verbreitet sind, lässt sich anhand der 8.500 deutschen Gemeinden in kommunaler Selbstverwaltung darstellen. Sie sorgen unter anderem für Kindergärten und Altenheime, für saubere Straßen und natürlich für Sportanlagen. In der Sprache der Planer ist das der Raum der Nahversorgung. Bedürfnisse variieren, doch einige allgemeine Grundbedürfnisse sind Essen, ärztliche Versorgung, Geldgeschäfte, preiswerte Vergnügen und religiöser Beistand. Bezüglich dieser Grundbedürfnisse kommen wir auf folgende Kennziffern: Auf eine Gemeinde in Deutschland kommen rund 0,5 christliche Kirchengemeinden, 0,6 Kinoleinwände, 1,5 Postfilialen, 2 Sparkassenfilialen, 2,5 Apotheken, 4 niedergelassene Allgemeinmediziner, 4 Lebensmittelgeschäfte – und rund 70 eingetragene Vereine. Unter ihnen dominieren die bald 90.000 Sportvereine, von denen allein rund 26.000 Fußballvereine sind. Anders gerechnet: In jeder Gemeinde existieren im Durchschnitt 11 Sportvereine, davon drei Fußballvereine. Die Sportvereine sind also die big players, die Platzhirsche im Raum der alltäglichen Lebensführung.

Fußballvereine und Kirchengemeinden

Jeder dieser Vereine ist demokratisch verfasst und wird überwiegend von Ehrenamtlichen und Freiwilligen getragen. Die Vorstandsmitglieder, die Abteilungsleiter, die Staffelleiter, die Ligaobleute, die Schiedsrichter, die Zeug- und Platzwarte und die Ehrenamtsbeauftragten arbeiten freiwillig und unentgeltlich. Die weit verbreitete Meinung, im Fußball werde alles und jeder bezahlt, trifft nur auf einen geringen Teil des Männerfußballs zu, wo einige Trainer und Spieler mit Teilzeitverträgen arbeiten. Im Junioren- und Frauenfußball wird hingegen kaum je Geld gezahlt.

Das Demokratieprinzip und das Ehrenamtlichkeitsprinzip gelten nicht nur für die kleinen Fußballvereine, sondern für die Amateur-Fußballwelt schlechthin. Insgesamt verfügt der organisierte Fußballsport über 369 Kreise, 37 Bezirke, 26 Landes- und fünf Regionalverbände. Auf jeder dieser Ebenen finden regelmäßig Mitgliederversammlungen statt. Hier diskutieren die Mitglieder, fassen grundlegende Beschlüsse, verabschieden Haushalte und wählen regelmäßig einen Vorstand. Selbst der Ligaverband ist ein eingetragener Verein und als solcher Mitglied im DFB. Die Fußballvereine stellen das dichteste zivilgesellschaftliche Organisationsnetz in Deutschland dar.

Das Ausmaß dieses Netzes wird dann erst deutlich, wenn man einen Blick auf andere gesellschaftliche Organisationen wirft. Einer soziologischen Faustregel zufolge existiert ein Zusammenhang zwischen der Mitgliederstärke einer Organisation und einer Reihe von Merkmalen wie der Identität der Gruppenmitglieder, der Kontakt- und Kommunikationshäufigkeit sowie -dichte, der Bereitschaft zum Engagement, der Beeinflussbarkeit durch die Eliten oder ein gemeinsames Ziel- und Normverständnis. Je kleiner die Organisation, desto eher liegen diese Merkmale vor und desto ausgeprägter sind sie.

Ein Vergleich mit dem religiösen Leben macht die soziale Funktion des organisierten Fußballs deutlich: In Deutschland gibt es fast 13.000 katholische Pfarreien und sonstige Seelsorgestellen. Dies bedeutet bei rund 26 Millionen katholischen Christen eine durchschnittliche Pfarrei-Größe von rund 2.000 Mitgliedern; dazu kommen rund 16.000 evangelische Gemeinden und 26 Millionen evangelische Christen, sprich eine Durchschnittsgröße von 1.600 Mitgliedern. Hingegen beträgt die Durchschnittsgröße der Fußballvereine ungefähr 230 Mitglieder. Der soziologischen Logik zufolge ist die Chance, in einem Fußballverein Vertrauen aufzubauen, Einfluss durch Kommunikation zu nehmen, gemeinsame Ziele zu finden et cetera etwa acht Mal höher als in einer katholischen und etwa sieben Mal höher als in einer evangelischen Gemeinde.

Vertraute Orte in der Nachbarschaft

Die Fußballvereine – wie die Sportvereine überhaupt – sind vertraute Orte in der Nachbarschaft und im Stadtteil. Ohne großen zeitlichen Aufwand sind sie für fast alle Altersgruppen erreichbar und bilden ein dichtes zivilgesellschaftliches Netzwerk. Natürlich wird es in dem Maße, wie die Bevölkerung schrumpft, künftig weniger Vereinsgründungen und Mitglieder geben. Aber bislang konnten alle Prognosen über das bevorstehende Aussterben des Vereinswesens dessen fortgesetztes Erblühen nicht stoppen. Dasselbe gilt für die wohlfeile Schmäh, mit der Vereine von rechten wie linken Intellektuellen gerne bedacht werden. Wo alle anderen gesellschaftlichen Großgruppen über Mitgliederschwund klagen, kann von einer Krise der Vereine – und dabei besonders der Sportvereine – keine Rede sein.

Werfen wir zum Vergleich wieder einen Blick auf die anderen schon erwähnten Nahversorger. Sie alle bauen ihre Präsenz vor Ort ab: die örtlichen Sparkassen, die Postämter, die katholischen und evangelischen Kirchengemeinden. In einigen Regionen Deutschlands kommt es zur Unterversorgung auf lebenswichtigen Gebieten. So fehlen in Teilen Brandenburgs, Mecklenburg-Vorpommerns, Sachsens und Thüringens die Ärzte. Klagen über zu wenige Fußballvereine sind dagegen bisher nicht bekannt geworden.

Popkultur und graue Männer

Natürlich hat das Vereinswesen auch Schattenseiten. Sozialer Reichtum kann missbraucht werden. So ist der Fußballsport geprägt vom Widerspruch zwischen glamouröser Populärkultur und grauem Fußballalltag; Männer dominieren die Führungsetagen; wie in allen Organisationen finden sich in den Fußballvereinen überholte Führungskulturen (wenngleich der DFB einen Prozess der Erneuerung der Ehrenamtlichkeitskultur begonnen hat); auch in den Amateurfußballvereinen halten Marktlogiken Einzug, die manchmal das Gemeinnützigkeitsprivileg überdehnen. Keineswegs sollte der Eindruck erweckt werden, in den Fußballvereinen – wie in den zivilgesellschaftlichen Organisationen überhaupt – sei die Heile Welt zu Hause.

Kurzum, der organisierte Fußball hat viele Facetten, national wie international: Er besteht aus einem dichten Netz an lokalen Vereinen mit ehrenamtlichen Mitarbeitern ebenso wie aus Milliardärsclubs wie dem FC Chelsea. Der Weltverband FIFA baut sich für 120 Millionen Euro eine Luxusimmobilie in bester Zürcher Lage, kommt aber gleichzeitig auch seinem eingetragenen Vereinszweck nach, „völkerverbindende, kulturelle und humanitäre“ Ziele zu verfolgen und unterstützt mit jährlich 100 Millionen Euro Projekte in Entwicklungsländern. Nationalen Fachverbänden mit undurchsichtigen Strukturen stehen solche mit demokratischer Ordnung gegenüber. Es gibt den Kommerzrummel rund um die WM – und es gibt Millionen begeisterter Fans aus aller Welt, die davon ganz unbeirrt im Sommer 2006 in Deutschland ihr Fußballfest feiern werden.

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