Kriechströme und Korridore

Europas Osten teilen alte und neue Grenzen - und unterschiedliche Geschwindigkeiten. Über das soziale Pulverfass, das sich hinter dieser Ungleichzeitigkeit verbirgt, herrscht beredtes Schweigen

Frankfurt an der Oder, Stadtbrücke. Über eine Million Menschen passieren jährlich die Brücke über die Oder, die das 60.000 Einwohner zählende Frankfurt mit der 17.000-Einwohner-Stadt Slubice verbindet. Studenten der Europauniversität Viadrina bilden zu manchen Tageszeiten die Mehrheit derer, die auf ihre Abfertigung warten. Sie sind die Pioniere des neuen Europa und zugleich dessen Hoffnung, sie studieren in Frankfurt und wohnen in Slubice, sie erwerben Abschlüsse, die auf beiden Seiten des Grenzflusses gelten, und müssen sich über ihre berufliche Perspektive keine Gedanken machen. In Polen gelten sie als Deutschlandexperten, in Deutschland als Marktöffner für Polen. So rosig können europäische Zukunftsaussichten sein.

Vorerst aber sind die Studenten der Viadrina nur ein Teil des kleinen Grenzverkehrs. Unter denen, die sich Tag für Tag über die Stadtbrücke auf die andere Seite begeben, sind auch solche, für die die Zukunft in Europa weniger aussichtsreich ist. Es sind die Schnäppchenjäger und Tanktouristen aus den brandenburgischen Grenzgebieten, es sind polnische Einkaufskunden oder Kleinschmuggler. Mrówki (Ameisen) nennt man in Polen jene Grenzgänger, die mit einer Stange Zigaretten oder einer Flasche Schnaps in der Tasche mehrmals täglich die Grenze überschreiten. Aber auch sie sind Pioniere, auch sie sind Teil einer neuen grenzüberschreitenden Bewegung, auch wenn ihr Radius oft nicht mehr als ein paar Kilometer reicht: bis zum Basar von Slubice, der etwas außerhalb der Stadt oderaufwärts liegt. Oder bis zum Spitzkrug-Einkaufszentrum im Norden Frankfurts, das schon fast ein Viertel seines Umsatzes polnischen Kunden verdankt.

Ein paar Kilometer südlich der Stadtbrücke staut sich der LKW-Verkehr vor dem Zollterminal Swiecko II. Mehr als eine Million Fahrzeuge passieren jährlich die Autobahngrenze bei Frankfurt, den wichtigsten Übergang an der Außengrenze der Europäischen Union. Insgesamt sind es fast zehn Millionen Menschen, die in Swiecko abgefertigt werden. Ihr Ziel ist keine Universität und kein Wohnheim auf der anderen Seite der Grenze, sie schmuggeln auch keine Kleinstmengen an Zigaretten oder Alkohol. Die am großen Grenzverkehr von Swiecko teilnehmen, zieht es weiter, vor allem die LKW-Fahrer. Sie kommen aus Stuttgart und wollen ins Baltikum, sie sind unterwegs auf der großen West-Ostroute, die von Paris über das Ruhrgebiet nach Berlin und von dort weiter nach Poznan, Warschau, Minsk und Moskau führt. Die Pioniere von Swiecko sind die Explorateure des neuen Europas, schreibt der Osteuropahistoriker Karl Schlögel. "Sie kennen das neue Europa und die verschlungenen Pfade, die dorthin führen. Sie messen den Fortschritt an der Beschleunigung der Grenzabfertigung. Sie sind die Konterbandisten des Ausgleichs, ihr Schmuggel ist der Export von Normalität."

Mit dem kleinen Grenzverkehr an der Frankfurter Stadtbrücke wie auch dem großen Grenzverkehr in Swiecko halten das alte und das neue Europa Kontakt miteinander. Beide Orte sind Stationen einer Suchbewegung, ein Zwischenstop auf der Reise jener Entdecker und Kundschafter, die es gezwungenermaßen über die altbekannten Wege hinaustreibt. "Das neue Europa", ist Karl Schlögel überzeugt, "wächst spontan, von unten, nicht nur in "Haupt- und Staatsaktionen", sondern in oft unscheinbaren, molekularen Prozessen. Es wächst auf den Routen des Ameisenhandels, die die Basare des östlichen Europas verbinden. Es wächst auf den Routen der Speditionsfirmen, die Europa neu vernetzen." Damit, so Schlögel, bildeten sich auch neue Räume: "Verkehrs- und Kommunikationsräume, Netzwerke des Wissens und der Wissenschaft, eine Infrastruktur moderner Kommunikation, Pendelbewegungen der Arbeitsmigration, Filialen und Niederlassungen internationaler Firmen."

Doch sind die Entdeckungen, die auf den neuen Routen und Pfaden gemacht werde, wirklich dieselben? Ist das Europa der künftigen Viadrina-Absolventen das gleiche wie das der Kleinschmuggler, jenes der Spediteure dasselbe wie das der LKW-Fahrer? Und welche Räume sind es, die sich den Pionieren des neuen Europa auftun? Was haben sie miteinander zu tun? Wo treffen sie aufeinander - außer an den Grenzübergängen, beim kleinen und großen Grenzverkehr?
Als in den fünfziger Jahren das sozialistische Eisenhüttenstadt entstand, war die Oder-Neiße-Grenze bereits gezogen und teilte die junge Deutsche Demokratische Republik von der Volksrepublik Polen. Eisenhüttenstadt, die erste sozialistische Stadt der DDR, wurde bewusst an die Grenze zwischen den "Bruderstaaten" gebaut. Das war, politisch betrachtet, ein Akt der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die SED-Führung. Wirtschaftlich gesehen war es dagegen eine Art staatssozialistischer Strukturpolitik. Man wollte an der neuen deutsch-polnischen Grenze Freundschaft demonstrieren und zugleich billige Arbeitskräfte beschäftigen. Das sozialistische Eisenhüttenstadt war ein Brückenkopf der DDR zum polnischen Nachbarn.

Doch nicht aus jedem Brückenkopf wird irgendwann eine Brücke. Eisenhüttenstadt blieb über Jahrzehnte hinweg auf der eigenen, der DDR-Seite. Mehr noch: Es wandte sich, trotz des Gestus, den die Stadtgründung als solche mit sich brachte, vom Fluss ab und kehrte der polnischen Seite den Rücken zu. Das ist bis heute so geblieben. Wer in Eisenhüttenstadt über die Grenze möchte, muss entweder in Richtung Norden bis nach Swiecko oder zur Stadtbrücke in Frankfurt (Oder). Oder er muss, in entgegengesetzter Richtung, bis nach Guben, wo es schon nicht mehr die Oder ist, die Europa trennt und verbindet, sondern die Lausitzer Neiße.

Wie Frankfurt hat auch Guben eine Stadtbrücke. Sie verbindet die alte, nun auf polnischer Seite gelegene Innenstadt mit der ehemaligen Vorstadt und ihren Industriebauten. Die haben Guben einst als Wolle- und Hutmacherstadt berühmt gemacht. Doch die Vergangenheit ist vorbei und eine Zukunft noch nicht in Sicht. Vorerst leben die Gubener und Gubiner in der Gegenwart, oder besser: Sie leben aneinander vorbei. Schon lange gehen die Deutschen nicht mehr auf den Basar in der Gubiner Innenstadt, und auch die Gubiner lassen sich immer weniger auf dem westlichen Neißeufer blicken.

Mehr als ein Jahrzehnt nach der Öffnung der Grenzen ist die Neugier erloschen. Depression macht sich breit, auf beiden Seiten. Wer in diesem Zustand der wiedererwachten Empfindlichkeiten und Ressentiments nicht die Risiken, sondern die Chancen eines neuen Europa in den Vordergrund stellt, wer trotz aller Widrigkeiten am sprichwörtlichen "Brücken bauen" festhält, hat es schwer. Und mancher von ihnen, wie der ehemalige Gubener Bürgermeister Gottfried Hain, musste darüber aufgeben. Die Gubener haben Hain als Bürgermeister abgewählt. Weil er ein "Polenfreund" sei, wie es hinter vorgehaltener Hand hieß. Auch mit Brücke kann man sich den Rücken zukehren.

Die eigentlichen Brücken werden heute ohnehin nicht in Guben über die Neiße oder in Frankfurt über die Oder geschlagen, sondern zwischen Eisenhüttenstadt und Poznan. Noch in diesem Jahr will das Eisenhüttenstädter Stahlwerk Eko, das mittlerweile zu Arcelor, dem weltweit größten Stahlkonzern gehört, ein neues Veredelungs- und Beschichtungswerk bauen. Das fast zweihundert Kilometer entfernte Poznan hat man sich deshalb ausgesucht, weil es zu einer der polnischen Boomregionen gehört. Die Poznaner Messe gilt als Sprungbrett für die weiter östlich gelegenen Absatzmärkte oder, in umgekehrter Richtung, für Berlin, die 300 Kilometer entfernt gelegene deutsche Hauptstadt. Außerdem ist mit den Volkswagenniederlassungen von Poznan und Gorzów Wielkopolski einer der größten Eko-Kunden bereits vor Ort. Da nimmt man es wohl in Kauf, dass auch die Löhne in Poznan zu den höchsten in ganz Polen gehören.

Die Europaoptimisten unter den deutschen und polnischen Politikern behaupten immer wieder gerne, dass es vor allem die deutsch-polnischen Grenzregionen seien, die von einer Erweiterung der Europäischen Union um die mittel- und osteuropäischen Staaten profitierten. Vormals am Rande gelegen, würden sie nun ins Zentrum des neuen Europa rücken, aus dem Standortnachteil würde ein unschätzbarer Vorteil, den es nur noch zu realisieren gelte.

Zu ganz anderen Ergebnissen kommt das Institut für Regionalplanung und Strukturpolitik (IRS) in Erkner bei Berlin. In einer im Frühjahr vorgelegten Studie über die "krisenhaften Auswirkungen der Osterweiterung auf die deutsch-polnische Grenzregion" schreibt der Soziologe Ulf Matthiesen: "Anfängliche Hoffnungen auf eine wirtschaftliche Stabilisierung durch mittelständisch geprägte Unternehmensstrukturen scheinen sich vorerst nicht bewahrheitet zu haben". Matthiesen warnt deshalb vor einer weiteren "Peripherisierung" der Grenzregion: "Wir haben auf beiden Seiten zwei wirtschaftliche Zentren, dazwischen ist Niemandsland."

Niemandsland, das klingt freilich ganz anders als Entwicklung und Zukunft. Ein Niemandsland ist nicht nur ein Land, von dem man nicht mehr weiß, wem es gehört. Es ist auch ein Land der Niemande, entvölkert, verlassen. Und die, die zurückbleiben, sind aus dem Vergessen geraten, gleichermaßen Schattenexistenzen, die in der Wahrnehmung der Jemande nur noch existieren, wenn sie wieder einmal Schlagzeilen machen. Es sind diese Niemande, die in der neuen Geografie von Mittel- und Osteuropa die neuen Räume der Peripherie bevölkern. Und ist diese Peripherie manchmal nicht sogar näher, als man glaubt? Reicht sie nicht schon von den Migrantenjugendlichen in den Westberliner Innenstadtgebieten über die Zurückgebliebenen in den sterbenden Städten Ostdeutschlands bis zur polnischen Landbevölkerung, die sich auf ihren Klein- und Kleinsthöfen selbst versorgt?

Sie alle sind im dreifachen Sinne ins Abseits gerückt - abseits des gesellschaftlichen Reichtums, abseits der europäischen Perspektiven, abseits der Wahrnehmung. Im Europa der optimistischen Politiker ist für sie kein Platz mehr. Niemandsland heißt ja auch: auf der Strecke bleiben, ohne dass jemand davon noch Aufhebens macht. Und Niemandsland ist noch lange nicht der Endzustand. Niemandsland ist noch steigerbar. In der Wochenzeitung "Freitag" wird die Grenzregion zwischen Deutschland und Polen bereits eine "Transitwüste" genannt.

Metropolitan Corridor

Keiner hat für das neue Verhältnis von Zentrum und Peripherie, für das Europa der Jemande und Niemande ein eingängigeres Bild gefunden als Karl Schlögel. Der Osteuropaexperte nennt die neuen Routen, auf denen sich die europäischen Pioniere bewegen, den "Metropolitan Corridor". Dieser Korridor, schreibt Schlögel, "ist ein Raum verdichteter Bewegung, mit Staus und Knotenpunkten. Es ist ein beeindruckender Transitraum mit Kontakthöfen und Relaisstationen. Am besten erkennt man ihn, wenn man das östliche Europa bei Nacht überfliegt: er glitzert in einer Ebene, die ansonsten im Dunkel liegt. Die Städte, die im Metropolitan Corridor liegen, haben mehr miteinander zu tun als mit den Provinzen, die sie umgeben. Die zivilisatorische Differenz, die man beim Verlassen des Korridors durchmisst, scheint größer als die Distanz zwischen den Städten. Im Korridor herrscht Hochbetrieb. Unterwegs sind Exploratoren, Prospektoren, Fachleute für Tourismus, Verkehr, Energie, Dienstleistungen, Sanierungsspezialisten, Rohstoffaqkuisiteure, Abenteurer und Missionare. Im Korridor herrscht CNN-Zeit. Sie ist in Moskau nicht anders als in Warschau oder Berlin. Dort ist man jederzeit erreichbar. Hier funktionieren E-mail, Handy und Fax."

Schlögels Metropolitan Corridor ist eine Metapher für die neuen Räume der Verkehrs- und Kommunikationsrouten, der Netzwerke des Wissens und der Wissenschaft, der Infrastruktur moderner Kommunikation. Und er ist zugleich deren Ende, weil er diese Räume verdichtet und verengt wie eine Pipeline, die durch die Wüsten Zentralasiens von einem Knotenpunkt zum nächsten führt. Wer den Korridor verlässt, schreibt Schlögel, "fällt aus der CNN-Zeit heraus. Er ist nicht mehr erreichbar, nicht einmal durch die Briefpost, auf die kein Verlass mehr ist. Hier gibt es keine Highways. Hier gibt es vielleicht schöne Wälder, aber keine Hoffnung und keine Arbeit mit Perspektive. Während im Korridor die zivile Armada der Trucks rollt, leuchtet in der Dunkelheit, die jenseits der Korridors herrscht, der Mond. Tau fällt."

Wer Tau fallen hört, hat eine andere Wahrnehmung als die, die ständig unterwegs sein müssen. Wer Tau fallen sieht, lebt in einer anderen Geschwindigkeit. Nicht zuletzt deshalb ist der Metropolitan Corridor auch das Gegenteil der herrschenden Vorstellungen von Raum und Entwicklung. Er definiert das Verhältnis von Zentrum und Peripherie als Einschluss und Ausschluss, weil es zwischen beiden keinen Übergang mehr gibt, sondern nur noch Schnittstellen. Es ist ein neuer Antagonismus, der in dieser Metapher zur Sprache kommt, zwischen denen, die es geschafft haben, die im Geschäft sind, und denen, die schon lange nicht mehr kreditwürdig sind. Der Metropolitan Corridor ist wie eine kommunizierende Röhre quer durch Europa, deren bunte Bilder der Verheißung geradewegs auf die Bildschirme in den europäischen Wohnstuben flimmern.

Doch es ist kein Zufall, dass der Metropolitan Corridor nahezu identisch ist mit den gängigen Vorstellungen von Europa. Es ist die Eigentümlichkeit von kommunizierenden Röhren, dass man all das, was in ihnen an Information, Bildern und Austausch stattfindet, für die Realität hält. Doch wie schnell kann man den eigenen Bildern aufsitzen? Wie schnell wird aus dem eigenen Bild ein Tunnelblick, der denen, die drinnen, im Korridor, unterwegs sind, den Blick nach draußen verstellt? Wenn es im Korridor Fenster gäbe, könnten sie sehen, woraus Europa auch besteht: klapprige Autos, für deren Import man lange Wartezeiten an der Grenze in Kauf nimmt oder altersschwache Ikarusbusse, in denen sich ganze Armeen von Basarhändlern auf den Weg machen. Es ist das Europa der Kriechströme, das die Explorateure und Expediteure im Korridor sähen, wenn sie die selbstgenerierten Bilder ihrer kommunizierenden Röhren einmal verlassen und ihren eigenen Augen trauen würden.

Kriechströme

Europa ist nach dem Fall des eisernen Vorhangs in Bewegung gekommen. Überall herrscht die Dynamik von Aufbruch und Ankunft, von Trennung und Zusammenkunft. Familien, die über Generationen hinweg sesshaft waren, machen sich wieder auf dem Weg, andere halten mit Mühe Kontakt über Hunderte von Kilometern Entfernung. An manchen Stellen kreuzen sich die Wege der neuen Nomaden, manchmal führen sie ins Nichts. An manchen Ballungszentren, wie zum Beispiel dem Ruhrgebiet, Warschau oder Wien, führt kein Weg vorbei, andere Regionen haben noch nicht einmal gepflasterte Straßen.

Das neue europäische Wegenetz ist gewoben aus den Fäden, die die grenzenlosen Hoffnungen und begrenzten Möglichkeiten zusammenhalten. Aus Westpolen pendeln Putzfrauen und Bauarbeiter in die nächst gelegene Metropole des Westens, nach Berlin. Dort verdienen sie noch immer ein Vielfaches dessen, was sie zu Hause bekommen, dorthin sind die Verbindungen oftmals besser als nach Warschau. In Warschau wiederum arbeiten illegale Pendlerinnen aus der Ukraine und haben als Haushaltshilfen Anteil am Aufstieg der polnischen Hauptstadt.

In Budapest ist der chinesische Markt sogar zum Umschlagplatz für die Ameisen, die Mrówki, aus dem gesamten Balkan geworden. Dort kaufen die Basarhändler, die vor noch nicht allzu langer Zeit alles andere waren als Händler, die Regenschirme, Garnituren an Unterwäsche und Lippenstifte, die es in Sarajewo, Tetowo oder auch im rumänischen Resita nicht gibt. Dort wirken sie mit am weit verzweigten Netz des europäischen "Ameisenhandels", den der russische Autor Alexander Korkotadse weitaus treffender als "Tschelnok" bezeichnet. Tschelnok heißt im Russischen Weberschiffchen, und in der Tat weben die "Tschelnoki" mit ihren Handlungsreisen jenes Geflecht, aus dem die europäische Armutsökonomie besteht. Ein Netz, das zugleich ein weißer Fleck auf der europäischen Landkarte ist. Außer der Studie von Korkotadse über die "Tschelnoki" auf der Route Minsk-Istanbul-Minsk, Malgorzata Ireks Feldforschung über den "Schmugglerzug" Berlin-Warschau-Berlin oder dem Dokumentarfilm von Zoran Solomun und Wladimir Blazewskis über den chinesischen Markt in Budapest ist bislang kaum etwas über die Verlaufsformen dieses "Ameisenhandels" bekannt. Nur manchmal, wenn man vor den Habseligkeiten der Händler steht, wundert man sich, wie wenig man in der Überlebensökonomie zum Überleben braucht.

Manche der Routen, auf denen sich die Tschelnoki bewegen sind entweder, wie zwischen Berlin und Moskau oder Russland und Istanbul Teil alter europäischer Handelsrouten. Andere sind im Verlauf der Nachkriegsgrenzziehungen neu entstanden. Sie sind ein Spiegel des europäischen Wohlstandsgefälles und seiner Ein- und Ausfuhrbestimmungen. Und immer wieder sind sie aktuellen Veränderungen unterworfen. Manchmal reicht ein Gerücht, um einen völlig neuen Zyklus der Bewegung auszulösen, um die Dynamik von Aufbruch und Ankunft aufs Neue zu entfachen. Als im Januar 2002 die Nachricht die Kunde machte, dass die neue polnische Regierung ihre erst kurz zuvor erleichterten Einfuhrbestimmungen für Gebrauchtwagen wieder verschärfen wolle, bildeten sich an den deutschen Grenzübergängen nach Polen sofort tagelange Staus. Jeder, der konnte, machte sich auf den Weg, um in Westeuropa preisgünstige Renaults, Volkswagen oder Opels zu kaufen.

Das ist es, was die europäischen Kriechströme ausmacht: jene spannungsgeladenen Bewegungen, die in der Wahrnehmung derer, die im Korridor zwischen den europäischen Zentren unterwegs sind, nicht mehr vorkommen - oder aber solange verdrängt werden, bis sie sich überraschend und an unvorhergesehener Stelle bemerkbar machen. Im Europa der verschiedenen Wahrnehmungen und Geschwindigkeiten trifft man sich manchmal nur noch an den Grenzen, so wie beim kleinen und dem großen Grenzverkehr an der Frankfurter Stadtbrücke und dem Autobahnübergang Swiecko.

Europäische Grenzen

Die Diskussion über die Finalität Europas hat spätestens mit der viel zitierten Rede des deutschen Außenministers Joschka Fischer in der Berliner Humboldt-Universität im Jahr 2000 begonnen. Doch sie beschränkt sich längst nicht mehr auf die Frage einer europäischen Verfassung, auf den Charakter der Europäischen Union als lose Föderation von Nationalstaaten oder - nach amerikanischem Vorbild - eine Art Vereinigter Staaten von Europa. Sie ist auch eine Diskussion um seine Grenzen. Diese Diskussion freilich hat nicht erst mit den ersten Beitrittsverhandlungen 1998 begonnen. Und sie wird mit der ab 2004 beginnenden Osterweiterung der EU noch lange nicht zu Ende sein.

Im Gegenteil: Verläuft die europäischen Außengrenze demnächst am Bug statt an Oder und Neiße, wird man sich erst recht der Frage stellen müssen, wo Europa einmal enden soll. Das Argument der "kulturgeschichtlichen Bruchlinie", die mit Hinweis auf das Schisma von Rom und Konstantinopel das westeuropäische Europa mit seinen zivilisatorischen Traditionen vom "byzantischen" Europa trennt, wird dann nicht mehr greifen. Wenn Länder wie Bulgarien und Rumänien mit ihrer orthodoxen Tradition erst einmal in der Europäischen Union sind, muss man andere Argumente finden, um etwa die Ukraine, Weißrussland oder Moldawien weiter vor den Toren Europas zu halten.

Auf den Trassen der Explorateure und Expediteure gilt diese Grenze ohnehin nicht mehr. Für den schwedischen Möbelproduzenten IKEA zum Beispiel gehört die im März 2000 eröffnete Filiale im Moskauer Vorort Chimki inzwischen zu den umsatzstärksten in ganz Europa. Mit der Eröffnung dieser Filiale, die der Münchner Filmemacher Michael Chauvistré in seinem hinreißenden Dokumentarfilm "Mit IKEA nach Moskau" in die Kinos gebracht hat, setzte IKEA ohnehin nur seine lange währende osteuropäische Tradition fort. Schon in den sechziger Jahren, als die schwedische Holzindustrie auf die Niedrigpreise des Konzerns mit einem Boykott reagiert hatte, wich IKEA-Firmengründer Ingvar Kamprad kurzerhand nach Polen aus. Und auch schon vor der Eröffnung der ersten russischen Filiale in Moskau-Chimki war IKEA in Russland vertreten. 1977 wurden in Priozjersk die ersten Möbel hergestellt. Noch heute landen 35 Prozent des gesamten russischen Möbelexports als Billyregale in den Wohnzimmern derer, für die Europa noch immer an den Grenzen der vermeintlichen Zivilisation endet.

Grenzenlos in seinem Bewegungsdrang ist auch der Spediteur Willi Betz. Betz, der nach dem Zweiten Weltkrieg im schwäbischen Reutlingen seinen ersten Lastwagen mit Holzvergaser kaufte, ist heute mit fast 4.000 LKW der größte Spediteur Europas. Die Routen der Firma führen längst nicht nur nach Mittel- und Osteuropa, sondern weit darüber hinaus - bis in den Iran oder den Irak. Seinen Rang als europäischer Marktführer verdankt Betz aber nicht nur den grenzüberschreitenden Routen und modernster Satellitentechnik, die es ermöglicht, die Zahl der Leerfahrten auf ein Minimum zu reduzieren. Mit dem Kauf der Mehrheitsanteile des bulgarischen Staatskonzerns Somat gelang es dem Spediteur auch, die Konkurrenz durch den Einsatz von Billiglohnfahrern auf Distanz zu halten. Selbst bei den Transporten in Westeuropa sitzen heute fast ausschließlich bulgarische Trucker hinter dem Steuer.

Als Angestellte der Somat, glaubt Willy Betz, bräuchten sie keine Arbeitsgenehmigung, sondern lediglich ein Touristenvisum. Von den 4.000 LKW der Reutlinger Spediteursflotte sind daher nur noch 500 in Deutschland angemeldet.

Die Routen der transnational agierenden Firmen haben schon längst alle Grenzen der Debatte um die europäische Finalität überschritten oder besser: sie haben sie unterlaufen. Auf den Metropolitan Corridors von Paris über Berlin, Warschau und Minsk nach Moskau gibt es keine Grenzen mehr, sondern allenfalls ein paar Staus und lästige Reglements. Der Korridor hat seine eigenen Gesetze. Das Europa der Spediteure und Profiteure ist dem der Politik längst voraus.

Ganz anders dagegen sehen die Zukunftsaussichten der Tschelnoki aus. Im Ausbleiben der ukrainischen und weißrussischen Händler auf den Basaren des polnischen Ostens zeigen sich schon heute die Schatten, die die neuen Außengrenzen Europas vorauswerfen. Obwohl es Schengeneuropa erst für den "Beitrittsfall" verlangt, hat Polen gegenüber Weißrussland bereits eine Visapflicht eingeführt. Auch die Händler aus der Ukraine, die früher Tag für Tag über den Grenzübergang Medyka ins südostpolnische Przemysl gekommen sind, bleiben inzwischen aus. Noch benötigen sie kein Visum, doch auch der Nachweis an ausreichend Devisen für eine Einreise als Tourist hält viele von der beschwerlichen Reise mit ihren oft tagelangen Wartezeiten ab. Das gleiche gilt für die Händler, die aus Bosnien oder Serbien nach Ungarn kommen. Auch sie müssen für die Erteilung eines Visums inzwischen viel Geld und Zeit aufbringen. Schon heute schottet sich das neue Europa von seinem neuen Osten ab.

Es ist also nicht die Summe der Bewegungen auf den kleinen Pfaden und großen Routen, aus denen sich, wie Karl Schlögel meint, das neue grenzüberschreitende Europa zusammensetzt, sondern es sind alleine die Routen und Knotenpunkte des Metropolitan Corridor. Für den kleinen Grenzverkehr gelten dagegen schon heute andere Gesetze, eine Einschränkung der Arbeitnehmer- und Dienstleistungsfreiheit nach dem Beitritt inklusive. Eine Vereinigung Europas von unten her ist nicht erwünscht.

Europäisches Abseits

Die Aleja Marszala Jozefa Pilsudzkiego ist eine polnische Straße. Im Fußgängertunnel an der Kreuzung zur Piotrkowska, dem zu neuer Pracht gekommenen Stolz der Lódzer, haben Kleinhändler ihre wackligen Tische aufgestellt. Oft haben sie nicht mehr zu verkaufen als ein Dutzend Schnürsenkel, etwas Obst und Gemüse, Habseligkeiten. Es herrscht eine eigentümliche Stille hier unten, nur unterbrochen vom Hall der Schritte der Passanten. Stumm, als hätten sie die Hoffnung längst aufgegeben, warten die Händler darauf, dass einer stehen bleibt, sich umblickt, näher tritt. Meistens vergebens. Es ist eine der Befremdlichkeiten der Überlebensökonomie, wie wenig ein Mensch in Lódz dem einstigen Manchester des Ostens, tatsächlich zum Überleben braucht.

Auch oben stehen die Händler. Die, die es bereits zu etwas gebracht haben, haben einen Kiosk gepachtet und verkaufen "Chemia", Zigaretten, vor allem aber Lose, in allen Variationen, immer in der Hoffnung auf ein bisschen Gewinn. Zumindest das haben die Käufer an den Kiosken mit den Akteuren an den Aktienbörsen gemeinsam. Diejenigen Händler, die bereits in Geschäften sesshaft geworden sind, haben ihre Schaufenster vergittert. Selbst das Kaufhaus Central, in früheren Zeiten das Schaufenster der Stadt, versteckt seine Waren vor den Blicken der Laufkundschaft. In der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, wie sie Transformationsstädten zu eigen ist, präsentieren sich an der Aleja Marszala Jozefa Pilsudzkiego in ihrer ganzen Armseligkeit die verschiedenen Entwicklungsstadien des Handels, vom Basar und offenen Markt über den Kiosk bis zum Kaufhaus. Das Provisorium, im Westen längst Sinnbild der Existenzlosigkeit, ist an diesem Ort das Bild der Existenz schlechthin.

Lódz, die mit 900.000 Einwohnern zweitgrößte polnische Stadt, liegt im Abseits. Dass sie nicht an das europäische Eisenbahnnetz angeschlossen wurde, geht auf die russische Regierung zurück. Die sorgte Mitte des 19. Jahrhunderts dafür, dass ihr westliches Herrschaftsgebiet weitestgehend unzugänglich blieb. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Wer mit der Bahn nach Lódz fährt, muss aufs Nebengleis umsteigen, zum Beispiel in der westlich von Warschau gelegenen Kleinstadt Kutno. Es hat sich so das böse Wort ergeben, Lodz liege bei Kutno.

Es sind nicht nur die ländlichen Regionen, die in der neuen Geografie von Zentrum und Peripherie, im Antagonismus von Kriechströmen und Korridoren ins Abseits geraten, sondern immer öfter auch städtische Ballungsräume. In Szczecin zum Beispiel hat die Zahl der Arbeitslosen Rekordziffern erreicht, trotz oder wegen der geografischen Nähe zu Berlin. Auch der Hafen der Stadt und die Werft verlieren immer mehr an Bedeutung. Offenbar brauchen die neuen europäischen Zentren keine Wasserwege und traditionellen Industrien mehr. Längst sind es nicht mehr die großen europäischen Flüsse wie die Oder, an deren Ufer die Waren umgeschlagen werden und die die städtischen Zentren miteinander verbinden.

Ins europäische Abseits zu geraten, ist aber nicht nur eine Gefahr, die polnischen Städten wie Lódz oder Szczecin droht. Im sächsischen Görlitz zum Beispiel haben nach der Wende über 20.000 Bewohner ihrer Stadt den Rücken gekehrt, und das trotz der immensen Sanierungsanstrengungen in dieser oft als "Perle der Lausitz" gerühmten Stadt mit ihren Renaissancegebäuden und italienischem Flair. Offenbar ist es nicht die Schönheit einer Stadt, die über ihre Zukunft oder ihren Abstieg entscheidet, sondern alleine die Nähe zu den europäischen Korridoren. Und die verlaufen heute auf anderen Trassen als der Via Hanseatica, zu der Stettin einst gehörte, oder der Via Regia, auf der die Tuchmacher und Färber im Mittelalter einst ihre Stoffe von Norditalien über Görlitz nach Osteuropa brachten.

Dass die neue Geografie von Zentrum und Peripherie in Mittel- und Osteuropa weitaus häufiger ins Abseits führt als ins Rampenlicht, mag ein Blick auf die europäischen Wachstumsregionen verdeutlichen. Von der "blauen Banane", die Südengland, Nordfrankreich und Belgien mit Norditalien verbindet, sind Berlin und die mittel- und osteuropäischen Länder ebenso weit entfernt wie von der europäischen Hightech-Region Sophia Antipolis an der südfranzösischen Mittelmeerküste.

Kein Wunder also, dass sich in diesem Teil des Kontinents alle Anstrengungen auf die wenigen Routen konzentrieren, die alleine Verbindung halten zu den europäischen Boomregionen. Dazu gehört der Ost-West-Korridor von Moskau nach Paris mit seinen Relaisstationen Warschau und Berlin, aber auch die Strecke von Wroclaw über Krakau, Lemberg weiter nach Kiew. Zu den europäischen Transitstrecken gehört auch die Trasse von Berlin über Dresden nach Prag, Wien und weiter nach Budapest und Istanbul sowie die Via Baltica, die über Warschau und Riga weiter nach Sankt Petersburg führt. Nicht zum Korridor gehören dagegen jene Regionen in Ostdeutschland, in denen sich heute schon die so genannten "sterbenden Städte" konzentrieren. Draußen bleiben auch die Routen in Mittel- und Osteuropa, auf denen zwar viele Menschen unterwegs sind, aber wenig Kapital. Die Neuvermessung Europas findet nicht von unten statt, sondern in den Chefetagen der internationalen Player.

Tankstellen und Raststätten

Skwierzyna ist ein kleiner Ort. Fast unscheinbar läge er in der polnischen Wojewodschaft Lubuskie, wäre da nicht der Umstand, dass Skwierzyna genau auf einer der beiden Routen von Berlin in die polnische Boomtown Poznan liegt. Und dann gibt es in Skwierzyna noch eine Raststätte und Tankstelle. Hier können die Explorateure und Expediteure einen Zwischenstop einlegen bei ihrer Erkundungsreise nach östlichen Märkten oder westlichem Kapital. Doch die Raststätte und Tankstelle von Skwierzyna ist nicht nur eine Anlaufstelle für die Reisenden auf dem Metropolitan Corridor zwischen Berlin und Warschau. Nach Skwierzyna zieht es auch die Jugendlichen aus den umliegenden Dörfern und Landkreisen. An manchen Tagen kann es vorkommen, dass die Besucher der Gaststätte vom Mittagessen zu ihren Autos zurückkehren und die Wischblätter von den Windschutzscheiben weggeklappt sind. Etwas irritiert schauen sie sich dann um, und erst nach einigen Augenblicken verstehen sie, um was es geht.

Die Jugendlichen aus der Umgebung haben in der Zwischenzeit die Autoscheiben der Restaurantgäste gewischt und warten nun, höflich und unaufdringlich, auf einen Obulus. Diese an sich völlig harmlose Szene könnte sich alsbald schon zu einem Schreckensbild für die Explorateure und Expediteure auf dem Metropolitan Corridor entwickeln: "Am Rand des Korridors", spinnt Karl Schlögel seine Metapher des neuen Europa weiter, "blüht die Sehnsucht und brütet der Hass." Und sind es nicht die Tankstellen und Raststätten, an denen sich alleine noch die Jugendlichen aus den Dörfen am Rande des Korridors mit den europäischen Pionieren begegnen?

Vorerst freilich ist die Raststätte und Tankstelle von Skwierzyna nur Zwischenstation, eine Etappe der Reisenden auf den Kriechpfaden der europäischen Hinterhöfe. Viele der Scheibenwäscher, die auf polnischen Rasthöfen wie in Skwierzyna angefangen haben, haben von Altersgenossen gehört, dass es auf den Straßen der deutschen Hauptstadt sehr viel mehr zu verdienen gibt. Eine Nachricht, die sich wie eine frohe Kunde durch ganz Polen verbreiten kann. Läuft das Geschäft gut, machen sich aus Lódz und Szczecin, aber auch aus dem an der weißrussischen Grenze gelegenen Bialystok die nächsten Scheibenwischer auf den Weg. Es ist einer der typischen Migrationspfade im mobil gewordenen Europa, den sie beschreiten.

Die weniger Mobilen dagegen bleiben. Für sie sind Tankstellen und Raststätten wie in Skwierzyna neben Fernseher und Internet die einzigen Orte, an denen sie Verbindung halten mit der "großen, weiten Welt". Oder, wo sie es dieser Welt einmal so richtig zeigen können. So wie an den Tankstellen der A2 von Berlin nach Hannover, wo es immer wieder Übergriffe auf Autos mit Berliner Kennzeichen gegeben hat. Oder auf den Bahnhöfen des Metropolitan Corridors, wo an manchen Stationen dunkle Gestalten einsteigen und schon an der nächsten Haltestelle den Zug wieder verlassen, mit Beute oder ohne. "In den Korridoren", schreibt Karl Schlögel, "wächst das urbane Europa zusammen, aber an seinen Rändern staut sich der Neid und die Wut der Zurückgebliebenen und Zukurzgekommenen. Diese Ungleichzeitigkeit der Zeit ist bedrohlicher als der `Clash of Civilizations´."

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