Kommunalpolitische Orientierung

Der Osten braucht eine andere Arbeitsmarktpolitik

Seit 1990 gibt es in Deutschland Transferzahlungen von West nach Ost. Man kann sie groß oder klein rechnen. So oder so konsumiert der Osten mehr als er produziert. Und dafür erwartet man Dankbarkeit.

Während der Umfang dieser Transfers schnell die Gemüter erregt, werden die rechtlichen Regelungen, nach denen sie gewährt werden, in der Öffentlichkeit kaum diskutiert. Sie formen eine unüberschaubare Kulisse und sind daher für polemische Diskurse weniger gut geeignet. Eine tiefgreifende Kritik an diesen Regelungen bzw. an ihrer Übertragung von West nach Ost muß auf zähen Widerstand treffen. Er beruft sich zum einen unmittelbar auf die Entscheidungssituation zum Zeitpunkt der Vereinigung, denn 1990 mußte es schnell gehen; es gab keine Zeit, für die Entwicklung neuer Regelungen. Und dann begann der "Beste-Aller-Denkbaren-Welten"-Mechanismus zu wirken.

Wer zu erkennen gibt, daß er bestimmte Entwicklungen in einem Fachgebiet kritisch einschätzt, geht ein haushaltspolitisches Risiko ein: Die Haushaltstitel können ganz schnell zugunsten solcher Bereiche zusammengestrichen werden, in denen keine kritischen Töne laut werden. Unzureichende Instrumente aufzugeben, bevor neue zur Hand sind, wäre also politischer Leichtsinn.

West ist der Maßstab: Was sich im Westen bewährt hat, solle auch im Osten funktionieren. Schließlich war auch mit der Übertragung der Westregelungen der Kompetenzvorsprung der westdeutschen Wirtschafts- und Verwaltungsfachleute gesichert.

Ein Feld, in dem 1990 die Regelungen zwar modifiziert, aber im Grundsatz doch unverändert übertragen wurden, ist die Arbeitsförderung. Dabei unterlag das westdeutsche Arbeitsförderungsrecht - 1969 konzipiert - einem Vollbeschäftigungs- und Individualversicherungsparadigma: Grundsätzlich stehen genug Arbeitsplätze zur Verfügung. Zwar fallen aufgrund des Strukturwandels laufend welche weg, doch werden zugleich neue geschaffen. Arbeitsförderung ist unter diesen Rahmenbedingungen erfolgreich, wenn sie den individuellen Versicherungsschutz gegen Arbeitslosigkeit gewährt, und Informationen, Beratung, Fortbildung und Umschulung zur Arbeitsplatzvermittlung anbietet. Mag sein, daß dieses Szenario auch in Westdeutschland 1989 schon nicht mehr ganz stimmig war, aber im wesentlichen war dies die Philosophie, deren Regelungen dann 1990 auf den Osten übertragen wurden.

Wie aber sollte das funktionieren, wenn in Ostdeutschland innerhalb von knapp zwei Jahren, zwischen 1990 und 1992, ein Drittel der Arbeitsplätze dauerhaft wegfiel - rund drei Millionen?

Einen nicht unerheblichen Teil der aufgerissenen Lücke konnte die Altersübergangsregelung bis 1992 aus dem Arbeitsmarkt herausführen. Ein weiterer Teil, der zunächst fast an die Millionengrenze heranreichte, wurde in Maßnahmen der Qualifizierung und der Arbeitsbeschaffung aufgefangen, und es wurde die arbeitsmarktpolitische Brücke eingeführt, die dann von Zeit zu Zeit verlängert wurde - jedes Mal schmaler und wackliger. Das andere Ufer ist bis heute nicht erreicht.

Dann wirkt es schon etwas befremdlich, wenn in Kenntnis der ostdeutschen Rahmendaten, aufwendige Evaluationsstudien erarbeitet werden, die entrüstet die relativ niedrigen Erfolgsraten arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen in Ostdeutschland anprangern. Sofern die Arbeitsmarktpolitik nicht auf eine Förderung der überregionalen Mobilität, will heißen: der Abwanderung nach Westdeutschland, zielen, kann ihr Vermittlungseffekt nur begrenzt sein. Es sei denn, die Maßnahmen schieben den sogenannten Drehtüreffekt an: frisch qualifizierte Arbeitslose verdrängen Beschäftigte in den Unternehmen. Die Gesamtzahl der Beschäftigten in Ostdeutschland nimmt seit 1995 leicht ab; daraus folgt rechnerisch zwingend, daß jede erfolgreiche Vermittlung per Saldo mit der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses korrespondiert. Auch in Ostdeutschland gibt es Regionen mit positiven Entwicklungen. Hier können die klassischen Instrumente der Arbeitsförderung gut wirken. Andererseits gibt es aber viele Regionen, die sich weit schlechter als der Durchschnitt entwickeln: vorwiegend ländlich strukturierte Räume, häufig auch an der heutigen Ostgrenze der Europäischen Region gelegen.

Zehn Jahre nach der Vereinigung ist es überfällig, diese Probleme offen anzusprechen. Wir brauchen die klassische Arbeitsförderung, weil sich auch in Ostdeutschland selbstverständlich ein Strukturwandel vollzieht, in dem ständig Arbeitsplätze wegfallen und neue geschaffen werden. Wir brauchen darüber hinaus aber Förderinstrumente, die in ihrer Ausgestaltung auf die besondere Situation Ostdeutschlands, insbesondere der strukturschwachen Regionen, ausgerichtet sind. Deshalb hat das brandenburgische Arbeitsministerium im Sommer 2000 den Vorschlag einer "beschäftigungspolitischen Initiative zur kommunalen Infrastrukturförderung" formuliert (s. folgende Seiten).

Augen zu und durch. Das war die Methode der "Weiter-So"-Politik bis 1998. Mit der rot-grünen Bundesregierung verbindet sich die Chance einer unbefangenen und umfassenden Analyse der Förderungen für Ostdeutschland. Der Vorschlag des Brandenburger Arbeitsministeriums, auf den Wolfgang Thierse in seinen Thesen hinweist, ist ein Beitrag zu einer umfassenden Neuausrichtung der Förderpolitik, in der übrigens nicht nur die Arbeits-, sondern auch die Wirtschaftsförderung auf den Prüfstand gehört.


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