Kein Pathos, bitte! Wie die Politik der Berliner Republik emotionslos wurde



Vielleicht liegt es am Wetter, dem kontinentalen Klima. Vielleicht liegt es am globalen Wettbewerb, oder auch am 11. September. Was auch immer die Gründe sein mögen: Nach fünf Jahren Berliner Republik lässt sich vor allem eines festhalten – die deutsche Politik ist emotionsloser geworden. Die These mag verwundern: War es nicht gerade der Umzug nach Berlin, der Minister, Abgeordnete und Beamte näher an die Menschen, damit aber auch an deren Befindlichkeiten heranführen sollte? Und war es nicht der Wechsel an die Spree, der Politik durch den Einsatz modernster Kommunikationsmethoden menschlicher und damit auch emotionaler aussehen lassen sollte?

Sonderkonjunktur für die Werbebranche

Sicherlich: Der eine oder andere Volksvertreter ist den Menschen im Kiez seines Zweitwohnsitzes näher gekommen. Unterdessen hat der Versuch, die Darstellung von Politik mit Emotionen aufzuladen, der Werbebranche eine Sonderkonjunktur beschert. Dennoch stellte sich bald heraus, dass hier nur eine Hülle gewoben und über das Geschehen geworfen wurde. Was sich dahinter vollzog und alsbald auch zum Vorschein trat, bedeutete und bedeutet nichts weniger als einen Stil- und Paradigmenwechsel erster Ordnung.


Solange Politik in Bonn gestaltet wurde, war sie, je länger Helmut Kohl regierte, umso gefühliger geworden. Der ewige Kanzler verbreitete eine pfälzische Gemütlichkeit, die soziale Wärme ebenso vermitteln sollte wie politische Empathie. Wenn Kohl über Europa, Familie oder Heimat sprach, dann waren nicht wenige Menschen gerührt. In idealer Ergänzung dazu wog Norbert Blüm Millionen von – vor allem älteren – Deutschen in einer (allerdings teuer erkauften) Sicherheit. Politik verstand sich insoweit als Verwaltung eines Volksheimes. Passend dazu avancierte zum trefflichsten Symbol des rheinischen Regierungsstils die Strickjacke.

In Berlin regiert der Haifischkragen

In Berlin hingegen – man schaue auf den Kanzler – regiert der Haifischkragen. An der Spree ist keine Zeit für Gefühle. Zwar werden Familienförderung und Ganztagsbetreuung in ausnahmslos jeder Sonntagsrede an prominenter Stelle genannt. Auch wurden für entsprechende Programme einige Milliarden Euro bereitgestellt. Wochentags aber sinkt die politische Temperatur regelmäßig in Richtung des Nullpunkts. Ob im Inneren des Landes oder auf der Bühne des Weltgeschehens: Wo früher, jedenfalls gelegentlich, auch Regungen artikuliert und Visionen formuliert werden durften, hat heute der Pragmatismus, um nicht zu sagen: die Ökonomie Einzug gehalten. Da werden Reformen angeschoben, die noch vor wenigen Jahren als Tabubrüche gegeißelt worden wären. Nichts scheint mehr heilig am Sozialstaat Deutschland, seit sich das einstige Vorzeigemodell als hoffnungslos überschuldetes Kuschelsystem herausgestellt hat. Selbst Flächentarif und Mitbestimmung stehen nicht mehr unter Artenschutz. Die implizite Botschaft lautet immer öfter: „It’s the economy, stupid!“


Dieselbe Reduktion im Theater des Auswärtigen: Schröder reist möglicherweise noch mehr durch die Welt als Kohl. Aber ging es diesem primär darum, Allianzen zu pflegen, so sieht der Berliner Kanzler seine vordringlichste Aufgabe darin, deutschen Unternehmen bei der Erschließung von Auslandsmärkten zu helfen. Das kann wahlweise im chinesischen Pudong, am Bosporus oder in einem Wüstenzelt passieren – Tatsache ist, dass das Reisegepäck des Kanzlers im Wesentlichen aus aufgeschlagenen Auftragsbüchern besteht. Dito in der Europapolitik, die – ganz ohne Kohlsches Pathos – aus Berliner Sicht vor allem einem Ziel dienen muss: der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Derweil fehlt der routinemäßigen Umarmung mit Chirac die innige Tiefe des Händedrucks von Verdun.

Die éducation sentimentale findet nicht statt

Politik als Ökonomie, Effizienz statt Emotion, Gewinne statt Gefühl – wenn das den Unterschied zwischen der Bonner und der Berliner Republik markiert, müssen wir dann traurig sein? Manch einer mag sich zurücksehnen nach einer Zeit, in der auch das Herz noch etwas galt. Die Realität aber lautet: Im Zeitalter des globalen Wettbewerbs ist der Raum für Empfindsamkeiten eng geworden – die éducation sentimentale im Sinne Flauberts findet nicht statt. Umso wichtiger ist es jedoch, dass auch einer primär als Gesellschaftsmanagement betriebenen Politik eine Idee, ein geistiger Kern zugrunde liegt. Politik, die nachhaltig wirken soll, braucht einen Angelpunkt. Und hier kommen – spät, aber nicht zu spät – die Medien, einschließlich der Berliner Republik, ins Spiel. Sie können und sollten, anstatt hauptsächlich der Tagespolitik hinterher zu hecheln, von dieser öfters Abstand nehmen, Prozesse bewerten und Fragen stellen: Fragen nach dem Sinn der Politik, ihrem Kurs und Maß. Tobias Dürr hat mit der Berliner Republik ein Forum geschaffen, in dem genau diese Fragen gestellt und auch beantwortet werden. Für ihre Emotionalität ist Politik noch immer selbst zuständig. Hingegen kann eine Zeitschrift ihr dazu verhelfen, ihren inneren Kompass zu finden. Wenn der Berliner Republik dies auch weiterhin gelingt – dann wäre viel erreicht.

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