Kein Bock mehr auf Pulverfass

Elf Jahre nach dem Krieg ist das Leben im "Jerusalem des Balkans" fast normal

Wir trafen den albanischen Scharfschützen an einem Schachbrett auf der Terrasse der Havanna Bar. Das ist ein Café in der Altstadt von Sarajevo. Lulzim hatte im Kosovo gekämpft und auch nahe der bosnischen Hauptstadt. Wir kamen ins Gespräch – einen Söldner trifft man ja nicht eben häufig. Derzeit bereitet er sich auf den Unabhängigkeitskrieg der Kosovaren vor. Seine Devise im Schach wie auch im Leben: „Attack, you know. Always attack.“ Der Krieg auf dem Balkan ist vorbei. Doch seine Spuren sind überall. Anders als beim Schach tragen Spielfeld und Figuren deutliche Narben.

Wenige Tage zuvor hatte uns Sarajevo empfangen wie ein Urlaubsort: Sonne, traumhafte Flugschleife über die umliegenden Berge und abends ein erstes Cevapi mit Bier in der Fußgängerzone. Während sich der Sonnenschein die ganze Woche halten sollte, sich diesem ersten der ein oder andere weitere Gerstensaft zugesellte, konnten wir die Berge minenbedingt leider ausschließlich aus der Ferne bewundern. Das Spielfeld war also eingeschränkt.

Die Innen- und Altstadt Sarajevos dagegen ist klein und sehr sympathisch. Hier leben überwiegend Muslime, die aber eine derartig entspannte Variante des Islam pflegen, dass es trotz Ramadan und zugehöriger Abstinenz zu keiner Zeit Schwierigkeiten gab, säkularer Trinkkultur zu frönen. Die Luft ist meist geschwängert vom Rauch der Cevapi-Grills. So lässt es sich zwischen Souvenirshops und Cafés prima aushalten. Als Beilage zu den Hackröllchen wird Fleisch angeboten, auf Nachfrage bekommt man ein paar Zwiebeln und Brot. Ein Schild am Hof der größten Moschee weist darauf hin, dass hier Schmusen und Pump-Guns nicht erwünscht sind. Gelegentlich begegnet man auch ein paar kopftuchtragenden Frauen, vereinzelt sieht man sogar eine Burkha – aber deutlich seltener als in Kreuzberg.

Bier trinken und friedlich sein

Wie überall auf der Welt macht man auch in Sarajevo die entscheidenden Begegnungen beim Bier. So treffen wir eines Abends Andrej mit leider namenlosem Anhang im zentralen Brauereikeller. Hier trinkt man Sarajevsko Pevo, entweder Helles oder Dunkles. Andrej und seine Freundin stammen aus dem Umland und sind wie wir ganz begeistert von der Hauptstadt: „Wir kommen fast jedes Wochenende nach Sarajevo und verbringen die meiste Zeit in der Fußgängerzone, trinken Kaffee und gucken den Leuten zu.“ Das bedient ungewollt ein altes Vorurteil: Die Bosnier gelten als die Faulsten auf dem Balkan. Vielleicht führt aber gerade diese Eigenschaft zu dem für ein friedliches Miteinander der Religionen und Ethnien notwendigen Gleichmut. Zumindest hat man in Sarajevo den Eindruck, dass es keine Rolle spielt, welcher Glaubensrichtung oder Volksgruppe jemand angehört. Den akustischen Religionswettstreit gewinnt allerdings eindeutig der Islam. Das abendliche Gemurmel der Tonbandmuezzine ist deutlich sanfter als christlich-schneidendes Geläut.

Der Erstkontakt mit der dominanten Freizeitkultur dagegen, als Popmusik getarnter Discostumpfsinn der Kategorie „Turbofolk“, erschwert die direkte Kommunikation, so dass außer Gucken und Staunen wenig bleibt. Auf einen gewissen Mangel an Fantasie gepaart mit einem guten Schuss Arroganz hätte uns aber auch schon der Name der Bar hinweisen sollen: The Bar. Später hatten wir mehr Glück: Im The Pub kann man nicht nur die Musik deutlich besser ertragen, sondern sich sogar unterhalten. Auch mit Fremden, denn wer nicht Englisch spricht, spricht zumeist ein wenig Deutsch. Diese Fremden sind lokalitätsbedingt alle unter dreißig und trinken in rauen Mengen Orangiena. Das ist ein sympathisches Getränk mit sympathischen Trinkern hinter dem Strohhalm. So auch Snejana, Emira und Dzenan. Sofort redet man, worüber man in Bars so redet: tolles Wetter für die Jahreszeit, tolle Altstadt, aber die Gegend um das Olympiazentrum ist wohl eher nicht so dolle, wie ja überhaupt die Innenstadt nicht ganz repräsentativ ist und – zack – Politik. Und so erfährt der erstaunte Gast, dass die Jugend auf dem Balkan keinen Bock mehr hat auf diesen ganzen Quatsch mit Krieg und Ethnien und Pulverfass Balkan. Sondern dass sie sich für Umweltschutz und alternative Energien interessieren und von den Machtkämpfen der Altvorderen im besten Fall gelangweilt sind.

Tretminen für die nächsten 750 Jahre

Einen schönen Blick von Südosten über die Stadt hat man im Restaurant Bilban. Diesen Blick schätzten auch die serbischen Kommandeure, die hier vor 1992 ihre Karten ausbreiteten und die Artillerie in Stellung brachten. Bis 1995 war Sarajevo eingeschlossen. Die Stadt wurde durch einen anderthalb Meter hohen Tunnel versorgt, der in einem Haus begann, unter dem Flughafen hindurch verlief und in einer Scheune in einem Vorort sein anderes Ende hatte. Den damaligen Frontverlauf sieht man heute in der aktuellen Minenkarte: viel Rot, wenig Grün. Im Übrigen gibt es allenthalben bunte Markierungen, denn noch heute liegen um Sarajevo herum unzählige Minen: kleine streichholzschachtelgroße Objekte, die in der Produktion vielleicht einen Dollar kosten, aber auch größere, die auf Bauchhöhe explodieren, um dann im Umkreis von 50 Metern ihre Splitter zu verteilen. Ivo ist Kellner und kann etwas Deutsch, weil er in Hanau als Lackierer gearbeitet hat. Er erzählt uns, dass es – bei gleichbleibendem Räumungstempo – „noch 750 Jahre“ dauern werde, bis alle Minen geräumt seien.

Einer der Höhepunkte dieser Woche: Mittwochabend ist Fußballländerspiel. Bosnien-Herzegowina gegen Frankreich. Im Olympiastadion. Auf dem Weg zum Stadion kommt man an sehr großen Friedhöfen vorbei. Zuerst der muslimische mit seinen obeliskartigen Grabmälern, dann auf der anderen Seite der orthodoxe mit den Kreuzen. Viele der hier Begrabenen wurden während des Krieges aus der Not heraus behelfsmäßig im Stadion beigesetzt und haben erst nach dem Ende der Belagerung ihre letzte Ruhestätte gefunden. Von Ruhe kann jetzt allerdings keine Rede sein, die ganze Stadt scheint in Sachen Fußball unterwegs.
Dreizehn Kultusminister, keine Hymne

Während der kleine Block meist uniformierter Franzosen die Marseillaise recht lautstark mitsingt, bleibt es bei der bosnischen Hymne ruhig. Für ihr kleines Land haben die Bosnier jetzt 13 Kultusminister eingesetzt, die eigentlich nichts anderes machen, als die gemeinsame Sprache zu splitten (wenn nichts anderes hilft, muss der Unterschied zwischen lateinischer oder kyrillischer Schreibweise ausreichen). Da ist es auch kein Wunder, dass sie sich noch nicht auf einen Text für ihre Nationalhymne einigen konnte. Rund 20.000 singen dann aber wieder laut mit, als der aktuelle Schlager Lejla des Eurovision Song-Contests gespielt wird. Das Lied von Hari Mata Hari landete immerhin auf Platz drei. Und das ist ja schon was – auch eine Art Nationalhymne.

THE PUB – City Pub, Kneipe – Zelenih Beretkip, Altstadt Sarajevo
THE BAR – Freiluftlounge & Club – Marshala Tita, Sarajevo
BILBAN – Restaurant – Hostin Brijeg 95, Sarajevo
HAVANNA BAR – Musikkneipe, Altstadt Sarajevo
SARAJEVSKA PIVARA – Brauereikeller – Franjevacka 15, Sarajevo

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