Kanzler und Kapitalismus

Zur Modernität Gerhard Schröders

Auf dem Bild „Die Flucht des Sisyphus“ des ostdeutschen Malers Wolfgang Mattheuer entfernt sich ein kraftvoller Sagenheld mit großen Schritten aber keineswegs panisch vom legendären Hügel. Offenbar findet dieser Sohn eines Windgottes, er sei genug gestraft. Auf den ersten Blick ist klar: Der kommt davon. Der kommt sogar – wenn er will und es sein muss – zurück und wälzt den blöden Stein wieder hoch. Und während Sisyphus, von dem wir uns vorstellen, dass er glücklich ist, sich nicht zum Deppen machen lassen will, lernen wir, was Berliner Republik wirklich heißt. Gerhard Schröder hat es so gewollt, aber so nicht vorhersehen können.

In der kakophonen Aufarbeitung seiner Kanzlerschaft brechen zumal bei hysterisierten Wirtschaftseliten eine intellektuelle Inkontinenz und ein hemmungslos enthemmter Hooliganismus durch, die halbwegs in Schach gehalten zu haben zu den nachwirkenden Verdiensten der rot-grünen Wortführer gehört. In diesem selbstvergessenen Treibhaus Hauptstadt spült die bloße Aussicht auf Machtgewinn und Machtverlust wirklich jede schlechte Eigenschaft der politischen Klasse hoch. Die mediale Stampede zertrampelt auf ihrer Jagd nach dem Kanzlersturz als Event blindwütig die zarten Pflänzchen politischer Kultur, demoliert die Maßstäbe für politisches Handeln ebenso wie gesellschaftspolitisches Augenmaß. Dabei geht unter, was wesentlich ist. Für turbulente Zeiten, in denen ein globaler Kapitalismus außer Rand und Band die Weltgesellschaft chaotisiert, ist Schröder, der Typus Schröder, der zeitgemäße, der moderne, der alternativlose Kanzler.

Wenn eine Gesellschaft an sich irre wird, erkennt man das an Vielerlei: an Aktienkursen, an Umfragedaten, am Unterschichtenfernsehen, an Spiegel-Redakteuren. Aber auch daran, wie der unkalkulierbare Souverän, der Wähler, diese sprunghafte Bestie, aufgeschreckt durch schwer begreifbare Verhältnisse, die politische Klasse im Genick packt, durchbeutelt und in ihre Bestandteile zerlegt. Ausgerechnet die SPD muss 50 Jahre Sozialdemokratisierung der Republik abwickeln. Nicht alle Tage verliert sie einen Vorsitzenden, der dann als Gegner wiederkehrt. All das zehrt die Partei mehr aus als selbst zu den Zeiten der Anti-AKW- und Friedensbewegung. Die Grünen wurden durch das Regierungsgeschäft so schnell bis zur Unkenntlichkeit aufgesogen wie keine Partei vor ihnen. Die FDP dagegen ist zum ungefilterten Megafon der Kapitalverwertung geschrumpft. CDU/CSU zerreißt es zwischen bürgerlichem Konservatismus und antibürgerlichem Neoliberalismus, paternalistischer Fürsorge für die Unterschichten und Umsturzerwartungen aufgeputschter ökonomischer Eliten, zwischen Sozialkritik und Marktapologie, zwischen Papst und Präsident. Und gegenüber tut sich die Möglichkeit einer veritablen linkspopulistischen Formation auf, mit Galionsfiguren von der medialen Präsenz eines Pim Fortuyn und Jörg Haider, ein populistischer Gegenpol zum anschwellenden Gesöder in der Union, allerdings ohne – noch jedenfalls – antiisraelisch angestrichenem Antisemitismus, aggressiver Ausländerphobie, wenngleich schon jetzt ausgeprägt antieuropäisch. In diesen Zeiten, in denen der Wähler die politische Klasse durcheinander wirbelt und das Parteiensystem umwälzt, erinnert Schröders „Schluss jetzt, wählen gehen“ an die Krisenfestigkeit in Flut und Krieg. Und verglichen mit den allzu vielen politischen Blechbläsern ohne Partituren wirkt die Kanzlerpolitik wie ein Cantus firmus.

Doch ist da noch was. Zwar hat Franz Müntefering kaum Kapitalismuskritik betrieben, sondern nicht viel mehr als linkspopulistische Unternehmerschelte. Und leise Zweifel bestehen ob der Vereinbarkeit dieser Version des Antikapitalismus mit kritischer Theorie und Kritik der politischen Ökonomie. Aber er hat mehr losgetreten als nur ein Resozialisierungsprojekt für zweifelnd verzweifelte alte Sozialdemokraten. Jenseits des neoliberalen Mainstreams, unterhalb der Schwelle medialer, politischer und wissenschaftlicher Wahrnehmung, in den Tiefenschichten gesellschaftlicher Mentalitäten scheint sich ein massiver Bedarf an Überprüfung des dominierenden neoliberalen Paradigmas, wenn nicht sogar an einem Paradigmenwechsel aufgebaut zu haben. Es könnte sich eine Chance für gesellschaftliche Aufklärung auftun, die weiter reicht und tiefer geht als bis zur Reanimation von etwas Keynes. Eine rationale Kapitalismusanalyse – als Projekt einer Wissensgesellschaft, die über sich Bescheid weiß – könnte nicht nur die Antwort auf das neoliberale Paradigma sein, sondern es sogar ablösen. Sie liefert die Basis für den post-neoliberalen Grundkonsens. Denn dieser Paradigmenwechsel kann an Erfahrungen aller gesellschaftlichen Schichten anknüpfen: Der Kapitalismus hält sein Glücksversprechen nicht. Seit 50 Jahren werden die Menschen im Westen trotz Wachstum und immer mehr Wohlstand nicht glücklicher. Der Kapitalismus ruht nicht, alle gesellschaftlichen Subjekte in bloße Anhängsel, allerhöchstens in Vollzugsorgane globaler konkurrenzgetriebener Kapitalverwertungsprozesse zu verwandeln. Und ob das Kapital nun Reh, Heuschrecke oder gar Raubtier ist – eine gewisse Sprunghaftigkeit und Scheu, ja blinde Gefräßigkeit deckt sich mit empirischen Befunden und alltäglichen Beobachtungen.

Ein realistisches Bild der Lage ist notwendiger denn je

Ein analytisches Kapitalismusverständnis könnte uns allen, der politischen Klasse und selbst gescheiten Unternehmern helfen, den Verblendungszusammenhang des Marktes zu durchbrechen. Eine nüchterne Kapitalismusanalyse feit vor der Utopie des Machertums ebenso wie vor der schwarzen Romantik des Klassenkampfes und neurotischen Globalisierungsängsten. Sie bewahrt davor, ausgerechnet den Spitzenagenten der Kapitalverwertung in den Konzernzentralen moralisierend mangelnden Patriotismus oder Asozialität vorzuwerfen. Ein realistisches Bild der Lage ist notwendiger denn je. Wer den Tiger reitet, sollte wissen, dass er auf einem sitzt. Den Kapitalismus begreifen – statt anprangern, verharmlosen, beschönigen, feiern, leugnen – ist ein notwendige Voraussetzung, um ihn zu fassen zu kriegen und mit ihm auszukommen. Und keine Frage mehr von links oder rechts, sondern von Realismus oder Illusion. Von der neoliberalen Systemtrottelei dagegen geht nicht nur zunehmend Langeweile aus. Ihre apologetische Ideologisierung der Wirklichkeit erschwert pragmatische Politik ebenso wie rationales Wirtschaften. Die Umfragemehrheiten nach Münteferings Heuschreckenattacke zeigen zudem, dass der Bürger nach mehr Wahrheit lechzt als nur nach Aufklärung, ob Regierungen ihre falschen Versprechungen halten. Ihn interessiert mehr als nur einige halben Drehungen an den begrenzten politischen Stellschrauben durch die Sozialingenieure der politischen Klasse. Die Menschen rätseln über die Natur der Gesellschaft, in die sie geworfen sind, sie rätseln, wer eigentlich wohin steuert, sie stellen fundamentale Sinnfragen, suchen ihren festen Ort in einer schlingernden Ordnung.

In den Antworten auf diese Fragen zeichnen sich trotz unendlicher Variationen und vielfältiger Schnittmengen zwei Lager ab. Jenseits der alltäglichen Konflikte um Lohn, Arbeitszeit, Rente und soziale Leistungen spitzt sich die gesellschaftliche Auseinandersetzung auf die Kernfrage zu, wer die Grundrichtung der Vergesellschaftung dominiert: Politik oder Ökonomie? Das ist die aktuelle Form, in der sich alle Interessengegensätze in Gesellschaften bündeln, in denen der unmittelbare Konflikt zwischen Kapital und Arbeit institutionell domestiziert wurde. Primat des Marktes oder Primat der Politik: Dort liegt auch der Kern der politischen Lager. Doch geht es nicht einfach nur um mehr Staat oder mehr Markt. Es geht auch um die Frage, welcher Staat, welche institutionelle Konstruktion überhaupt das politische Regime über die Vergesellschaftung erringen kann, wenn die Ökonomie kapitalistisch organisiert ist. Anstelle der Marktdominanz, dem Regime der Kapitalverwertung, ist die Staatsdominanz nur erträglich, sinnvoll und wünschenswert, wenn es sich um das Regime einer demokratischen Republik handelt, die mit all ihren Institutionen, mit all ihren Rechten und Pflichten die gemeinsamen Anliegen aller Bürger als gleiche Citoyen freisetzt, ihre sozialen Spaltungen dagegen auf das Niveau eines sozialintegrativen Pluralismus zurückdrängt. Deshalb ist die Hauptkampflinie so klar wie unübersichtlich. Denn im Systemkonflikt zwischen Politik und Ökonomie geht es nicht nur darum, welche der konträren Systemlogiken gesellschaftliche Entwicklung und sozialen Wandel prägt: die bewusste, kommunikative, politische, demokratische Entscheidung oder die unsichtbare Hand der blinden Kapitalverwertungslogik. Es geht auch darum, welche der beiden Logiken die Binnenlogik des jeweils anderen Systems überwölbt: demokratische Mitbestimmung das unternehmerische Handeln oder die Verwertungslogik die Staatsaktivität? An dieser Front sortiert sich das Parteiensystem, entscheidet sich die Existenz der politischen Klasse: Löst sie sich in der Kapitallogik auf oder behauptet sie sich mit einer eigenen Logik des Politischen gegenüber den Zwängen der Ökonomie?

Das, bitteschön, ist auch ein Maßstab, an dem die Kanzlerschaft Schröder zu messen ist, jenseits kleinteiliger Beckmesserei über taktische oder handwerkliche Fehler. Schaut man genauer hin, hat der Kanzler nicht nur für gutes und modernes Regieren einige Vorgaben gemacht. Auch für die Linke hält die Schrödersche Regierungskunst einige Überraschungen bereit. Zwar geht dem Kanzler jede Neigung für wolkige gesellschaftliche Entwürfe, für Utopien gar, völlig ab. Zwar setzt Schröder die Reihe prominenter Selbstdiagnostiker fort, die bei Anflug von Visionen zum Arzt gehen. Das allein beruhigt schon. Genauso aber die Absenz jedweder Wachstumseuphorie oder harmonistischer Verklärung des real existierenden Kapitalismus zur sozialen Marktwirtschaft. Weder ist Schröder Gesellschaftsutopist noch Markt- und Wachstumsfetischist, weder Systemkritiker noch Apologet. Stattdessen zurückgenommene Perspektiven: eine soziale Gesellschaft, sozialer Zusammenhalt. Statt ausgeklügelter schöner neuer Welten und Wachstumsutopien realitätstüchtige Anpassung an gesellschaftliche Entwicklungen und die realen Handlungspotenziale von Politik.

Trotzdem kommt die Zukunft in den Blick, allerdings durch empirisch fassbare Megatrends. Globalisierung und demografischer Wandel markieren im strategischen Koordinatensystem des Kanzlers die langfristigen Bedingungen politischen Handelns. Intervention entlang und getragen von Megatrends ersetzt normative und konstruierte Gesellschaftsvisionen. Diese Intervention hat ein Ziel und ein Richtung: Modernisierung und Modernität des Landes als technologische und ökonomische Leistungsfähigkeit. Der Kanzler agiert als Generalvertreter und Generalmanager des Standorts. Doch kann diese Modernisierung nur sozial gerecht geschehen. Es entspricht Schröders Biografie, Chancen-, Leistungs- und Generationengerechtigkeit zu kombinieren und zu variieren. Diese eklektische Gerechtigkeitskonzeption wird in den Formeln „Innovation und Gerechtigkeit“, „fordern und fördern“ und „Die Starken müssen mehr schultern als die Schwachen“ gebündelt. Sie ist aber keine Monstranz, die der Prozession in den roten Morgen voran getragen wird. Sie ist nur eine unumstößliche Bedingung der Modernisierung. Modernisiert werden kann nur, wenn es gerecht zugeht. Daraus ist eine Praxis entstanden, die sich gemessen an durchkonstruierten, hermetischen Gerechtigkeitskonzepten immer blamieren muss. Doch vermeidet diese Praxis jede ideologische Überhöhung der Gerechtigkeitspotenziale kapitalistischer Verhältnisse, die gewiss nicht per se auf mehr Gerechtigkeit drängen. Und sie vermeidet, das Gerechtigkeitsziel idealistisch-utopistisch zu fassen und es damit an den realen Handlungsmöglichkeiten zerschellen zu lassen. Eingebettet ist dieses Verhältnis von Gerechtigkeit und Modernisierung in eine übergreifende Ethik der Modernisierung, eine Variation der Verantwortungsethik. Sie liefert die Orientierung für Abwägungsprozesse in den komplexen ethischen Konfliktlagen, die die globale Standort- und Modernisierungskonkurrenz ständig aufwirft. Dieses Abwägen durchzieht den Umgang mit Biowissenschaften und Medizin ebenso wie den Umgang mit dem expandierenden Markt China und dem Rohstofflieferanten Russland. Im Gegensatz zu früheren Amtsinhabern behelligt Schröder die Öffentlichkeit in aller Regel nicht und in Einzelfällen nur moderat mit aufgeladenen Wertedebatten, die die plurale Gesellschaft eher spalten als integrieren. Und deshalb hat er sich nie zu Blut-Schweiß-und-Tränen-Reden verführen lassen.

Gegen das Kapital kann man nicht regieren

Modernisieren lässt sich andererseits nicht gegen maßgebliche Modernisierungsträger. Man kann zur Not gegen die Gewerkschaften regieren, aber nicht gegen die Medien. Man kann vor allem nicht gegen das Kapital regieren. Modernisieren lässt sich nur mit und nicht gegen die Unternehmer. Die guten Kontakte des Kanzlers ins Unternehmerlager ersetzen ideologische Bekenntnisse zur Marktwirtschaft. Die persönlichen Beziehungen unterfüttern eine nüchterne Akzeptanz der kapitalistischen Ökonomie, die allerdings nicht sich selbst überlassen werden darf. Deshalb hält der Kanzler hartnäckig an der Mitbestimmung der Arbeitnehmer fest. Modernisieren lässt sich, schließlich, nicht ohne gesellschaftlichen, insbesondere wissenschaftlichen Sachverstand. Mit der Entscheidungsvorbereitung durch Räte und Kommissionen hat Schröder eine unverzichtbare Komponente modernen Regierens etabliert. Sie signalisiert einen offeneren Regierungsstil, reagiert auf gesellschaftliche Partizipationsbedürfnisse und macht Probleme ebenso wie Interessen transparenter. Die Regierung kann sich aus der informationellen Abhängigkeit von der Ministerialbürokratie befreien und von den Zwängen bürokratischer Problemwahrnehmung emanzipieren. Und die mediale Aufbereitung der Kommissionsergebnisse hat die kommunikativen Möglichkeiten der Regierung im öffentlichen und parlamentarischen Raum ebenso verbessert wie gegenüber gesellschaftlichen Vetospielern.

Währungsunion, Maastrichtvertrag und Haushaltsprobleme

Die Massenarbeitslosigkeit ist der letztgültige Maßstab, an dem Regierungen gemessen werden, ob sie wollen oder nicht, ob sie schuld sind oder nicht. Von Anfang an hat der Kanzler die Arbeitslosigkeit als das zentrale, aber komplexe Problem gesehen, das nur mit allen verfügbaren Instrumenten und gemeinsam von allen gesellschaftlichen Akteuren angegangen werden kann. Auch hier keine schiefen Bilder und Formeln, die Goebbels auch für Hitlers Autobahnprogramm hätte kreieren können. Allerdings war die politische Kommunikation bis zur Agenda-Rede durch autosuggestive Erfolgsgewissheit und waghalsige Erfolgsversprechungen aufgeladen. Erst seit März 2003 schält sich eine vergleichsweise konsistente, vorwiegend angebotsorientierte Variante des politischen Umgangs mit der Arbeitslosigkeit heraus. Das ist nicht Folge einer Hinwendung zu neoliberalen Ideologien, sondern Folge des Verlusts nationalstaatlicher Steuerungskompetenz durch Währungsunion, Maastrichtvertrag und Haushaltsprobleme. Doch hat der Kanzler versucht, den Maastrichtvertrag vorsichtig zu modifizieren und die internationale Kooperation zu intensivieren, um etwas an ökonomischer Handlungsfähigkeit zurück zu gewinnen. Zudem macht Schaden klug. Desillusioniert durch die Dilemmata der Arbeitsmarktpolitik hat Schröder schließlich auch mit einer Grundtorheit von Regierungen gebrochen. Die neigen dazu, ihre Leistungsfähigkeit und die Rationalität ihres Handelns bedenkenlos bis zur Unglaubwürdigkeit zu überzeichnen. Im Kern des strategischen Ausbruchs aus dieser Selbstdemontage steht die nüchterne Feststellung der Reichweite von Politik, die nicht mehr alles richten, sondern allenfalls vernünftige Rahmenbedingungen setzen kann. Das Machergebaren hat Schröder abgelegt, die eigene Leistungsbilanz wie den Zustand des Standorts beschreibt er selbstbewusst, aber bescheiden. Und er akzentuiert stärker die Metadebatte über die zentrale Frage: Wie macht man Reformen? Als Haupthindernis identifiziert der Kanzler die Trägheit des politischen Überbaus. Dem entspricht ein ideologisch wenig aufgeladenes, geschäftsmäßiges Staatsverständnis. So wenig wie die Marktwirtschaft überhöht Schröder Staat und Demokratie. Aber der Staat muss stark sein.

Dieser Kanzler operiert gewiss nicht auf Basis einer grand strategy, doch sicher strategisch aufgeklärt. In der Politik des Kanzlers lassen sich Strategieelemente identifizieren, die unverzichtbar sind, will die Politik wenigstens partiell ihre Handlungssouveränität gegenüber der kapitalistischen Ökonomie behaupten. Andererseits besteht das strategische Muster in der Kunstfertigkeit, sich dominanten gesellschaftlichen Trends und ökonomischen Zwängen selbst dann nicht frontal und dramatisch entgegenzustellen, wenn sie skeptisch beurteilt werden. Und anstatt sich an scheinbar feste ideologische Positionen, hermetische Weltbilder, dogmatisierte Werthaltungen und fixierte Zielsetzungen zu klammern, die sich dann doch in Luft auflösen, wird auf Chancen spekuliert, werden Gelegenheiten ergriffen. Dieser modus operandi fädelt sich mit realistischen Gestaltungs- und Problemlösungsambitionen in den Mainstream gesellschaftlicher Entwicklung, in Megatrends, in geschichtliche Prozesse ein und schwimmt in ihnen quasi maoistisch wie ein Fisch im Wasser mit. Und er wirft sich ihnen nicht frontal und heroisch alexandrinisch mit einem Hieb durch den gordischen Knoten entgegen. Mobilis in mobilis lautet der Leitspruch von Käpt’n Nemo in der Nautilus. Beweglich im Beweglichen ist die Devise strategisch aufgeklärten Handelns. Es folgt einem modernen, abgerüsteten Strategiebegriff, der die alteuropäische mechanistisch-deduktive und militärisch grundierte Vorstellung von Strategie durch eine weiche, fluide ersetzt. Und strategische Kommunikation als offenes Gespräch, als Lernprozess begreift, dessen Ergebnis nicht der ebenso waghalsige wie wirklichkeitsfremde Masterplan ist, sondern kontrollierter Versuch, zu korrigierender Irrtum – und das in Permanenz.

Der Kanzler des mentalen Umbruchs

Schröder ist der aufgeklärt-abgeklärte Kanzler der Rückkehr des Kapitalismus nach dem Ende der Systemkonkurrenz. Er ist der Kanzler des Pragmatismus einer neuen Zeit, in der sich die alte Erkenntnis wieder Bahn bricht, dass die „soziale Marktwirtschaft“ Produkt des politischen Willens war und dem moralisch diskreditierten Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg aufgezwungen wurde. Er ist der Kanzler der Ernüchterung, des mentalen Umbruchs, der schleichenden Auflösung des parteiübergreifenden, allgemeinen Sozialdemokratismus im Rheinischen Kapitalismus, der unter der Käseglocke des Kalten Krieges die ungebrochene Hoffnung auf stetigen Fortschritt und Wohlstand für alle, selbst für die da unten, genährt hat. Die Kanzlerpraxis zeigt, dass es möglich ist, diese Brüche nach eigenen Regeln – aber eben sozialdemokratisch – zwischen Neoliberalismus und Sozialdemokratie der siebziger Jahre zu bewältigen. Der Neoliberalismus-Vorwurf dagegen zielt krachend ins Nirgendwo. In den strategischen Leitlinien des Bundeskanzlers bricht sich nicht die Apologie kapitalistischer Verhältnisse Bahn, sondern die Einsicht, dass es sich um eben solche handelt! Die Produktivkräfte im Einklang mit pragmatischen Unternehmern und Kapitalfraktionen zu entfalten, dafür staatlicherseits international konkurrenzfähige Produktionsverhältnisse bereitzustellen, um den ökonomischen Prozess zu schmieren, sprengt den theoretischen Rahmen der klassischen Sozialdemokratie gewiss nicht. Noch immer erscheint ein gut funktionierender Kapitalismus für die Arbeiterklasse in jeder Hinsicht ertragreicher als ein schlecht funktionierender. Genau deshalb kann man, ja muss man sogar in einem Atemzug dem Kapital Steuererleichterungen anbieten und bei den Kapitalisten Anstand, gute Sitten, Verantwortung und ökonomische Vernunft anmahnen. Und im Versuch, Gerechtigkeit zu einer Produktivkraft der Modernisierung zu machen, also gewissermaßen zu ihrer eigenen Bedingung, liegt sogar ein Schuss Dialektik. Gleichzeitig erscheint all das mit politischer Ökonomie eher kompatibel als illusionäre Versuche, der kapitalistischen Realität idealistische Gerechtigkeitskonzepte voluntaristisch qua Beschluss aufzuoktroyieren. Der nüchterne Blick auf den Kapitalismus, der in allen politischen Manövern durchschimmert, hat den Antirevi Schröder vor dem Fehltritt in die Falle „linker Politik“ bewahrt. Der Kanzler erweist sich als Kyniker, der zwar wie der Zyniker weiß, wie schlecht es um die Sache bestellt ist, im Gegensatz zu diesem aber, der daraus nur egoistisch Nutzen für sich zu schlagen trachtet, die Situation uneigennützig und auch mittels Spott und Ironie zu bewältigen sucht. Dieser Pfad der Selbstbehauptung des Politischen gegenüber der Dominanz der Kapitallogik kommt der pragmatisch kultivierten Kapitalismusskepsis der Mittelschichten sehr entgegen. Schröder war und ist Kanzler einer Regierung, die Geist und Habitus der neuen Mitte so nahe war, wie keine vor ihr. Und kein Kanzler – und auch kein Außenminister – vorher haben das weltoffene, europäische, kultivierte, das sympathische, das gute Deutschland eben, im Inneren wie nach Außen so angemessen repräsentiert und personifiziert – und das in schwierigen Zeiten. Eine Alternative ist nicht in Sicht.

Deutschland im Durchgangsstadium

Eine der stärksten Leistungen der alten Bundesrepublik war die Transformation des Chaos des Marktes und des Klassenkampfs in regulierte demokratische Prozeduren und republikanische Institutionen: Wahlen und Abstimmungen, Mitbestimmung, Tarifautonomie, Betriebsverfassung, Organisations-, Presse-, Wissenschafts- und Demonstrationsfreiheit und so weiter. Doch stößt uns die globale Kapitaldynamik unnachsichtig darauf, wie historisch begrenzt und fragil dieses Projekt ist. Jetzt droht sie den Rheinischen Kapitalismus aufzusprengen. Deutschland als demokratische Republik ist nicht am Ende seiner Geschichte, sondern in einem dauerhaften Durchgangsstadium. Doch selbst wenn die demokratische Republik sich nicht zum Vollzugsorgan ökonomischer Zwangsgesetze macht, sondern der Ökonomie ihre Regularien und ihren Bedarf an gesellschaftlichem Zusammenhalt oktroyiert, selbst dann bleibt das Verhältnis zwischen Ökonomie und Politik ein konfliktreiches Koexistenzprojekt. Der Stein, den Sisyphus hinaufwuchtet, rollt immer wieder herunter. Man kann es ihm aber leichter machen. Die Regierungspraxis Schröders hat sowohl die Schwächen von Rot-Grün als auch der politischen Institutionen und des Staatsaufbaus sichtbar werden lassen. Um wirklich erfolgreich als konstruktiv-kooperativer Gegenspieler und Regulator blinder ökonomischer Dynamik aufzutreten, fehlte Rot-Grün letztlich die soziale und schließlich politische Basis. Und selbst eine Regierung mit stärkerem gesellschaftlichem Fundament täte sich in den anachronistischen staatlichen Überbaustrukturen des Rheinischen Kapitalismus von Föderalismus bis arbeitsbasiertem Sozialstaat schwer. Die Entrümpelung der paternalistisch-bürokratischen Sozialsysteme bismarck-hitlerscher Provenienz, der deutschen Kleinstaaterei und des semifeudalen, vordemokratischen Beamtenapparats ist Aufgabe der gesamten politischen Klasse, will sie sich gegenüber dem globalen Kapital behaupten. Mit steuerbasierten allgemeinen sozialen Sicherungssystemen für alle, dem demokratisch-republikanischen Angestellten im öffentlichen Dienst und der eindeutigen Aufgabentrennung zwischen den föderalen Ebenen ist der Transformationspfad längst vorgezeichnet. Und gerade wenn es für alle besonders schwer wird, müssen alle wissen, dass sie mitwirken können. Deshalb bedarf die bewährte repräsentative Demokratie der Komplettierung durch das Recht der Bürger, selbst Entscheidungen herbeizuführen. Das Demokratie-Wagen der siebziger Jahre ist – im Gegensatz zur Sozialstaatsillusion – so zeitgemäß wie eh und je.

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