Kann Demokratie liquide sein?



Als die Piratenpartei vor gut einem Jahr mit neun Prozent der Stimmen in das Berliner Abgeordnetenhaus einzog, ließ sich das Ergebnis noch mit der speziellen Situation der Berliner Politik erklären: Es handelte sich um einen Stadtstaat mit rot-roter Landesregierung und einer schwächelnden Opposition. Spätestens seit den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, im Saarland und in Schleswig-Holstein ist diese Erklärung hinfällig. Vielmehr besteht die Möglichkeit, dass sich vor unseren Augen eine neue Partei etabliert – trotz aller Anfangsschwierigkeiten der Piraten.

Eltern von internetfixierten Jugendlichen streiten sich permanent über den Internetkonsum ihrer Sprösslinge. Mein Sohn hat seine gesamte Schulzeit ab Klasse 8 mit Facebook, Youtube, Playstation und iPhones verbracht – ein Schicksal, dass er mit vielen anderen in seiner Generation teilt. Er wird bei seiner ersten Bundestagswahl im September 2013 die Piraten wählen. Dennoch wartet die Welt nicht darauf, von Computerfreaks regiert zu werden. Es ist nicht die Affinität zur Jugend und die Allgegenwart des Internets, die die Piraten langfristig zu einer wirksamen politischen Kraft werden lassen. Sondern die Piraten könnten in der demokratischen Politik ein neues attraktives Paradigma etablieren, das ähnlich wie die Grünen vor dreißig Jahren das Parteienspektrum dauerhaft weiter aufspaltet. Dieses Paradigma könnte man mit „open access“ beschreiben: Es geht um den unmittelbaren und kostenfreien Zugang zu Infrastruktur und Dienstleistungen.

Zwei Trends sind entscheidend: Erstens sind die Piraten die einzige Partei, die auf dem Gebiet demokratischer Teilhabe ernsthaft mit Innovationen experimentiert. Liquid-Feedback-Verfahren, also die elektronische Übertragung von Stimmen auf Delegierte, lösen zwar nicht das Problem widersprüchlicher Präferenzen. (Wer möchte nicht billig nach Portugal fliegen und gleichzeitig die Umwelt schützen?) Aber sie können die Interessen und Anliegen von Mitgliedern und Bürgern unmittelbar an politische Repräsentanten übermitteln und neue Formen von Accountability oder Rechenschaftspflichten etablieren.

Angesichts der zunehmenden Entfremdung zwischen Bürgern und Regierenden, die derzeit recht amateurhaft mit Hilfe von „Dialogprozessen“ überbrückt werden, wäre eine institutionalisierte internetbasierte Form der Beteiligung eine neue Art von verpflichtender Konsultation. Bislang nutzt die Kanzlerin Facebook nur, um ihre Politik in Sprechblasen zu verkaufen und dafür „Gefällt mir“-Stimmen einzuheimsen. Diese Form der internetbasierten Kommunikation ist ohne weiteren politischen Nährwert und lediglich eine Anbiederung an die Wähler. Anders wäre es, wenn es auch individualisierte Abstimmungen über bestimmte Sachverhalte geben würde. Parteitagsanträge könnten den Mitgliedern im Vorfeld zur Abstimmung gegeben werden. Bürgernahe Themen könnten im Internet systematisch auf politikrelevante Entscheidungsalternativen überprüft werden. Auch ist Liquid Feedback eine ernstzunehmende Möglichkeit, um das europäische Demokratiedefizit zu beheben.

Zweitens stehen die Piraten prinzipiell für einen ungehinderten Zugang zu Infrastruktur, und zwar über das Internet hinaus. Bildung, Kinderbetreuung, öffentlicher Nahverkehr und das bedingungslose Grundeinkommen – das alles gehört nach dem Willen der Piraten in die öffentliche Domäne und sollte frei zugänglich sein. Der Staat stellt die grundlegende Infrastruktur zur Verfügung, auf deren Grundlage alle ihres Glückes Schmied sein können. Diese Kombination aus umfassender staatlicher Daseinsvorsorge und liberaler Ausgestaltung von Leistung und Gegenleistung ist ein radikal neuer Umgang mit den Ressourcen unseres Gemeinwesens. Und sie liegt im Trend der Zeit, weil der Staat aufgrund der Fiskalkrise in den kommenden Jahren gezwungen sein wird, sein Leistungsangebot neu zu definieren. Die derzeitige Leerstelle eines sozialliberalen Ansatzes, die die Grünen aufgrund ihrer (mentalen) Überalterung wie auch ihres dominanten linken Flügels nicht konsequent ausfüllen, scheint wie geschaffen für eine neue Partei.

Wie schon vor dreißig Jahren bei der Gründung der Grünen wiegen sich viele Repräsentanten der etablierten Parteien angesichts des amateurhaften Auftritts der Piraten in Sicherheit. Doch diese Sicherheit trügt. Mein Sohn wird die Piraten wählen – wenn auch aus anderen Gründen.


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