Kampf um die Heimat des Kurzschwanzalbatros

Wegen chinesisch-japanischen Grenzkonflikten um acht unbewohnte Felsbrocken im Ostchinesischen Meer verliert Asien seine regionale Integration aus den Augen. Dabei hätten die Konfliktparteien allen Grund zum Schulterschluss

S elbst anspruchslose elektronische Ballerspiele verfügen über eine erstaunlich breit gefächerte Themenvielfalt. Man spielt gern Szenarien aus dem Zweiten Weltkrieg und andere historische Schlachten nach, kämpft gegen blutrünstige Außerirdische, feuerspeiende Monster oder Nazi-Zombies. Seit Monaten erfreut sich bei den chinesischen Fans eine Erweiterung des Spiels „Gu angróng shimìng“ großer Beliebtheit: Wer zur militärischen Mission am Bildschirm ausrückt, kann an einer Eroberung der Diàoyú-Inseln teilnehmen und dabei fiese japanische Besatzer zum Teufel jagen. Zur Freude der chinesischen Volksarmee, die als Ideengeberin an der Entwicklung „nationaler Qualitätsmilitärspiele“ mitwirkt. Guangróng shimìng heißt übrigens „glorreiche Mission“.

Was als Spielplattform den doppelten Zweck erfüllt, nationalistische Ressentiments zu bedienen und den Spaß am Abknallen virtueller Gegner zu befriedigen, ist in der Realität ein armseliges Fleckchen Erde, um das seit Jahrzehnten aus schwer nachvollziehbaren Gründen gestritten wird. Als Ziel einer Eroberungsmission ist es denkbar unattraktiv: Diàoyú besteht aus fünf unbewohnten Inseln und drei gerade so begehbaren Felsen. Insgesamt ist die weitgehend ungenutzte Inselgruppe, die 350 Seemeilen vor der Küste Chinas liegt, nicht mehr als sieben Quadratkilometer groß. Der Haken an der Sache: Sie gehört nach einigermaßen gesicherter internationaler Rechtsauffassung Japan, und – schließt man sich dieser Meinung an – heißt auch gar nicht Diàoyú, sondern Senkaku.

Drohgebärden auf beiden Seiten

Ein nachvollziehbares Interesse an der Inselgruppe hat lediglich der Kurzschwanzalbatros (Phoebastria albatrus), dessen bedrohte Art nur dort und in der näheren Umgebung brütet. Sein Anspruch ist der einzige, der als unangefochten gelten kann, aber das hindert weder Chinesen noch Japaner daran, sich als rechtmäßige Eigentümer von Diàoyú beziehungsweise Senkaku aufzuführen. Immer wieder kommt es zu Drohgebärden auf beiden Seiten: Im Jahr 2010 wurden chinesische Fischtrawler von der japanischen Marine aufgebracht und die Besatzungen erst nach Wochen in die Heimat entlassen. 2012 charterten ultranationalistische Splittergruppen aus Japan eine Yacht, um auf einer der Inseln eine Flagge in den Fels zu rammen. Im Jahr darauf verhängte China eine Luftverteidigungszone über dem Archipel.

Scharf geschossen wird einstweilen nicht

Dies ist nicht der einzige territoriale Konfliktherd in Asien. Näher betrachtet unterhält China mit fast allen seiner Nachbarn lokale Grenzdispute, die in der Vergangenheit bereits zu heftigeren militärischen Auseinandersetzungen geführt haben. Chinas letztes größeres Grenzabenteuer ist knapp zwanzig Jahre her, damals wurde Meijì jiao besetzt, ein Riff, von dem die Philippinen und ebenso Vietnam überzeugt waren, dass es ihnen gehörte. In den siebziger und achtziger Jahren wurde bei solchen Auseinandersetzungen noch scharf geschossen, seit Ende der neunziger Jahre ist relative Ruhe eingekehrt – zumindest im Südchinesischen Meer und zumindest vorerst. Unter chinesischen Nationalisten kursiert eine Liste von Eroberungskriegen, die sie in den nächsten 50 Jahren gern führen würden, um die territorialen Ansprüche Chinas in der Region zu zementieren – mit Indien, der Mongolei und Russland wären auch die größeren Nachbarn unmittelbar von der geplanten chinesischen Expansion bedroht. Die „Rückgewinnung“ der Senkaku- und der benachbarten japanischen Ryukyu-Inseln (inklusive Okinawa) soll nach diesem Plan bis 2045 abgeschlossen sein.

In Japan gilt seit den siebziger Jahren die Doktrin, sich Senkaku einfach zu „ersitzen“, also sich anzueignen, indem man sich selbst für den Eigentümer hält und Widerspruch gegen diese Auffassung nicht zur Kenntnis nimmt. Bislang hatte die Methode einen gewissen Charme: Man schwieg einfach und ignorierte geflissentlich, als China 1992 ein Gesetz erließ, das die Inseln zum chinesischen Staatsgebiet erklärte. Unbeirrt verließ sich Japan darauf, dass die Inseln durch die stillschweigende Ausübung von Kontrolle über das Gebiet nicht nur de facto, sondern irgendwann auch de jure zu Japan gehören würden. In der Zwischenzeit wurde die Illusion aufrechterhalten, dass Japans Ansprüche nicht nur legitim, sondern legal sind. Im Jahr 1895 als unbesiedelt und herrenlos annektiert, waren die Inseln ab 1900 teilweise in Privatbesitz und wurden in bescheidenem Umfang wirtschaftlich genutzt. 2012 kaufte der japanische Staat drei der fünf brachliegenden Inseln für zwei Milliarden Yen von den Erben der Inseleigner, die ihre winzige Fabrik (unter anderem zur Verarbeitung von Federn des Kurzschwanzalbatros) bereits 1940 stillgelegt hatten.

Auch wenn die Senkaku-Inseln in legalistischer Betrachtung vielleicht tatsächlich zu Japan gehören, strapaziert die japanische Regierung die Geduld ihrer Nachbarn weit über das erträgliche Maß hinaus. Besonders in China, aber auch in Korea herrscht wenig Sympathie mit einem Land, dessen Ministerpräsident jedes Jahr aufs Neue im Yasukuni-Schrein von Tokio für Kriegsverbrecher betet und dadurch stets einen diplomatischen Sturm der Entrüstung lostritt. Auf postkoloniale Gebietsgewinne beharrt Japan nicht nur gegenüber China, das im Vertrag von Shimonoseki 1895 erhebliche Zugeständnisse machen musste. Japan liegt ebenso mit Korea im Streit um den Status der Insel Takeshima. Auch über die Kurilen konnte mit der Sowjetunion und ihrem Rechtsnachfolger Russland bis heute keine Einigung erzielt werden.

Der Kauf der Senkaku-Inseln durch die japanische Staatsregierung sollte eigentlich Schlimmeres verhindern, so die offizielle Version: Der damalige Gouverneur von Tokio und Nationalist Ishihara Shintaro sollte eigentlich an einer Übernahme der symbolträchtigen Felsbrockensammlung gehindert werden, um den Konflikt mit China zu schlichten. Stattdessen verschärfte Japan mit dem Kauf die Spannungen zwischen den beiden Nationen. China reagierte mit der Verkündung einer Luftverteidigungszone, die auch für die Diàoyú-Inseln gelten soll. Seither eskaliert der Konflikt regelmäßig, wenn auch nur mit kleineren Scharmützeln, weil Japan es aufgegeben hat, den Disput einfach totzuschweigen, und es stattdessen mit dem Kopf durch die Wand versucht.

Panische Angst vor dem eigenen Volk

Wer nach Erklärungen für die ungelösten Grenzkonflikte in Asien sucht, stößt auf drei Theorien, die immer wieder bemüht werden. Erstens würden materielle Bedürfnisse und der Wunsch nach Versorgungssicherheit im Energiesektor China zur territorialen Expansion treiben. Der implizite Vorwurf, bei den Nachbarn Rohstoffklau zu verüben, ist nicht ganz abwegig. Die Chunxiao-Erdgasfelder, die China innerhalb seiner 200-Meilen-Zone ausbeutet, sind mit japanischen Vorkommen verbunden, die China wie mit einem Strohhalm leersaugen könnte.

Zweitens sei China gezwungen, nationalistische Tendenzen in der eigenen Bevölkerung zu bedienen, um der Opposition nicht das Feld zu überlassen. Seit dem Aufstand auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ ist die chinesische Regierung von panischer Angst vor dem eigenen Volk getrieben. Deshalb versucht sie, die tiefe Abneigung vieler Chinesen gegen die Japaner zu instrumentalisieren, bevor sie von Populisten aufgegriffen und gegen das Regime verwendet wird. Ein Teil dieser Wahrheit ist allerdings auch, dass es innerhalb der chinesischen Führung schon immer antijapanische Falken gegeben hat.

Kleine Felsen, große Konsequenzen

Zudem ließen sich, drittens, Grenzkonflikte eher vermeiden, wenn zwischen den konkurrierenden Parteien asymmetrische Machtverhältnisse bestünden: So ist es für China deutlich leichter, mit kleineren Ländern wie den Philippinen über umstrittene Gebiete wie das Spratly-Atoll zu verhandeln, wenn gleichzeitig Entwicklungshilfe in erheblichem Umfang zugesichert wird. Bei gleich starken Partnern sind solche Kompromisse deutlich schwerer auszuhandeln.

Und hier liegt auch das Problem im Konflikt um die Diàoyú- beziehungsweise Senkaku-Inseln begraben: Japan und China waren in ihrer bisherigen Geschichte nie gleichrangige Spieler auf dem geopolitischen Feld, aber heute sind sie es. Wer in dieser Situation stärker an die eigene Überlegenheit glaubt, könnte sich zu unüberlegten Handlungen hinreißen lassen. Beide Länder sind auf dem besten Weg, in ein klassisches Sicherheitsdilemma zu schlittern, dessen Mechanismen denen des Kalten Kriegs nicht unähnlich sind. Mit fortschreitender Militarisierung – wobei Chinas Militärausgaben mittlerweile viermal so hoch sind wie die von Japan – steigt die Furcht voreinander und die Aggressivität im Umgang miteinander.

Dies wirkt sich auch auf multilaterale Abkommen und Gipfeltreffen aus, von denen es in Asien mittlerweile einige gibt (zum Beispiel ASEAN plus Drei oder die Regional Comprehensive Economic Partnership). Japan und China nutzen diese vornehmlich dazu, ihre eigene Vormachtstellung zu behaupten. Barack Obama rief die beiden Länder 2012 auf dem Ostasiengipfel deshalb zur Mäßigung auf, nachdem die Auseinandersetzungen über den Status von Diàoyú beziehungsweise Senkaku jedwede Einigung in anderen Bereichen blockiert hatte. Beim APEC-Gipfel im November 2014 in Peking sahen einige Kommentatoren dann plötzlich den Durchbruch: Die Regierungschefs beider Länder reichten sich die Hand – eine Geste, die als möglicher Vorbote direkter Gespräche gewertet wurde. Noch bemerkenswerter ist aber, dass Japans Außenminister erstmals eingeräumt hat, die Frage des Eigentums der Inselgruppe sei möglicherweise umstritten.

Dies sind winzige Fortschritte, wenn überhaupt. Von einer weitergehenden Einigung über territoriale Fragen oder gar einer Zusammenarbeit bei der Gestaltung der gemeinsamen Einflusssphäre kann noch keine Rede sein. Dabei wäre ein Schulterschluss der beiden stärksten Wirtschaftsmächte im asiatischen Raum dringend geboten, um die regionale Integration voranzutreiben. Gründe dafür gibt es mehr als genug, nicht nur im Interesse der bei schwachem Wachstum langsam erlahmenden Volkswirtschaften. Derzeit liegt der Fokus jedoch auf bilateralen Verhandlungen, zum Beispiel über ein Freihandelsabkommen zwischen China und Südkorea, das für eine gewisse Unruhe sorgt, weil es einen deutlichen Richtungswechsel der Regierung in Seoul markiert, die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern zu intensivieren.

Wo sich Europa nützlich machen könnte

Letztlich geht es für China auch darum, sich gegenüber den Vereinigten Staaten zu behaupten. Durch militärische Abkommen mit Japan, den Philippinen, Australien und Vietnam konnten die USA ihren strategischen Einfluss in der Region verstetigen. Gleichzeitig hat Washington die geopolitische Bedeutung von Freihandelsabkommen erkannt: Das transatlantische Abkommen TTIP stellt auch ein Bollwerk gegen den Vormarsch Asiens unter der Führung von China und Indien dar. Das Pendant zu TTIP, die Transpazifische Partnerschaft (TPP), wird daher von so manchem Mitglied der chinesischen Führung, aber auch in oppositionellen Kreisen anderer Länder als bloßes Instrument angesehen, mit dem die Vereinigten Staaten versuchen, den Integrationsprozess innerhalb Asiens zu unterlaufen und ihre Einflusssphäre auf Kosten der übrigen Pazifik-Anrainer auszudehnen.

Japan muss sich endlich bewegen: Dem tiefgreifenden Misstrauen in vielen asiatischen Ländern kann es nur begegnen, wenn es sich seiner unbewältigten Schuld und der Verantwortung für die Verbrechen im Zweiten Weltkrieg stellt. Die aktuelle politische Führung Japans dürfte dazu jedoch kaum etwas beitragen. Zwar sind die Beziehungen zwischen den asiatischen Ländern auf wirtschaftlicher Ebene weitgehend intakt – auch zwischen Japan und China –, aber es ist unsicher, ob die rein ökonomische Verflechtung ausreichend vor einem drohenden militärischen Konflikt schützt. Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass auch Deutschland und Großbritannien vor dem Ersten Weltkrieg wirtschaftlich eng miteinander verwoben waren – das hat sie jedoch nicht davon abgehalten, gegeneinander Krieg zu führen.

Die frischgebackene EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini könnte, wenn sie denn wollte, in den asiatischen Grenzkonflikten als Vermittlerin auftreten. Weil Europa – anders als die Amerikaner – keine eigenen sicherheitspolitischen Interessen in der Region hat, ist eine solche Rolle durchaus denkbar. Einen Versuch, bei der Klärung der Grenzen in Ostasien behilflich zu sein, ist es allemal wert. Ausschließliche Wirtschaftszonen im Radius von 200-Seemeilen, ursprünglich eine europäische Erfindung, haben bisher eigentlich überall gut funktioniert. Außer im Chinesischen Meer.

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