Justin Trudeau Superstar?

Nach seinem überraschenden Wahlsieg gilt Kanadas junger Premierminister vielen Progressiven als neuer Hoffnungsträger. Was macht Justin Trudeau richtig? Und was könnten Europas Parteien der linken Mitte von seinen Liberalen lernen?

Mehr als ein halbes Jahr ist seit der kanadischen Unterhauswahl am 19. Oktober 2015 vergangen, und der neue Premierminister Justin Trudeau und seine Liberal Party sonnen sich noch immer in ihrem Erfolg. In den Umfragen stehen die Liberalen bei 42 Prozent, und sie liegen in jeder einzelnen Wählergruppe vorn – bei Männern und Frauen, Jungen und Alten, bei Akademikern und Niedrigqualifizierten. Bevor die Regierung am 21. März ein Haushaltsdefizit von 29 Milliarden Dollar verkündete, lagen die Umfragewerte sogar bei fast 50 Prozent. Kein Wunder, dass Progressive auf der ganzen Welt plötzlich von der kanadischen Politik fasziniert sind: Warum ist Justin Trudeau nur so erfolgreich?

Ein Grund ist sicher, dass der neue Premierminister jung ist, gut aussieht und Pandas liebt (wer tut das nicht?). Als er anderthalb Jahre vor der Wahl Parteivorsitzender wurde, folgte eine Welle der Begeisterung. Allerdings nahm die Unterstützung im Vorfeld der Wahlen beständig ab. Deshalb gilt: Die Person Justin Trudeau ist ein wichtiger, aber nicht der einzige Faktor für den Höhenflug der kanadischen Liberalen.

So enttäuschend es für Europäer auch sein mag: Zu einem großen Teil geht der Wahlsieg darauf zurück, dass der konservative Amtsinhaber Stephen Harper extrem unpopulär war. In seiner fast zehnjährigen Amtszeit hatte Harper Kanada merklich nach rechts verschoben. Dabei setzte seine konservative Regierung nicht nur inhaltliche Akzente, sie veränderte auch die Regeln der demokratischen Auseinandersetzung. Beispielsweise schaffte sie die unabhängige Wahlbeobachtung ab, zentralisierte mehr Macht beim Premierminister und schaffte einen verpflichtenden Zensus ab, was eine faktenbasierte Gesetzgebung erschwerte. Sogar konservative Journalisten und Beobachter empfahlen, andere Parteien als die Konservativen zu wählen.

Vor diesem Hintergrund waren die ersten Wochen des Wahlkampfs 2015 von einer „Alles außer Harper“-Stimmung geprägt. Davon profitierte sowohl die Liberal Party als auch die weiter links stehende New Democratic Party (NDP). Die NDP lag in den Umfragen sogar eine Zeit lang vorn, was Experten darüber spekulieren ließ, ob ein Parlament mit unklaren Mehrheitsverhältnissen drohe. Erst acht Tage vor dem Wahltag überholten die Liberalen schließlich die NDP.

Offenheit, Fortschritt, Vielfalt

Aber der wichtigste Grund dafür, dass die Liberal Party bis heute so populär ist, besteht darin, dass sie den Wandel verkörpert. Als einzige Partei kündigte sie im Wahlkampf ein (kleines) Haushaltsdefizit an, um massiv in die Infrastruktur des Landes investieren zu können. Zugleich vermied sie abstrakte Diskussionen über den Kampf gegen Ungleichheit. Stattdessen stand auf Trudeaus Agenda ein kohärenter wirtschaftspolitischer Plan, der auf soziale Gerechtigkeit und Wirtschaftswachstum zielte. Ein weiteres Thema der liberalen Kampagne war die Reform der Demokratie. Nach dem Wahlsieg ernannte Trudeau einen neuen „Minister für demokratische Institutionen“ und versprach, noch vor den nächsten Unterhauswahlen das Wahlsystem zu ändern.

Hinzu kommt, dass Trudeau für einen neuen Politikstil steht. Er erneuert Kanadas Image als offene, progressive und pluralistische Gesellschaft, das unter Stephen Harper sehr gelitten hatte. In einer Welt, die zunehmend von einer populistischen Anti-Einwanderungsrhetorik dominiert wird, verweist Justin Trudeau unbeirrt auf die Vorzüge einer vielfältigen Gesellschaft. Wiederholt hat er sich selbst als „Feminist“ bezeichnet und die Hoffnung geäußert, dass eine solche Äußerung eines Tages mit Achselzucken aufgenommen werden wird. Zu seinem Politikstil gehört zudem eine neue Offenheit gegenüber den Medien. Exemplarisch dafür sind die regelmäßigen Fragestunden mit Bürgern, die im Livestream übertragen werden (so genannte Global Town Halls). Progressive europäische Politiker sollten sich dieses Konzept genau ansehen.

Eine weitere interessante Entwicklung besteht darin, dass die Liberalen den Sinn und Zweck von Parteien infrage stellen. Bereits vor zwei Jahren hatte die Liberal Party eine neue Kategorie „Unterstützer“ eingeführt. Nun wurde die traditionelle Mitgliedschaft mit Monatsbeiträgen und Parteibuch abgeschafft. Diese Entscheidung ist vielfach kritisiert worden; Integrität und Struktur der Partei seien in Gefahr. Ein Beobachter schrieb: „Es ist so, als würde deine Partei in eine gigantische Facebook-Seite verwandelt: Drücke auf ‚Like‘ und Du gehörst dem Club an.“

Eine Partei erfindet sich neu

Aber genau das ist ja der Punkt! Für Colin Horgan, einen ehemaligen Redenschreiber von Justin Trudeau, ist Facebook „buchstäblich eine Schatzkiste für politische Parteien“. Jede Art von Information sei sofort verfügbar – und das umsonst. Parteien könnten ihre Unterstützer viel einfacher als früher kontaktieren. Und natürlich gehe es den Liberalen auch darum, die Generation der „Millennials“ für sich zu gewinnen. Die Präsidentin der Liberalen Anna Gainey äußerte die Hoffnung, dass sich ihre Partei zu einer „Bewegung“ entwickle.

Die Liberal Party hat erkannt, dass die Gesellschaft sich verändert hat: dass die Menschen über das Internet stärker miteinander verbunden sind als jemals zuvor, dass Beziehungen untereinander weniger hierarchisch sind und dass Netzwerke auch online existieren. Einige der jüngeren Parteien in Europa haben ebenfalls mit loseren Mitgliederstrukturen und weniger hierarchischer Partizipation experimentiert. Beispielsweise organisiert sich die spanische Podemos in Basisgruppen, so genannten Zirkeln, und die italienische Fünf-Sterne-Bewegung arbeitet nach den Prinzipien von Liquid Democracy. Hingegen dürfte die britische Labour Party nach ihrem Fiasko des vergangenen Jahres zurückhaltend sein. Labour hatte die Urwahl des Parteivorsitzenden für „Unterstützer“ geöffnet. Daraus hervorgegangen ist ein polarisierender Parteichef: Viele Mitglieder lieben ihn, aber in der britischen Öffentlichkeit ist Jeremy Corbyn sehr unpopulär. Aber es wäre falsch zu glauben, dass der Prozess der Urwahl dafür verantwortlich ist.

Der Ansatz der kanadischen Liberalen ähnelt ohnehin eher demjenigen von Emmanuel Macron: Der junge französische Wirtschaftsminister gründete jüngst seine Bewegung „En Marche!“. Unabhängig von traditionellen Parteistrukturen versucht er „rechts“ und „links“ mithilfe einer optimistischen Zukunftsvision zu vereinen. Bereits in den ersten drei Tagen nach der Gründung hatten 24 000 Menschen den „Like“-Button der Facebook-Seite gedrückt, und 14 500 folgten der Bewegung auf Twitter. Es muss sich erst noch zeigen, ob Bürger auf diese Weise zu einem längerfristigen Engagement bewegt werden können – oder zumindest bis zur französischen Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr.

Fazit: Der Erfolg der Liberal Party Kanadas hat viele Ursachen. Er hat zu tun mit der Vision einer offenen und pluralen Gesellschaft, der konkreten wirtschafts- und sozialpolitischen Agenda ebenso wie mit der Frage, welchen Sinn und Zweck Parteien im 21. Jahrhundert haben. Die Parteien der linken Mitte Europas täten gut daran, sich mit den Strategien und Erfahrungen der Liberal Party Kanadas intensiv auseinanderzusetzen.

Aus dem Englischen von Michael Miebach

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