Jetzt müssen alle viel mehr tun!

Der Ernstfall ist da. Die Radikalisierung der AfD schreitet voran. Bis in bürgerliche Milieus hinein erweist sich die deutsche Gesellschaft als anfällig für völkische Ressentiments und nationalistische Hassparolen. Nun müssen endlich alle am selben Strang ziehen, die Demokratie und freiheitliche Ordnung verteidigen wollen

Große Aufregung am 23. September 1970 im Deutschen Bundestag. Bundesfinanzminister Alex Möller, „Genosse Generaldirektor“ genannt, hatte während der Haushaltsdebatte wütend in Richtung CDU und CSU erklärt: „Die, die diese beiden Weltkriege und die darauffolgende Inflation zu verantworten haben, stehen Ihnen geistig näher als der SPD.“ Bild schrieb daraufhin, Möller habe 15 Millionen Deutsche beleidigt.

Während ich über einen Beitrag für die Berliner Republik nachdachte, ging mir der „Aufreger“ des Jahres 1970 durch den Kopf. Möllers Worte werfen ein Licht auf die politischen Verhältnisse der siebziger Jahre, die pure Feindschaft und Hass einschlossen. Damals gipfelte der Hass in der von Rechtsradikalen gegrölten Parole: „Brandt an die Wand!“ Heute fordern Rechtsradikale, die Bundeskanzlerin durchs Land und aus dem Land zu jagen sowie den VizeKanzler aufzuknüpfen. Damals war der Hass Teil der politischen Verhältnisse. Fast fünfzig Jahre später sind solche Parolen ein Kulturbruch, weil sich die Bundesrepublik in der Zwischenzeit zivilisiert hat.

Die AfD schöpft ihre Strahlkraft auch aus dem Wissen, dass es Hass und pure Feindschaft wieder gibt. Sie erzeugt sich ihre Nachfrage fortlaufend selbst. Dabei sind es nicht mehr die alten Herren der NPD und der DVU, in deren speziellem Kulturverständnis Hitlers Lieblings-Blechmusik – der Badenweiler Marsch – dominierte, die die Säle füllen. Es sind jüngere, ehrbaren bürgerlichen Milieus entstammende Gesichter: Lehrerinnen und Lehrer, Beamte, Anwälte, Professoren und Polizisten. Die Bunte schenkte dem Führungs-Paar der AfD, Frauke Petry (Chemikerin) und Markus Pretzell (Anwalt), kürzlich eine Weichspüler-Story, die man mit Geld nicht hätte bezahlen können. Das macht den Kulturbruch umso schlimmer.

Die Leichtigkeit, mit welcher im Umkreis der AfD das Wort Volksverräter geschrien wird, erschreckt. Es ist eine Kreation deutschnationaler Reaktionäre, die Hitler Steigbügelhalter-Dienste leisteten und dessen Eroberungen wie Vernichtungsaktionen willig mittrugen. Der rechte Rand applaudiert. Die in bürgerliche Milieus eingedrungene AfD fühlt sich beflügelt. Alexander Gauland, Björn Höcke und andere wird man nicht mit dieser Parole auf den Lippen erwischen. Aber ihr Verständnis bekunden sie schon, wenn es um den Kampf für Nation und Herkunft geht. Sie signalisieren: Wir haben begriffen! Wir sind an eurer Seite! Daher irrt, wer glaubt, man müsse mit den Repräsentanten der AfD nur ausreichend lange und auf Augenhöhe reden, dann würden sie schon wieder „vernünftig“ werden. Diese Vorstellung ist naiv.

Die AfD propagiert sich hoch professionell. Machen wir uns da nichts vor: Jeder Talkshow-Auftritt von AfD-Spitzenleuten widert die einen an. Aber anderen gibt er zugleich Gewissheit: An uns kommen die „da oben“ und die „Lügenpresse“ nicht mehr vorbei. Mit dieser Ambivalenz kann die AfD gut leben.

Die AfD bedient Emotionen, sie skandalisiert politische Verhältnisse und radikalisiert sich. Zugleich gibt sie sich treuherzig bürgerlich, wie die beiden Spitzenleute in der Bunten. Die Partei hat Schaffell und Wolfspelz stets in Griffnähe.

Der völkische Flügel drängt nach vorn

Die AfD hat ein Überwindungsspiel begonnen – wie das Mühlespiel. Sie ist dabei, drei Steine ihres Spiels so auf eine Linie zu bringen, dass sie ihre Position nach Belieben öffnen und wieder schließen kann. Jedes Mal läuft der Kontrahent Gefahr, dass seine Position geschwächt wird. So versucht die AfD, die politische Konkurrenz zu strategischen Änderungen ihrer Politik zu zwingen.

Gleichzeitig löst der „Aufstieg“ der AfD im rechten Spektrum Mechanismen aus. Da völkische und nationalistische Strömungen dem Politikbetrieb der repräsentativen Demokratie mit ihrer ausgleichenden Gesetzgebung grundsätzlich misstrauen, radikalisieren sie sich. So wie sich Frau Petry und ihr Anhang durch die Radikalisierung der AfD von den Luckes und den Henkels „befreit“ haben, werden sich die völkisch-fremdenfeindlichen Teile der AfD, die von einem homogenen Deutschland träumen und auf „Aktion“ eingestellt sind, von den Petrys „befreien“ wollen, wenn diese nicht in ihrem Sinne spuren. Jetzt hat sich in der AfD ein Kreis zusammengeschlossen, der sich „der Flügel“ nennt. Die Süddeutsche Zeitung berichtete, in Niederbayern forderten „Flügel“-Schläger, den Bau und den Betrieb von Moscheen grundsätzlich zu verbieten.

Hetzer wittern Morgenluft

Dazu passt, dass Parteien wie die AfD einen Sog auf andere ausüben, die seit langem im rechten Polit-Mischmasch zu finden sind, aber den „Kompromisslern“ in Parteien bislang misstrauten: Aktionisten, Hetzer und deren „Vordenker“ und Stichwortgeber in den so genannten Think Tanks der rechten Szene. Sie wittern Morgenluft, wollen dabei sein, weil sie Einflussmöglichkeiten erblicken – und weil sie Karrieremöglichkeiten in den parlamentarischen Stäben der AfD sehen. Seit Jahren berichten Beobachter und kritische Medien – von der Otto-Brenner- und der Friedrich-Ebert-Stiftung bis hin zu Panorama und Spiegel TV – über einen Kranz von Verlagen, Stiftungen und Agenturen, die der repräsentativen Demokratie ablehnend bis feindlich gegenüberstehen. Jetzt erhalten sie eine praktisch-politische Perspektive. Mediengesellschaften wie die unsrige bieten solchen Entwicklungen immer wieder eine Bühne: Innerparteiliche Arrangements, Radikalisierungsschübe und Spaltungen sind der Stoff, aus dem Schlagzeilen gemacht werden.

Gleichzeitig bedient die AfD Sehnsüchte nach starken Figuren. Nichts ist entlarvender als die Parole „Putin, hilf uns!“. Mittlerweile ist nicht mehr zu bestreiten, dass Putins Entourage in Europa Rechtsradikale finanziert. Kein Thema – weder für die AfD noch für Putin-Versteher wie etwa die NachdenkSeiten.

Diese neue Partei bedient zudem Ressentiments, die aus dem beständig mühsamer werdenden politischen Prozess in einer repräsentativen Demokratie resultieren: Denen „da oben“ müsse endlich mal gezeigt werden, wo es langgeht, denn die „da oben“ kümmerten sich eh nur um sich selbst. Aus allen möglichen Ecken ist zu vernehmen, es handele sich dabei um eine Art „Kommunikationsstörung“. Das glaube ich nicht. Wer nach über tausend Rohheitsdelikten, Brandstiftungen und Beleidigungen, verübt an Flüchtlingen und ihren Helfern, immer noch glaubt, da gebe es eine „Kommunikationsstörung“, der täuscht sich gewaltig.

Politische Bildung ganz neu denken

In den kommenden Jahren muss sich unser Land neu und möglichst breit mit politischer Bildung befassen. Millionen Beschäftigte haben Anspruch auf Bildungsurlaub! Hunderttausende Schülerinnen und Schüler reisen Jahr für Jahr für eine Woche oder länger in europäische Städte, um dort Kultur zu schnuppern! Warum wird diese Zeit nicht auch „investiert“, um für unsere Demokratie, für ihre Institutionen und mühsamen Abläufe, für Beteiligung und Mitsprache zu werben? Wir benötigen neue Formen für diejenigen, die Vorbildliches für andere leisten. Es ist doch kein Naturgesetz, dass Abermillionen Til Schweigers Tatort-Prügelorgien verfolgen, aber Lea Ackermanns grandiose Arbeit für SOLWODI (Solidarity with Women in Distress) unbeachtet bleibt. Die Vorrangstellung von Gewalt und gewaltförmiger Konfliktlösung in der Öffentlichkeit muss weg. Oder ist es bereits zu spät, um Menschlichkeit etwas Faszinierendes zu geben?

So schwierig es sein mag: Wachrütteln ist jetzt notwendig. Aufstehen, Präsenz zeigen, und zwar mit anderen zusammen. Woran es mangelt, ist das deutliche und vermehrte Engagement der Gewerkschaften, deren unüberhörbare Stimme – und auch die der Arbeitgeberverbände. Die durchaus wirkmächtigen elektronischen Medien, die Verbände der Autoren und der Lehrerschaft, der Schauspieler, der Erzieher, der Rechtsanwälte und der Ärzteschaft – sie alle könnten mehr tun. Jugendverbände und lokale Initiativen müssen unterstützt werden. Die demokratischen Parteien alleine können das nicht leisten. Heute ist es möglich, dass sich über die Ländergrenzen hinweg viele Menschen binnen kürzester Zeit vernetzen, sich gegenseitig auf Initiativen aufmerksam machen, zum Mitmachen auffordern, sich finden, absprechen und gegenseitig stärken. Nutzen wir endlich unsere Möglichkeiten!

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