Jetzt kommt es dicke

"Es ist zu früh, das zu beurteilen", antwortete Chinas Premierminister Zhou Enlai, als er in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts nach der historischen Bedeutung der Französischen Revolution gefragt wurde.

„Es ist zu früh, das zu beurteilen“, antwortete Chinas Premierminister Zhou Enlai, als er in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts nach der historischen Bedeutung der Französischen Revolution gefragt wurde. Diese weise Einsicht muss natürlich erst recht im Hinblick auf die Umbrüche in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik gelten, die sich gegenwärtig vollziehen: Entwicklungen wie die globalen Finanzkrisen, wie die Existenzkrise des Euro und der Europäischen Union, wie der Kollaps ganzer Volkswirtschaften in Europa, wie die überall wachsende Verbitterung über ungerechtfertigte Ungleichheit und den dysfunktionalen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts insgesamt.
Weitere aktuelle Zeichen der Unrast und Diskontinuität sind vielfach zu finden: etwa die dramatische „Arabellion“ im Nahen Osten und in Nordafrika; die wahrhaft beängstigend gestiegene Jugendarbeitslosigkeit in vielen Ländern Europas – fast 50 Prozent bereits in Spanien und Griechenland; der kometenhafte Aufstieg der Occupy-Bewegung; oder auch, hier in Deutschland, der unerwartete Erfolg der Piratenpartei. Niemand kann derzeit schon sagen, was alle diese – und etliche weitere – Phänomene zu bedeuten haben, wie sie miteinander zusammenhängen, wohin sie führen werden, welche Wechselwirkungen und Kettenreaktionen sie noch hervorrufen – und wie das alles endet. Einiges aber spricht dafür, dass wir derzeit tatsächlich am Beginn einer aus vielen Quellen zugleich gespeisten globalen Zeitenwende stehen. „There’s something happening here“, schrieb der amerikanische Autor Thomas Friedman jüngst mit Blick auf die Occupy-Bewegung. „The
people are fed up. You’re watching the birth of a massive worldwide movement. Things are going to happen“, ist sich wiederum der Filmemacher Michael Moore sicher. Kurz, die Dinge geraten ins Rutschen. Dass wir in Zeiten umfassender und langfristiger Veränderungen leben, ist ja ohnehin längst offensichtlich: Die Globalisierung,
die Digitalisierung, der Klimawandel, das lange (und vielfach infantil verleugnete) Ende des fossilen Zeitalters, das Schrumpfen und Altern der Gesellschaft hier bei uns in Europa, das Wachstum der Bevölkerung überall sonst – alle diese langfristigen Trends vollziehen sich mit urwüchsiger Macht. Aber es sind eben langfristige, schleichend verlaufende Trends: Alles ändert sich, wir wissen es, aber das Leben geht so weiter wie bisher – das ungefähr war das paradoxe Lebensgefühl vieler Menschen in den vergangenen Jahren. Aber das ist vorbei. Überall breitet sich in diesen Wochen der Eindruck aus, dass sich die Phänomene des Wandels zu einer kritischen
Masse verdichten, dass nun also gleichsam Quantität in Qualität umschlägt. Oder anders gesagt: Dass es jetzt dicke kommt. Im Schwerpunkt dieser Ausgabe machen wir uns deshalb auf die Suche nach den Ursachen und Auswirkungen dieses neuen Grundgefühls. Wir haben renommierte Autorinnen und Autoren gebeten, die Umbruchsituation aus ihrer jeweiligen Perspektive zu beschreiben und zu deuten. Dabei versteht sich von selbst, dass es nach Lage der Dinge jetzt nicht darum gehen kann, das große Ganze der Dinge zu erfassen; in diesem Sinn bleibt Zhou Enlai’sche Demut allemal angebracht. Klar ist aber auch:Wir Progressiven müssen so scharf wie nur irgend möglich erfassen, was in diesen Zeiten gerade passiert. Sonst werden wir keinen Einfluss darauf haben, wie es weitergeht. In eigener Sache noch dies: Im kommenden Jahr müssen wir den Preis der Berliner Republik maßvoll erhöhen. Wir bitten um Verständnis: Es geht leider nicht anders.

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