Jeder stirbt für sich allein

Patientenverfügungen können das Sterben nicht von Verzweiflung und Ohnmacht befreien. Aber sie können den Wünschen todkranker Menschen Stimme und Gewicht verleihen. Was Abgeordnete bei ihrer Entscheidung zur Sache bedenken sollten

Wir alle müssen sterben. Niemand von uns weiß, wie das geht. Denn jeder stirbt für sich allein. Der Tod ist die individuellste und unteilbarste Sache überhaupt. Ernst Bloch meinte deshalb, neunzigjährig, er sei nun nur noch neugierig auf das Sterben, denn das sei die einzige Erfahrung, die er noch nicht gemacht habe.

Nicht ob, aber wie und wann wir sterben, ist immer häufiger von medizinischen Entscheidungen abhängig. Auch wenn keine Hoffnung auf Heilung mehr besteht, kann das Leben oft noch sehr lang erhalten werden, länger, als vielen Patienten lieb ist. Solange ein Patient bei Bewusstsein und urteilsfähig ist, kann er autonom über seine medizinische Behandlung entscheiden; insbesondere darf er, verfassungsrechtlich verbürgt durch das Recht auf körperliche Unversehrtheit, seinen Tod durch den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen beschleunigen. Er hat insoweit das Recht auf einen selbstbestimmten Tod. Und dieses Recht gilt auch und gerade dann, wenn Ärzte oder Angehörige diese Entscheidung für falsch und unvernünftig halten.

Kompliziert wird es, wenn keine aktuelle Entscheidung vom Patienten zu bekommen ist, etwa weil er demenzkrank ist oder im Wachkoma liegt. Wie weit reicht das Selbstbestimmungsrecht des Patienten dann noch? Kann er vorher – solange er noch entscheidungsfähig ist – bestimmen, was Pfleger und Ärzte tun und lassen sollen? Wie weit kann er sich selbst und andere binden? Darum geht es im Kern, wenn der Bundestag demnächst über die Verbindlichkeit und Reichweite von Patientenverfügungen entscheidet. Es wird auch Zeit. Während in den Vereinigten Staaten vor mehr als einem Vierteljahrhundert begonnen wurde, medizinische Entscheidungen am und über das Lebensende gesetzlich zu regeln, hat sich die deutsche Politik so lange wie möglich davor gedrückt, Position zu beziehen.

In den letzten Jahren haben Öffentlichkeit und Expertenkommissionen das Thema Patientenverfügungen von allen Seiten beleuchtet. Die Argumente sind ausgetauscht. Die Fülle von Positionen und Perspektiven und die emotionale Aufgeladenheit der Diskussion schüchtert viele Parlamentarier ein. Gar nichts zu tun und auf die Ärztefunktionäre zu vertrauen, die eine rechtliche Regelung der Patientenverfügungen für überflüssig halten, könnte am Ende für die Mehrheit ein bequemer Ausweg sein.

Quälende rechtliche Unsicherheit

Doch das wäre falsch. Denn wenn es um medizinische Entscheidungen über Leben und Tod geht, herrscht in Deutschland eine quälende rechtliche Unsicherheit. Mehrere Juristentage, verschiedene Gutachten für das Bundesjustiz- und Bundesgesundheitsministerium und der Bundesgerichtshof haben den Gesetzgeber deshalb aufgefordert, endlich klare Regeln für Patientenverfügungen zu schaffen.

Leider steht schon jetzt fest: Das wird allenfalls unvollständig passieren. Patientenverfügungen lassen sich nämlich nicht trennen vom Thema Sterbehilfe. Und genauso dringend wie eine Regelung über Patientenverfügungen brauchen wir eine gesetzliche Klarstellung der unsicheren strafrechtlichen Grenzen der Sterbehilfe. Denn Patientenverfügungen können, da ist man sich einig, nichts verlangen, was strafrechtlich verboten ist.

Wo liegt das Problem? Mit Hilfe der Gerichte hat sich über die Jahre ein brüchiger Konsens gebildet. Etwas verkürzt dargestellt: Die passive Sterbehilfe (Verzicht auf oder Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen) und die indirekte Sterbehilfe (Schmerzbekämpfung, deren lebensverkürzende Wirkung in Kauf genommen wird) sind zulässig, aktive Sterbehilfe ist als Tötung auf Verlangen strafbar.

Doch in Grenzbereichen herrscht Verwirrung. Aus zahlreichen Untersuchungen weiß man, dass Mediziner und selbst Juristen oft nicht wissen, was erlaubt ist und was nicht. Vieles, was die Rechtsprechung für rechtmäßig erklärt hat, halten sie für verboten, etwa das Abstellen eines Beatmungsgeräts oder die Einstellung künstlicher Ernährung auf Wunsch des Patienten. Sogar der Bundesgerichtshof seufzte 2005, die strafrechtlichen Grenzen der passiven Sterbehilfe seien „bislang nicht hinreichend geklärt“.

Wenn aber selbst die Gerichte unsicher sind, wie sollen dann Ärzte, Patienten und Angehörige verantwortlich entscheiden können? Wegen der (fast immer unbegründeten) Angst vor rechtlichen Konsequenzen werden in ungezählten Fällen Patienten weiterbehandelt, obwohl sie dies ausdrücklich in einer Patientenverfügung abgelehnt haben.

Der historische Schatten des Massenmordes

Ein Gesetz über Patientenverfügungen ohne klare Grenzen der Sterbehilfe würde nur einen Teil der Unsicherheit beseitigen. Doch keiner der vorliegenden drei Gesetzesentwürfe traut sich an dieses Thema heran. Denn wer in Deutschland ausdrücklich regeln will, wann die Mitwirkung am Tod eines Menschen zulässig ist, sieht sich alsbald böswilligen Verdächtigungen ausgesetzt, er wolle den Lebensschutz aufweichen, der aktiven Sterbehilfe den Weg bereiten oder die Alten und Kranken zum „sozialverträglichen Frühableben“ drängen. Der historische Schatten des Massenmordes an kranken und behinderten Menschen während des Nationalsozialismus verdunkelt bis heute jede Diskussion über Sterbehilfe selbst dort, wo es um mehr Respekt für die Würde und Selbstbestimmung von Patienten geht.

Trotz der absehbaren Unzulänglichkeit jeder Regelung über Patientenverfügungen ist es wichtig, wie der Bundestag sich entscheidet. Denn davon hängt ab, ob die geschätzten zwei bis acht Millionen Patientenverfügungen in Deutschland das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben stehen, und ob deren Verfasser zu Recht darauf vertrauen, dass ihr darin formulierter Wille im Ernstfall zählt.

Wie sollte der Bundestag entscheiden? Eine linke, eine sozialdemokratische Haltung zu Patientenverfügungen sollte auf folgenden Grundsätzen aufbauen: Erstens darf das Leben eines Kranken niemals gegen dessen Willen beendet werden; zweitens darf genauso wenig ein entscheidungsfähiger Mensch gegen seinen Willen durch medizinische Zwangsbehandlung zum Leben gezwungen werden; drittens muss die Selbstbestimmung des Patienten – nicht der wohlmeinende Paternalismus von Angehörigen und Ärzten – Leitbild jeder gesetzlichen Regelung sein.

Am Ende des Dialogs steht eine Entscheidung

Ob ich mein Leben durch den Verzicht auf medizinische Behandlung verkürze, gehört zur existenziell-individuellen Selbstbestimmung. Wie ich entscheide, darf kein Angehöriger, kein Arzt und keine rechtlich festgeschriebene Mehrheitsmoral vorschreiben. Aus Freiheits- wie aus Lebensschutzgründen darf der Gesetzgeber allenfalls sicherstellen, dass ich bei der Entscheidung alle Sinne beisammen habe und weiß, was ich tue.

Wer diesen Freiheitsanspruch konsequent verteidigt, wird gern als „Hardcore-Autonomist“ (FAZ) beschimpft. Dem wird vorgeworfen, er verkenne den „sozialen Charakter“ des Sterbens und gaukele Selbstbestimmung vor, wo es nur um Solidarität und Vertrauen gehen könne. Und an Michel Foucault geschulte Linke sehen in Patientenverfügungen ohnehin nur einen Selbstbestimmungsplacebo, der die Patienten dem medizin-industriellen Komplex gefügig machen und sie durch subtilen gesellschaftlichen Druck dazu bringen soll, bei Bedarf in ihren zügigen Tod einzuwilligen.

Richtig an solcher Kritik ist: Die Realbedingungen der Patientenautonomie dürfen nicht außer Acht gelassen werden, wenn es um die Entscheidung über Leben und Tod geht – gerade um der Sicherung „echter“ Selbstbestimmung willen. Niemand sollte angesichts der Ökonomisierung des Gesundheitswesens und der Auflösung familiärer und sozialer Bindekräfte die Gefahr von Missverständnissen und Missbrauch unterschätzen.

Jede gesetzliche Regelung muss deshalb entsprechende Sicherungen einbauen. Und sie muss eine Kultur des Dialogs über „letzte Fragen“ fördern, die Fürsorge und Patientenautonomie zusammenbindet. Am Ende jedes Dialogs steht jedoch immer eine Entscheidung. In einer freiheitlichen Gesellschaft kann die Erstzuständigkeit für diese Entscheidung nur beim Patienten liegen.

Eine Patientenverfügung soll darüber Auskunft geben, welche medizinische Behandlung ein Patient wünscht, der seine Entscheidungsunfähigkeit verloren hat. Können Patientenverfügungen diesem Anspruch gerecht werden? Vorab und in Unkenntnis der späteren Befindlichkeit über die Umstände des eigenen Todes zu bestimmen, ist keine einfache Sache. Viele Patientenverfügungen sind vage formuliert und passen nicht auf die spätere Entscheidungssituation. Manchmal gewinnt man den Eindruck, die Verfasser waren sich nicht im Klaren darüber, was sie wollten oder was sie verfügten. Solche Patientenverfügungen nützen wenig, können aber viel Schaden anrichten, wenn man sie zu einem verbindlichen Akt der Selbstbestimmung aufbläst.

Was steht in den Gesetzentwürfen?

Diese Schwierigkeiten dürfen aber nicht den Blick darauf verstellen, dass eine sorgfältig verfasste Patientenverfügung einen klaren Rahmen für medizinische Maßnahmen setzen kann. Patientenverfügungen sind Ausdruck unvollkommener Selbstbestimmung – aber sie werden oft die bestmögliche Gewährleistung der Patientenautonomie sein. Voraussetzung dafür ist eine vernünftige rechtliche Regelung, die die Selbstbestimmung von Patienten ernst nimmt. Trifft das auf die drei vorliegenden Gesetzentwürfe zu?

Mit Abstand am restriktivsten ist der von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach (CDU) und René Röspel (SPD) initiierte Entwurf: Ein Verzicht auf lebenserhaltende Behandlung mittels Patientenverfügung soll nur bei unumkehrbar tödlichen Krankheitsverläufen oder dauerhafter Bewusstlosigkeit zulässig sein. Nicht erlaubt ist der Verzicht auf „Basisversorgung“, insbesondere nicht der „völlige Entzug von Nahrung und Wasser“, selbst wenn die Patientenverfügung das verlangt. Ob ein Patient tatsächlich auf lebenserhaltende Behandlung verzichten will, berät ein (unter anderem) aus behandelndem Arzt, Betreuer und Angehörigen bestehendes Konzil. Durch solche und andere Beschränkungen lässt der Entwurf viele Hintertüren offen, einer Patientenverfügung letztlich nicht zu folgen.

Gut gemeint, schlecht gemacht

Der Vorschlag von Bosbach und Röspel mag gut gemeint sein, aber er ist schlecht gemacht, und leider ist er auch gefährlich. Der Entwurf fällt weit hinter den derzeitigen Rechtszustand zurück und kann seinen harten Paternalismus nur mühsam kaschieren. Vielen selbstbestimmten Entscheidungen gegen eine lebenserhaltende medizinische Behandlung soll pauschal die Geltung abgesprochen werden. Betroffen wären zum Beispiel Verfügungen von Zeugen Jehovas, die Bluttransfusionen ablehnen oder der Wunsch vieler alter Menschen, nach einem Herz- oder Atemstillstand nicht wiederbelebt zu werden, weil sie lieber sterben möchten, als mit schweren Hirnschäden noch eine Zeitlang vor sich hin zu vegetieren.

Fände der Entwurf eine Mehrheit, würde damit für Patienten die Pflicht eingeführt, sich gegen ihren erklärten Willen zwangsbehandeln lassen zu müssen. Wenn René Röspel in einem Interview erklärt, er könne sich „nicht damit abfinden, dass jemand stirbt, der nicht sterben muss“, wird auch deutlich warum: Die diskreditierten Patientenverfügungen werden als moralisch unakzeptabler und deshalb rechtlich auszugrenzender Wunsch nach Beihilfe zum Selbstmord angesehen.

Gefährlich ist der Entwurf noch aus einem weiteren Grund: Weil Patientenverfügungen nur für bestimmte Krankheitsstadien erlaubt sein sollen, könnte der Eindruck entstehen, der Gesetzgeber halte einen Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen in den rechtlich zulässigen Fällen für verständlich, vernünftig und wünschenswert – das könnte eine fatale suggestive Wirkung auf Patienten zur Folge haben, die zwar nicht bezweckt, aber offenbar in Kauf genommen wird.

Wesentlich liberaler gestrickt ist der so genannte „Stünker-Entwurf“, der auf den rechtspolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Joachim Stünker zurückgeht. Der Entwurf enthält keine Reichweitenbegrenzung und lässt damit der Patientenautonomie unabhängig von Art und Stadium einer Krankheit breiten Raum. Verlangt wird lediglich die Schriftlichkeit der Patientenverfügung (die jederzeit mündlich widerrufen werden kann). Gerichtliche Kontrolle ist nur vorgeschrieben, wenn Betreuer und Arzt uneins über die Anwendung einer Patientenverfügung sind. Der Entwurf ist kurz, klar und konsequent – mit der Folge, dass er manchen kalt und technokratisch vorkommt. Viele teilen zwar den liberalen Ausgangspunkt des Entwurfs, wünschen sich aber einen rechtlichen Notausgang, um für unvernünftig gehaltene Patientenverfügungen nicht in die Tat umsetzen zu müssen.

Der Stünker-Entwurf verdient Unterstützung

Einen mittleren Weg zu gehen versucht schließlich der Entwurf der Abgeordneten Wolfgang Zöllner (CSU) und Hans Georg Faust (CDU). Er sieht wie der Stünker-Entwurf eine sehr schlanke gesetzliche Regelung vor und verzichtet ebenfalls auf eine Reichweitenbegrenzung. Problematisch ist der Vorschlag, weil er auch mündliche Patientenverfügungen akzeptieren will, aber keine klaren Kriterien an die Hand gibt, mit denen verbindlich Gemeintes von unverbindlich Dahergesagtem unterschieden werden könnte. Da es nicht einmal einen Vorrang schriftlicher Patientenverfügungen vor anderen Willensäußerungen gibt, bleibt ein sehr großer Interpretationsspielraum bei der Feststellung des „wirklichen“ Patientenwillens, weshalb viele der gegenwärtigen Unsicherheiten fortbestehen würden.

Fazit: Der Stünker-Entwurf verdient Unterstützung. Für welchen der Entwürfe sich der Bundestag am Ende entscheidet und ob überhaupt ein Gesetz zustande kommt, ist ungewiss. Der Stünker-Entwurf hat nur dann eine Chance, wenn die SPD-Fraktion mehr oder weniger geschlossen für ihn stimmt.

Viele Schrecken umgeben das Sterben

Von Norbert Elias stammt der noch immer gültige Ausspruch: „Es gibt in der Tat viele Schrecken, die das Sterben umgeben. Was Menschen tun können, um Menschen ein leichtes und friedliches Sterben zu ermöglichen, bleibt noch herauszufinden.“ Klare Regeln für Patientenverfügungen können nur einer von vielen notwendigen Schritten sein, auf diesem Weg voranzukommen. Genauso wichtig, wenn nicht wichtiger, sind Verbesserungen bei der pflegerischen und palliativmedizinischen Versorgung sterbenskranker Patienten, die Unterstützung der Hospizbewegung sowie ein Rechtsanspruch auf „Pflegezeit“ zur Begleitung sterbender Angehöriger – um nur einige Beispiele zu nennen.

Vielleicht werden Patientenverfügungen nicht halten können, was sich viele Menschen von ihnen versprechen. Sie können das Sterben nicht von Verzweiflung und Ohnmacht befreien. Aber sie können im besten Fall den Wünschen von Patienten Stimme und Gewicht verleihen, wenn diese selbst dazu nicht mehr in der Lage sind, und damit die verbreitete Furcht vor einem langen, qualvollen und fremdbestimmten Sterben mildern. Das ist viel, und das sollten sich die Abgeordneten vor Augen führen, wenn sie über den zukünftigen Status von Patientenverfügungen entscheiden.

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