Je besser, desto schlechter

Alles wird immer schlimmer: Ökoprodukte sind krebserregend, Fische giftig, Rinder wahnsinnig. Das Parlament ist eine Schwatzbude - und die Zukunft auch nicht mehr, wie sie war. Was ist eigentlich aus der Idee des gesellschaftlichen Fortschritts geworden?

Vielleicht heißt Deutschlands Herr Mustermann ja Kurt Wallander. Das ist der Kommissar in den Kriminalromanen des schwedischen Bestsellerautors Henning Mankell. Wallander arbeitet zu viel, isst zu oft fettiges Fast-Food-Zeugs, wird davon krank, ist geschieden, hat eine erwachsene Tochter, träumt davon, noch einmal ganz neu anzufangen, hat meist schlechte Laune und nörgelt an seinen Kollegen und Vorgesetzten herum. Kurt Wallander ist - vielleicht liegt das auch an der ausgesprochen ungemütlichen Witterung in Mankells Schweden - der verdrossenste Endvierziger, der sich vorstellen lässt. "Was hat sich nur in diesem Land verändert! Was ist bloß aus Schweden geworden!" - so denkt es ein ums andere Mal in dem unglücklichen Helden, während er sich wieder einen Kaffee holt und es draußen anfängt zu regnen.


Schweden, Deutschland. Nicht nur der Gruß des Kaufmanns ist die Klage. Alle klagen. Irgendwie ist es nicht mehr so, wie es sein sollte. Früher war es wohl besser. Und von der Zukunft erwarten wir nichts. Kein Fortschritt, nirgends.


Wir wissen, dass die Belastungen des Einzelnen in unserer Gesellschaft immer nur steigen und steigen. Und wenn sie sinken, fühlen wir sie dennoch weiter steigen. Das ist doch der Trend, wer wollte sich von Ausnahmen täuschen lassen? Als die Steuersenkung der Schröder-Regierung beschlossene Sache war, wurden die Bürger von der Demoskopie befragt, was sie für sich persönlich erwarten: Ent- oder Belastung? Die Mehrheit sagte: "Wir werden mehr zahlen müssen."
Niedrigere Steuern, gesenkte Rentenbeiträge, höheres Kindergeld: Jede Gabe von Staats wegen gilt als - vielleicht besonders raffinierte - Zumutung oder als lachhafte Kleinigkeit. Wir haben gelernt, denen, die Großes versprechen, ob sie es halten oder nicht, vorsichtshalber gar nicht erst zu glauben. Wir sind doch nicht blöd! Bleibt mehr Geld im Portemonnaie, dann haben wir es selbst verdient - wird′s weniger, dann war′s die Politik.


Alles wird schlimmer: Ökoprodukte sind krebserregend, Fische giftig, Rinder wahnsinnig, Schweine voller Antibiotika, die Batterie-Hühner neurotisch, Asbest und Formaldehyd verderben die Büroatmosphäre, Kohlendioxid und Ozon die Biosphäre. Auch die Politik ist längst nicht mehr, was sie mal war. Das sieht man schon im schwatzenden Parlament: "Die wenigsten sitzen auf ihren Plätzen, der eine liest, der andere schreibt Briefe. Es ist ein stetes Kommen und Gehen. Der Lärm der Unterhaltung wird oft so laut, daß der Präsident mit der Glocke mahnend um Ruhe bitten muss." Dabei wird das politische Personal schlechter und schlechter: "Geistreiche Form, wohlgesetzte ... Rede wird von Jahr zu Jahr ... seltener." Beide Zitate stammen aus einem Artikel über den Reichstag in Spemann′s Illustrierter Zeitschrift für das deutsche Haus von 1893. Mit dieser kostbaren Enttäuschung wurde in Deutschland schon immer über Parlament und Demokraten hergezogen.

Es gab einmal einen Optimismus

Selbst international haben wir längst die Fahne eingeholt, weil wir doch so viel schlechter beim Wirtschaftswachstum sind als die Zwerge Irland und Portugal, weil die 15-jährigen Schulkinder in Finnland so viel klüger ausschauen, weil wir beim europäischen Vergleichssingen so trostlos dastehen. Was hat sich nur in diesem Land verändert? Warum sehen wir nichts mehr besser werden? Haben wir die Idee des gesellschaftlichen Fortschritts klammheimlich verabschiedet? Wird alles ständig anders und nichts mehr besser? Was heißt schon besser? Was heißt schon Fortschritt?


Es gab einmal einen Optimismus, der Liberalen und Sozialisten gemeinsam war: der Glaube, dass der quasi naturgesetzlich sich entwickelnde technisch-industrielle Fortschritt den sozialen Fortschritt antreibe und bedinge - wenn der Staat sich raushält, sagten die Liberalen, wenn der Staat das regelt, sagten die Sozialisten im 19. Jahrhundert. Mit der Entzauberung des industriellen Heilsversprechens, mit Atomgefahr, Treibhauseffekt, Verkehrsinfarkt und Mülllawine, mit dem wachsenden Bewusstsein von der Endlichkeit der meisten Wachstumsressourcen zerbrach vor drei Jahrzehnten auch die Leitidee eines Zusammenhangs von technischem und sozialem Fortschritt. Fortschritt kam nicht mehr von selbst, man musste ihn wollen. Johano Strasser und Klaus Traube haben auf dem Höhepunkt der Industrialismuskritik ihr ökosozialistisches Programmbuch Die Zukunft des Fortschritts genannt. Der linke Fortschrittswille brauchte eine neue, diesmal ökologische, Begründung.

Schöne neue Autos? Aber das Klima!

Über einem SPD-Parteitag prangte später der Slogan: "Zukunft kommt von selbst - Fortschritt nur mit uns". Aber was immer da kam, der Fortschrittsglaube ging. Was bleibt, ist die andere Marxsche Prophetie: die Verelendungstheorie. Alles wird immer schwerer und treibt auf den Zusammenbruch zu. Kaum ein Gut des täglichen Bedarfs taugt noch als Fortschrittsindikator. Schöne neue Autos? Aber die Klimakatastrophe. Die raffinierte Öko-Waschmaschine? Schleudert trotzdem Giftreste ins Abwasser. Die Urlaubsreise ins Paradies? Zerstört autochthone Gesellschaften, denen wir nicht unseren Lebensstil aufdrücken dürfen. An Technik und Konsum werden wir uns nie wieder unbefangen freuen. Selbst wenn wir die Folgen und Nebenfolgen unseres ungerechterweise angenehmen Lebens gar nicht selbst abschätzen können - wir vermuten eigentlich immer, dass, was gut und schön ist oder Spaß macht, auch schadet.


"Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geliehen." Solche Weisheiten stimulieren nicht gerade ein fröhliches "Uns geht es gut, und das ist auch gut so." Wir wissen sehr wohl, daß wir asketischer leben sollten. Da werden wir jetzt den Teufel tun und mit Wohlleben protzen! Das schlechte Gewissen soll sich was schämen - uns geht′s doch schon schlecht.


Gegen diese miese Stimmung haben heute junge Leute, denen demonstrative gute Laune zu allen Zeiten wichtig war, schwer anzufeiern. Die Bemühungen, bevor der Ernst des Lebens beginnt, das Spaßkonto ausreichend aufzufüllen, von Raab-Comedy bis Loveparade, mutet manchmal geradezu verzweifelt an. Selten zuvor hat sich eine Jugend so sehr selbst als jung, als anti-erwachsen stilisiert. Jung sein ist gegenwärtig auch deshalb so schwierig, weil die Erwachsenen alle denkbaren sozialen und politischen Rollen und alle Generationserfahrungen besetzt halten. Gleichzeitig gibt es immer weniger Kinder und junge Leute, stattdessen immer mehr Mittelalte und Alte, die selbst immer weniger Kinder haben. Und je länger das Leben dauert, desto größer wird die Angst vor dem Tod. Der Urimpuls jeder Fortschrittsidee: dass die Kinder es einmal besser haben sollen als man selbst, verschwindet in dem Maße aus unserer Gesellschaft, in dem die Kinder verschwinden.

Schöner leben, besser nörgeln

Doch Hand aufs Herz: Muss es einer Gesellschaft, die dabei ist, sich selbst abzuschaffen, eigentlich immer besser gehen? Na also! Stellt sich die Fortschrittsfrage überhaupt noch? Es geht ja auch anders: Schöner leben und besser nörgeln. Dem Alles-wird-schlechter-Habitus liegen mächtige geistige Strömungen zugrunde. Erstens ist das der ganz realistische Kulturpessimismus aus unseren deutschen Erfahrungen der historischen Rückfälle und Irrwege, sei es 1848, sei es der Wahnsinn des Ersten Weltkrieges, die Nazi-Barbarei, der Stacheldrahtkommunismus. Zweitens, die in den siebziger und achtziger Jahren gelernte Angst vor den großen Katastrophen, vor berstenden Atomkraftwerken, vor kippenden Ökosystemen, vor einem aus den Bahnen geratenen nuklearen Gleichgewicht des Schreckens. Drittens, der Prozess der Individualisierung, das heißt der zunehmenden Übernahme von Verantwortung für die eigene Biografie - einschließlich der wachsenden Chance selbst verschuldeten Scheiterns. Viertens, damit verbunden, die Flexibilisierung aller Lebensumstände und die Bedrohung jeder Sicherheit durch eskalierendes Flexibilismus-Geschwätz. Und fünftens schließlich, der Relativismus als Ideologie der Postmoderne, in der Werturteile beliebig werden, bedeutungslos; die Relativismuspolizei wacht darüber, dass Kategorien wie "besser" und "schlechter" im Kerker des Kulturimperialismus eingesperrt bleiben.


Und dennoch gibt es Maßstäbe für den gesellschaftlichen Fortschritt, es gibt normative Orientierungen: Freiheit von materieller Not und Unterdrückung; dauerhaft gesicherte Lebensbedingungen und Perspektiven für die Kinder; soziale Mobilität und Gerechtigkeit; wachsende Möglichkeiten des kulturellen Ausdrucks; die Qualität des heutigen Lebens, die angenehmer ist als "früher" oder "anderswo"; ein langes Leben.


Niemals zuvor hatten wir in Deutschland so lange Frieden, so lange Demokratie, so viele Freunde in der Welt, eine so lange Periode wachsenden Wohlstands, so viele Einfamilienhäuser, so viele Neuwagen, so viele Millionäre, so lange Urlaub, so umfassende Sozialleistungen - und eine so große Chance, das alles zu erhalten und weiter zu verbessern. Geht es uns zu gut?

Ohne Phantasie im Meer des Wohlstands

Mädchen und Jungen, die heute geboren werden, haben eine Lebenserwartung von 80 Jahren vor sich. Das ist eine gewaltige Spanne. Sie sollte dem Streben nach dem Glück eines guten Lebens und der Sorge für andere gewidmet sein. Auch wenn das heute und in Zukunft so viel schwerer sein mag als etwa 1948, als die Amerikaner Vernon Walters und Averell Harriman - lange vor ihren außenpolitischen Karrieren - durch Deutschland reisten. Walters schreibt in seinen Memoiren: "Wir besuchten 1948 eine deutsche Familie in den Resten eines ausgebombten Hauses. Sie lebten in dem einzigen noch bewohnbaren Teil des Hauses, nämlich im Keller. Als wir an die Oberfläche zurückkehrten, fragte ich, ob ich jemals im Leben eine wiederaufgebaute deutsche Stadt kennenlernen würde. Harriman entgegnete: ‚Das werden Sie, und zwar schon sehr bald.‘ Er fragte mich, ob ich gesehen hätte, was die deutsche Familie in ihrem Keller auf dem Tisch gehabt hatte: ‚Eine Schale mit Blumen‘, erwiderte ich. Da sagte Harriman in sehr feierlichem Ton: ‚Menschen, die inmitten eines solchen Meeres der Zerstörung Blumen pflücken und auf den Tisch stellen können, sind auch in der Lage, alles andere wieder aufzubauen.‘"


Sollten wir heute in einem Meer des Wohlstandes zu phantasielos geworden sein, uns eine bessere Zukunft vorzustellen? Was wäre dann bloß aus diesem Land geworden! Henning Mankells melancholische Wallander-Krimis übrigens verkaufen sich in keinem Land der Welt so gut wie in Deutschland.

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