"Ja, sind wir denn hier im Osten?"

Parteireform ganz praktisch

In einem der großen SPD-Bezirke Berlins lädt der Kreisvorsitzende die Ortsvereinsvorsitzenden ein. Auf feinem Briefpapier mit dem Briefkopf "Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin." Dabei geht es, so das Anschreiben, "im Wesentlichen um das Verfahren zur Aufstellung von Bundestagskandidaten." Weiter heißt es viel versprechend: "Es gibt hier einige Dinge, die wir im Vorfeld der Nominierung einvernehmlich klären sollten." Das klingt nach Kungelrunde und Postenschacher - alle Vorsitzenden sind da.

Nach kurzem Geplänkel über die "Zeitschiene" verblüfft der Kreischef alle mit einem Schreiben des Bundesgeschäftsführers der SPD, der - in Umsetzung der Vorschläge des Generalsekretärs zur Reform der Partei - die Kreise bittet, zu prüfen, ob Bundestagskandidaten nicht auch in Vollversammlungen gewählt werden könnten. Also von den Mitgliedern. Entsetzen auf den Gesichtern. Dann fasst sich einer ein Herz und erinnert an sozialdemokratische Grundwerte: "Was sagt denn dazu unsere Satzung?" Der Kreisgeschäftsführer eilfertig: "Unsere Satzung sagt nur, Unterbezirke unter 800 Mitgliedern können Wahlen als Vollversammlung abhalten."

Allgemeines Aufatmen: "Da liegen wir ja deutlich drüber", ist einer erleichtert, "dann geht das ja schon rein satzungsmäßig nicht." Der Abend scheint gerettet. Doch dann passiert es: Der Intellektuelle vom Dienst stellt die alles gefährdende Frage: "Geht es hier nicht um eine politische Entscheidung, für oder gegen Parteireform, die man nicht mit dem Hinweis auf die Satzung wegwischen kann?" Und hätten sich nicht in Westdeutschland gerade erst ganze Bezirke abgeschafft, ohne dass dies vorher satzungsgemäß vorgesehen war?

Auf so viel Praxisferne gibt der einzige Abteilungschef vom Typ Arbeiterfunktionär die passende Antwort: "Basisdemokratie is′ ja janz schön, aber dafür finden wir im janzen Bezirk keinen Saal!" Bösartige Rückfrage des Intelligenzlers: Also ist Basisdemokratie undurchführbar wegen Raummangels?" - "Ja, jenau so isset."

"Soviel Mitglieder kommen gar nicht zu zentralen Veranstaltungen, die bleiben lieber unter sich", erklärt da der Genosse aus der Senatsverwaltung. Außerdem sei die Zahl der aktiven Mitglieder identisch mit jener der Kreisdelegierten. Da schließe er von der traurigen Kungelrealität auf die direkte Demokratie, mosert der Intellektuelle. Jetzt trumpft der Verwaltungsgenosse auf: "Zur Versammlung kommen Leute, die man jahrelang nicht gesehen hat. Wer über Personal mitbestimmen will, soll sich an der Arbeit beteiligen." Nun wird der Eierkopf giftig: "Wer beim Personal mitbestimmen will, greift vor Wahlen zum Telefonhörer." Außerdem wäre es schön, wenn mal andere Leute auftauchten. Jetzt schaltet sich eine der beiden Frauen (unter neun Männern) ein: "Von neuen Leuten haben wir wenig, die kommen einmal, und wir Funktionäre haben noch mehr Arbeit.

"Das wäre ja noch schöner, läuft der Arbeiterfunktionär zur Form auf: "Ich als Funktionär habe eine Verantwortung, die lasse ich mir doch von der Basis nicht nehmen!" Außerdem, so die aktive Tochter des früheren Bezirksbürgermeisters, "Wenn viele kommen, kann ich gar nicht mehr auf meine Delegierten einwirken". Nun bringt sich der ehrgeizige, junge Kreisvorsitzende ein: "Es muss uns allen klar ein, dass Mitgliederversammlungen unberechenbarer sind als Delegiertenversammlungen." Nicken allerorten. Hilfloser Einwand des Intelligenzlers: Basisdemokratie funktioniere in vielen Ländern, in Kalifornien beispielsweise und in der Schweiz. Dem wird messerscharf begegnet: "Das ist gar nicht mit unserem Parteiengesetz vereinbar!" Konter: "Das ist es bestimmt, die Ostbezirke stimmen seit zehn Jahren so ab". - Der Arbeiterfunktionär entrüstet: "Ja, sind wir denn hier im Osten?"

Auch die schweigende Mehrheit wird jetzt ungeduldig: "Wir können doch nicht einfach etwas machen, und die Nachbarbezirke machen etwas anderes. Wir brauchen eine einheitliche Linie. Was will eigentlich der Landesverband?" Der Vorsitzende zeigt sichtlich Wirkung: "Der Landesverband scheint abzuwarten, was aus den Kreisen ..." Unruhiges Gemurmel hebt an, der Eierkopf wittert noch einmal seine Chance: "Also ist doch von niemand anders als von uns eine politische, eine inhaltliche Entscheidung gefragt - für oder gegen die Parteireform."

Der Senatsgenosse gibt den rettenden Hinweis: "Mit Mitgliederbefragungen haben wir schlechte Erfahrungen gemacht. Nichts wie Chaos", ist sich der Genosse sicher. "Denkt an die Urwahl 1999." Der Arbeiterfunktionär stöhnt getroffen auf: "Der Momper hat die Basis gegen uns Funktionäre aufgehetzt." - "Und gewonnen", kontert der Intelligenzler. "Aber dann hat er sich gegen die Basis benutzen lassen." Der Befreiungsschlag kommt vom bisher schweigsamen einzigen Gewerkschafter in der Runde: "Ob Delegierte oder Mitglieder abstimmen, ist doch keine Grundsatzfrage.

"Und überhaupt, was denke denn eigentlich der Vorsitzende? Der erbleicht: "Dazu will ich mich eigentlich nicht äußern". Jetzt alle: "Doch, bitte!" Der wackere Vorsitzende sammelt sich und spricht die Wahrheit gelassen aus: "Basisdemokratie ist eine Katastrophe, deshalb bin ich hundertprozentig fürs Delegiertenprinzip." Zustimmung. Listig fügt er hinzu: "Öffentliche Foren mit Medienwirkung, die nichts entscheiden, das wäre gut."

Jetzt hat sich die Versammlung gefangen. Der Arbeiterfunktionär begütigend zum Intelligenzler: "Das mit der Basisdemokratie is′ ne schöne Utopie, aber so was muss man immer realistisch sehen." Der konservative Jungakademiker: "Also am Raum dürfte es nicht scheitern, wenn wir es wollten, aber wir wollen es eben nicht." Die Angestellte: "Zu einer zentralen Veranstaltung gehen viele Mitglieder nicht, das liegt nicht auf ihren gewohnten Wegen. Da kommen die gar nicht." Der Gewerkschafter sauer: "Sind wir Delegierte etwa nicht ausreichend legitimiert?" Der Intelligenzler ist verzweifelt. Doch seine exotischen Einwürfe ("Vielleicht kommen ja mal neue Leute, die neue Wege gehen wollen?" - "Vielleicht wäre Basisdemokratie mindestens so legititim?" - Ob man denn nicht die Reformvorschläge des Generalsekretärs unterstützen wolle?"), gehen in anschwellendem Gegrummel unter.

Der Kreisvorsitzende beschliesst kühl die Debatte: "Ich fasse zusammen: Der Vorschlag des Bundesgeschäftsführers, für die Wahl der Bundestagskandidaten Vollversammlungen zu prüfen, stößt vereinzelt auf Zustimmung. Die große Mehrheit sieht dies aus satzungs-, organisatorischen und praktischen Gründen sehr kritisch. Wir warten jetzt mal, was die anderen Kreise sagen, und ich gebe dem Land unsere Skepsis weiter."Entspannung macht sich breit, man weiß sich im Recht und der Mehrheit sicher. Parteipolitik kann doch noch Freude machen, wenn man die Sache nicht über Gebühr verkompliziert und in hysterischen Neuerungswahn verfällt.

Der Intellektuelle zieht beglückt nach Hause. Sicher, er hat wieder keine Mehrheit gewonnen, nicht einen einzigen überzeugt. Aber fast hat er eine inhaltliche Debatte angestoßen. Außerdem hat es eine ganze Stunde gedauert, bis die Funktionäre endlich zum Wesentlichen gekommen sind: Wer mit wem, wann und wofür? Bei diesem Tempo könnte es in zehn, fünfzehn Jahren schon knapper ausgehen. Wenn es gut läuft.

Die Zitate entstammen dem Anschreiben und der Veranstaltungsmitschrift, die Personen sind durch Typisierung bis zur Kenntlichkeit entstellt.

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