In der Fachbeamtenbeteiligungsmaschinerie

Der deutsche Föderalismus funktioniert nicht gut, seine hehren Prinzipien erstarren zur Verfassungsfolklore: vielen ganz lieb, aber für alle sehr teuer. Dringend nötig ist die säuberliche Trennung der Kompetenzen von Bund und Ländern

Ein Gedankenexperiment: Wenn von jetzt auf gleich, von heute auf morgen, die Bundesregierung weg wäre – nicht Rot-Grün, sondern die Bundesregierung als Verfassungsorgan –, wenn diese Bundesregierung also irgendwie komplett ausfiele (Aliens, Atomkrieg, keine Lust mehr), dann wäre Deutschland nicht etwa unregiert, sondern dann würden hierzulande immer noch 16 legitime Regierungen ihres Amtes walten, von denen jede einzelne mit etwas gutem Willen und etwas Verstärkung auch ganz allein in der Lage wäre, Deutschland zu regieren.

Die Organisation jeder beliebigen Landesregierung ist dem Aufbau der Bundesregierung ziemlich ähnlich. Der Kanzler heißt hier Ministerpräsident, er hat eine Staatskanzlei zum Denken und Lenken; anderswo heißt das Kanzleramt. Beide haben Ministerien für Finanzen, für Umwelt, für Inneres und Justiz, für Arbeit und Wirtschaft, für Landwirtschaft und Verbraucherschutz, für Bildung und Wissenschaft, für Soziales, Gesundheit, Frauen, Familie und Jugend. Mit fast allen Fragen, mit denen die Bundespolitik sich beschäftigt, befasst sich von Rechts wegen permanent auch jede Landesregierung. Das hat in Deutschland Tradition.

Erst waren die Länder da – und dann, 1871, das Reich; erst kamen die Länder – und dann, 1949, die Bundesrepublik; zuerst wurden in der untergehenden DDR 1990, Landtage gewählt – und dann auch ein gesamtdeutscher Bundestag.

Unsere Länder, die den Bund bilden, sind immer noch organisiert wie Staaten, die jederzeit wieder in die Unabhängigkeit entlassen werden könnten. Sie unterhalten eine eigene Polizei, verfügen über einen eigenen Geheimdienst; es gibt ein gesetzgebendes Parlament und eine von diesem gewählte Regierung, eine unabhängige Justiz mit Staatsanwälten, Gerichten und Gefängnissen; das Land baut Straßen, stellt Wälder und Wattenmeer unter Naturschutz, bildet Lehrer, Juristen und Altenpfleger nach eigenen Regeln aus, unterhält Schulen und Hochschulen, treibt die allgemeinen Steuern ein; und die meisten Länder besitzen auch noch eigene Banken und Lottogesellschaften.

Wenn Kurt Beck morgen Kanzler wäre

Wenn also zum Beispiel Kurt Beck morgen von zu Hause aus Gerhard Schröders Geschäfte führen müsste, dann hätte er schon fast alles, was er dafür braucht, in seiner Mainzer Residenz versammelt. Es fehlt vielleicht die militärische Komponente und ein bisschen die Außenpolitik. Aber natürlich haben alle Landesregierungen längst eigene Europaabteilungen, und in jeder Staatskanzlei gibt es Chefdiplomaten, die vom Auswärtigen Amt entliehen sind; ein Protokollreferat für die nötige staatstragende Höflichkeit bei Staatsbesuchen gibt es natürlich auch.

Weil das so ist, weil wie in einer russischen Puppe im großen Bundesstaat viele kleine Einzelstaaten stecken, bewerben sich übrigens fast nur gelernte Ministerpräsidenten um das Amt des Bundeskanzlers, angefangen bei Willy Brandt aus Berlin 1961, über Kurt Georg Kiesinger aus Baden-Württemberg, Helmut Kohl aus Rheinland-Pfalz, Franz-Josef Strauß aus Bayern, Oskar Lafontaine aus dem Saarland, beinahe Björn Engholm aus Schleswig-Holstein, Rudolf Scharping aus Rheinland-Pfalz, Gerhard Schröder aus Niedersachsen bis zu Edmund Stoiber aus Bayern (Ausnahmen: Adenauer, Schumacher, Ollenhauer, Erhard, Schmidt). Die Disziplin, die der deutsche Föderalismus lehrt, heißt: Regierungsfähigkeit. 16 Übungsplätze, ein Center Court. Erfolgsstory, aber großer Aufwand.

Und es gibt da noch etwas, das man sich nicht immer klar macht, das man sich auch kaum vorstellen kann, weil es fast nie im Fernsehen zu sehen ist: Das ist die gewaltige föderale Kohärenz durch Kommunikation auf der Exekutivebene. Das heißt: Es gibt nicht nur den Bundesrat, dessen Plenum einmal im Monat tagt. Da sind hunderte weiterer Gremien, jeweils 16 (plus 1): die Ministerpräsidentenkonferenz mit und ohne Bundeskanzler; die vorbereitende Konferenz der Chefs der Staats- und Senatskanzleien; die Kultusministerkonferenz; die Innen-, die Justiz-, die Gesundheitsministerkonferenzen und so weiter, jeweils vorbereitet durch Staatssekretärskonferenzen; die Konferenzen der Abteilungsleiter für Ausländerangelegenheiten, der Abteilungsleiter für Verkehr und dergleichen; all die Referatsleiterkonferenzen: die Bund-Länder-Arbeitsgruppen zum Waffenrecht, zum Besoldungsrecht, zu Tourismus, zum Wettbewerbsrecht et cetera.

Können wir nicht schlanker werden?

Ich war Mitte der neunziger Jahre als Referent in der Staatskanzlei für Schleswig-Holstein in die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zu „sog. Sekten und Psychogruppen“ entsandt – es war die hohe Zeit von Scientology, Uriella und Maharishi – und hatte dort an einem Gesetzentwurf mitgebastelt, der ein bisschen Verbraucherschutz auf dieses windige Feld bringen sollte. Genau hieß unser Entwurf „Gesetz über die Regelung der Rechtsbeziehungen zwischen Anbietern und Kunden auf dem Markt der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe“, kurz „Lebensbewältigungshilfegesetz“. Damit hätten zum Beispiel Scientology-Opfer leichter ihr Geld von der Sekte zurückbekommen können.

Der Entwurf wurde in 16 Landesregierungen jeweils unter den beteiligten Ressorts (Innen, Gesundheit, Jugend, Justiz, Wirtschaft) abgestimmt, von 16 Landeskabinetten abgesegnet, von Schleswig-Holstein und Bayern gemeinsam in den Bundesrat eingebracht, dort einstimmig beschlossen, als Gesetzentwurf des Bundesrates in den Deutschen Bundestag eingebracht – und dort so lange auf die lange Bank geschoben, bis das Ende der Legislaturperiode erreicht war und der Gesetzentwurf der Diskontinuität verfiel, also durch Nichtbefassung erledigt war. Zwei Jahre Arbeit, 60 Landesministerien beteiligt, parteiübergreifender Konsens auf Länderebene – und der Bund sagt: interessiert uns nicht. So herum kann es auch gehen, nicht nur der Bundesrat lässt Gesetze scheitern, auch der Bundestag. Aber was ich zeigen will, ist etwas anderes: die riesige, die ungeheuerliche Redundanz in dieser föderalen Fachbeamtenbeteiligungsmaschinerie.

Da stellt sich die Frage: Können wir nicht schlanker werden? Zum Beispiel durch die säuberliche Trennung der Kompetenzen von Bund und Ländern? Oder durch die Verringerung der Zahl der Länder? Ich glaube, der Weg über Länderfusionen ist kein gangbarer, sondern nur ein theoretischer Weg. Dafür ist keine Mehrheit in Sicht und es gibt auch gute Argumente dagegen. Wir müssen vielmehr davon wegkommen, dass jedes Land die Kompetenzen und den Apparat des Bundes im Kleinen nachbildet. Wir brauchen nicht 16 Reserve-Bundesregierungen. Die Bundesrepublik löst sich nicht wieder in ihre Bestandteile auf!

Verkehrskasper und Rentenreform

Weil aber immer irgendein Aspekt der Landesverwaltung von beinah jedem wichtigen Bundesgesetz betroffen ist, müssen sich heute nach der alten Grundgesetzkonstruktion und Verfassungsrechtsprechung jedesmal 16 Landesregierungen mit Stellungnahmen aller ihrer Ministerien per Kabinettsbeschluss und schließlich im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss an jeder gesundheitspolitischen, steuerrechtlichen oder arbeitsmarktadministrativen Sache beteiligen – bis der kleinste gemeinsame Nenner gefunden oder eben ein Gesetz blockiert ist. Das bedeutet weder „mehr Effektivität“ noch „mehr Demokratie“, sondern tendiert in Richtung Selbstbeschäftigung. Hier sollte das Grundgesetz neue Klarheit schaffen.

In Sachen Föderalismus reden wir übrigens immer über Bundestag und Bundesrat. Die Landesparlamente scheinen hier nur insofern von Bedeutung zu sein, als sie ihre jeweilige Landesregierung ins Amt bringen. Dafür allerdings sind sie meist ziemlich groß. Im Bundestag sitzen 602, in den Landtagen noch einmal 1.881 Abgeordnete, nach Europa schicken wir weitere 98. Diese große Zahl von 2.600 Berufsparlamentariern fördert objektiv die Tendenz zur Selbstbeschäftigung. Mit derselben Leidenschaft, Liebe und öffentlichen Aufmerksamkeit, mit der zum Beispiel in Schleswig-Holstein vor einem Jahr der Landtag den Verkehrskasper gerettet hat, wird andernorts auch eben mal eine große Rentenreform beschlossen.

Mit 400 Sitzen ist der Bundestag groß genug

Vielleicht wären insgesamt kleinere Parlamente auch machtvoller gegenüber ihren Regierungen. Der Bundestag könnte ohne Funktionsverlust von 600 auf 400 Sitze verkleinert werden und hätte dann etwa die gleiche Größe wie das amerikanische Repräsentantenhaus (435) oder die russische Duma (450). Das ist keine sehr spezielle Föderalismus-Reform, aber es könnte bei der Generalinventur unserer parlamentarischen Demokratie gleich mit erledigt werden.

Die erst einmal gescheiterte Föderalismus-Kommission unter Müntefering und Stoiber hatte eine große Mission. Denn der Drohung mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner und mit der Oppositions-Blockade über den Bundesrat ist jede Bundesregierung immer wieder ausgesetzt. Helmut Kohl hatte jahrelang den Bundesrat gegen sich, so wie jetzt Gerhard Schröder oder früher schon Helmut Schmidt. Das nützt den einzelnen Ländern gar nichts, aber es schadet der Problemlösungsfähigkeit der Bundespolitik. Deshalb sollten wir noch einmal einen Anlauf nehmen, das Prinzip der föderalen Gewaltenteilung neu zu justieren. Vielleicht kann dabei auch das Dogma der „Staatsqualität“ unserer Länder aufgeweicht werden. Allzu vieles ist uns doch inzwischen zur Verfassungsfolklore geworden, ganz lieb, aber auch: sehr teuer.

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