Im Haifischbecken



Das deutsche Gesundheitssystem gleicht einem Haifischbecken, in dem viele große und kleine Fische ihre Beute suchen. Die Gesundheitspolitik ist schon deshalb ein so umkämpftes Politikfeld, weil es alle Bevölkerungsgruppen betrifft. Zudem gibt es kein anderes Gebiet, in dem derart viele konkurrierende Akteure um Einkommen, Einfluss und Gestaltung ringen. Immerhin macht der "Gesundheitsmarkt" rund elf Prozent des Bruttoinlandproduktes aus, und die "Branche" hat rund 4,2 Millionen Beschäftigte. Kein Wunder also, dass die Gesundheitsreform des Jahres 2007 zu den anspruchsvollsten, langwierigsten und komplexesten Gesetzesprojekten der Großen Koalition zählte.

Da die beteiligten Akteure zum Teil sehr unterschiedliche bis konträre (und nicht nur ökonomische) Interessen verfolgen, muss das politische System beträchtliche Anstrengungen unternehmen, um diese auszubalancieren. Bislang erfolgte die Regulierung in quasi-korporatistischen Strukturen. Dazu zählte die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, die über einige Jahrzehnte eine wesentliche Arena der Gesundheitspolitik war. Aber auch heute bestehen zwischen den wichtigen Akteuren der Leistungsempfänger und Leistungsanbieter sowie dem Ministerium noch viele direkte Konsultationen. Hinzu kommen bestimmte Formen der Selbstregulierung, etwa der gemeinsame Bundesausschuss, der einen erheblichen Einfluss auf den Leistungskatalog ausübt.

Die Gesundheitsreform 2007 bewirkte wesentliche strukturelle Einschnitte. Dazu gehören die Dominanz von Einzelverträgen auch im Krankenhausbereich, eine einheitliche Rahmenordnung durch den Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) oder eine strengere Aufsicht des Staates über die Kassen. Im Mittelpunkt der öffentlich gemachten Verhandlungen stand die organisatorische Finanzierungsreform durch den Gesundheitsfonds, was bei den Bürgern kaum auf Interesse stieß. Dennoch wird diese Gesundheitsreform die etablierte Akteurskonstellation und die eingespielten Prozesse in der deutschen Gesundheitspolitik massiv verändern. Neue Organisationen und Strukturen haben das gesamte System grundlegend durcheinander gewirbelt. Welche gravierenden Veränderungen im gesundheitspolitischen Akteursgefüge gibt es? Kann der neue Wettbewerb, der sich nach dieser Reform andeutet, als exemplarisch für die vielfach prognostizierten post-korporatistischen Konstellationen begriffen werden? Gibt es mit diesen Veränderungen Chancen für einen positiven sozialstaatlichen Strukturwandel in Richtung eines aktivierenden und vorsorgenden Sozialstaats? Gemeinhin wird die Politik von Versuch und Irrtum scharf kritisiert, doch birgt nicht gerade das Vorgehen eines eher "experimentellen Regierungshandelns" angesichts der komplexen Lage sogar Chancen?

Die Gesundheitspolitik war bisher von einem evolutionären Wandel geprägt. Das unterschied sie von den Feldern der Renten- und Arbeitsmarktpolitik. Hier wurden zwischen 2001 und 2007 mit wenigen Paukenschlägen Strukturen, Leistungen und Ergebnisse umfassend umgestaltet. Mit einiger Wahrscheinlichkeit hat die Gesundheitsreform 2007 einen beschleunigten Wandel eingeleitet, obwohl die Reformmaßnahmen auf den ersten Blick eher unspektakulär erscheinen. Dies betrifft vor allem die Organisationsreform der GKV sowie die Kassenärztlichen Vereinigungen, deren Monopolstellung diese Reform aufhebt.

Der Erfolg früherer Gesundheitsreformen lag vor allem darin, dass der Anteil der Ausgaben der GKV am Bruttoinlandsprodukt seit mehr als 30 Jahren relativ stabil gehalten werden konnte. Zugleich aber gelang die Stabilisierung der Beitragssätze nur temporär, aber nicht strukturell. Die Ursache dafür ist im Kern die Lohnbezogenheit der Beiträge. Denn die beitragspflichtigen Arbeitseinkommen (und die entsprechenden Lohnersatzleistungen wie Renten und Arbeitslosengeld) bleiben seit langem hinter der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zurück. Spätestens seit den neunziger Jahren wird über die Lohnnebenkosten diskutiert, deren Höhe als Problem für den Arbeitsmarkt gilt. Seitdem wird die Gesundheitspolitik von dem Ziel bestimmt, den Beitragssatz zu stabilisieren oder gar zu reduzieren " bisher vergeblich. Durch eine grundlegende Veränderung der Finanzierungsmechanik und massive Eingriffe in die Akteurskonstellation hat die Gesundheitsreform des Jahres 2007 einen neuen Ansatz verfolgt.

Der Bruch mit dem Prinzip der kleinen Schritte trifft aber nicht nur auf das Ergebnis dieses Gesetzgebungsprozesses zu. Auch die Voraussetzungen der Reform, nämlich die programmatischen Grundlagen der Parteien, haben sich geändert. Der Streit dreht sich heute nicht mehr ums Detail, sondern ums Grundsätzliche. Seit dem Bundestagswahlkampf 2005 stehen sich mit dem Prämienmodell und der Bürgerversicherung zwei konkurrierende Generalkonzepte gegenüber. Folglich waren die programmatischen Schnittmengen der Großen Koalition gering. Mit dem Gesundheitsfonds haben Union und SPD jedoch eine geradezu geniale Lösung zur Veränderung des Finanzierungssystems gefunden, weil sie aus der Perspektive beider Generalkonzepte als verbesserte Ausgangsposition verstanden werden kann. Der Gesundheitsfonds nimmt weder bei der Bürgerversicherung noch bei der Kopfprämie Anleihen. Dennoch können die beteiligten Parteien diese Konstruktion nutzen, um während der nächsten Reformetappe die jeweils eigenen Ziele weiter zu verfolgen. Beide Koalitionspartner haben nicht nur das Gesicht gewahrt, sondern sogar Startvorteile gewonnen.

Je mehr Akteure, desto schwerer fallen die Reformen

Der Leistungsbereich hingegen, der die Bürger normalerweise am stärksten interessiert, blieb 2007 praktisch unangetastet. Da der Gesundheitsfonds erst ab 2009 einsetzt, konnten die Bürger seine Auswirkungen lange nicht genau abschätzen, etwa die Höhe der erwarteten Zusatzbeiträge. Die Dominanz der institutionellen Aspekte (Finanzierungssystematik, Verbändereform und so weiter) hat dazu geführt, dass es kein größeres Interesse von Öffentlichkeit und Medien an diesem Reformvorhaben gegeben hat. Zugleich hat die Regierung, um die Reform besser vermitteln zu können, den Leistungskatalog sogar punktuell ausgeweitet. Deshalb konnten die meisten Themen zwischen den Koalitionspartnern weitgehend im Konsens bearbeitet werden.

Die heftigsten Kontroversen gab es bei den Regelungen zur Morbiditätsorientierung im Rahmen des Risikostrukturausgleich, mit dem zwischen den Kassen die unterschiedlichen Krankheitsstrukturen der Versicherten ausgeglichen werden sollen. Dasselbe gilt für alle Fragen, die die Selbständigkeit und Entwicklungsperspektiven der Privaten Krankenversicherung (PKV) tangierten. Bei allen Differenzen hatten die Parteien der Großen Koalition aus der Vergangenheit gelernt. Gesundheitsreformen fallen umso schwerer und wirken umso weniger, je mehr Akteure an ihnen beteiligt sind. Von Vorteil war deshalb, dass die kleineren Parteien nicht eingebunden werden mussten, da Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat auch ohne sie möglich waren. Darüber hinaus konnte es sich die Große Koalition leisten, die Belange der Verbände und Lobbyisten souverän zu ignorieren.

Weil die Parteien in der Großen Koalition nicht in der Lage waren, ihr jeweils ureigenes parteipolitisches Projekt zu verwirklichen, zugleich aber auch eine gewisse Enttäuschung darüber herrschte, dass die Reform des Jahres 2003 die Kosten nicht wie geplant gedämpft hatte, verfolgten sie die Organisationsreform der GKV sozusagen als gemeinsames Ersatzprojekt. Dabei war die Entmachtung der Kassenverbände und, wenngleich etwas abgeschwächt, der einzelnen Kassen durchaus ein strategisches Ziel.

Fast anderthalb Jahre waren nötig, um die Reform unter Dach und Fach zu bringen. Immer wieder liefen einzelne Akteure Sturm gegen gefundene Regelungen. Am Ende jedoch wurde die Reform mit großer Mehrheit verabschiedet. Die Wirkung der neu implementierten Strukturen und Verfahren blieb indessen ungewiss. Eben dies rechtfertigt die Rede von einem experimentellen Politikstil. Der gesundheitspolitische Beobachter der Frankfurter Allgemeinen, Andreas Mihm, spricht daher von einem Blindflug: "Es ist so, als würde ein neuer Airbus ungeachtet der Bedenken eines Teils der Konstrukteure vollbesetzt auf Probeflug geschickt; ein Blindflug als Testflug. ... Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Gesundheitsministerin gehen mit diesem Start des Gesundheitsfonds, ohne Netz und doppelten Boden, ein großes Wagnis ein."

So kann man es sehen. Aber vermutlich ist gerade der hier kritisierte Politiktypus des experimentellen Regierens notwendig, wenn in grundlegenden Fragen unvereinbare Positionen bestehen. Selbst die Macher des Gesetzes glauben ja keineswegs, dass sie eine langfristig haltbare Regulierung geschaffen haben. Man leitet jetzt bestimmte Änderungen ein, deren Wirkungen man erst einmal abwarten muss, bevor in spätestens zwei bis drei Jahren gesetzlich nachjustiert werden kann. Zu solchen experimentellen Elementen gehören beispielsweise die so genannte Überforderungsklausel für den Zusatzbeitrag (es handelt sich um eine soziale Komponente: Dieser Beitrag darf nicht höher liegen als 1 Prozent der "verbeitragten" Lohnsumme) oder die 95-Prozent-Grenze für die Deckung des Fonds (es dürfen nur 5 Prozent durch den Zusatzbeitrag erbracht werden).

In beiden Fällen wurden relativ willkürlich Zahlen festgelegt, die die Regelungen schon bald unpraktikabel machen könnten. So kann die "erlaubte" Unterdeckung des Fonds schon rein rechnerisch nicht durch Zusatzbeiträge finanziert werden, ohne die Überforderungsgrenze zu durchbrechen. Auch die Parallelität von Kollektivverträgen und Einzelverträgen in der ambulanten ärztlichen Versorgung verursacht unauflösbare Widersprüche und wird in den Kassenärztlichen Vereinigungen zu einer Zerreißprobe führen. Bestimmte Aufgaben wie die Verantwortung für das Zulassungswesen, die Bedarfsplanung und die Wirtschaftlichkeitsprüfungen sind widersprüchlich. Diese Probleme sind den Ministerialbeamten und zumindest den maßgeblichen Gesundheitspolitikern durchaus bewusst.

Legitimation durch Gesetzgebungsverfahren

In solchen Fällen, in denen abstrakte Zahlenwerte ausgehandelt wurden, ging es letztlich weniger um eine inhaltlich problemadäquate Regelung. Vielmehr sollten Kompromisse erzielt werden, die für beide Verhandlungsseiten gesichtswahrend und zugleich gesetzestechnisch sowie politisch zielführend sein sollten. Es ging dabei also weniger um die definitive Klärung eines Problems im Sinne einer explizit inhaltlichen Regelungsabsicht als um "Legitimation durch Gesetzgebungsverfahren". Mit diesem prozessorientierten Vorgehen wird allerdings die tatsächlich notwendige Auflösung offensichtlicher inhaltlicher Widersprüche auf die lange Bank geschoben. Auf diese Weise lässt sich Zeit gewinnen, aber die staatlich verantwortete Politik wird auch angreifbarer, indem sie die eigene Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit durch fortwährenden Korrekturbedarf infrage stellt.

Andererseits können bestimmte Entwicklungen auf der Ebene der Gesetzespolitik mit diesen verfahrensorientierten Kompromissen, die zum experimentellen Regieren gehören, überhaupt erst in Gang gesetzt werden. So wäre zum Beispiel die gewollte vollständige Ablösung des Kollektivvertragssystems bei den niedergelassenen Ärzten durch Einzelvertragsformen nicht kurzfristig zu verwirklichen. Man braucht dafür Zeit, unter anderem für den Aufbau von verhandlungsfähigen Vereinigungen auf Seiten der Ärzte, für die Entwicklung von Vertragsmustern und alternativen Vergütungsstrukturen. Im Gegenzug beabsichtigen maßgebliche Kräfte wie die CSU, die Kassenärztlichen Vereinigungen abzuschaffen. Doch besteht hier die Schwierigkeit, dass derzeit noch keine funktionalen Äquivalente für deren Aufgaben existieren. Zudem kann die Entstehung von Ersatzinstitutionen nicht detailliert geplant und antizipiert werden, sondern diese müssen sich erst im Laufe einer Übergangszeit entfalten.

Eine zweifelsfreie Wirkung der Gesundheitsreform ist allerdings der Machtzuwachs des Staates gegenüber der Selbstverwaltung, also vor allem gegenüber der teilautonomen Sozialversicherung. Diese politisch gewollte Zentralisierung durch das Bundesgesundheitsministerium korrespondiert mit der zunehmenden Steuerfinanzierung der Sozialsysteme. Damit wird der Stellenwert der Sozialversicherung als eigentümlicher Gestaltungsform des deutschen Sozialstaates bismarckscher Prägung gemindert. Um den Sozialstaat an die veränderten Lebensformen und Sicherungsbedürfnisse sowie die Erfordernisse des globalen Wettbewerbs anzupassen, erhebt die Regierung den Anspruch, die Sozialleistungssysteme direkter als bisher zu steuern.

In Deutschland ist der Sozialstaat seit jeher zuvörderst ein Sozialversicherungsstaat. Etwa zwei Drittel aller Leistungen der deutschen Sozialpolitik fließen durch die Institutionen der Sozialversicherung. Durch die parafiskalische Struktur dieser Institutionen und ihren Selbstverwaltungskorporatismus werden der Staat entlastet, die Sozialpolitik entpolitisiert und deren breite Akzeptanz sichergestellt. In diesem Sinne war die Sozialpolitik in Deutschland fünf Jahrzehnte lang vor allem Sozialversicherungspolitik.

Das System der einkommensbasierten, beitragsfinanzierten und gegenüber dem Staat teilautonomen Sozialversicherung als Leitmodell der Sozialen Sicherung in Deutschland genügt jedoch den Ansprüchen moderner Sozialstaatlichkeit nicht mehr. Es ist aus den Systemen der Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung entstanden, die früher im Wesentlichen als Lohnersatzleistungssysteme funktionierten. Nicht nur die Rentenversicherung, sondern auch die Krankenversicherung war mit ihrer Kernleistung, dem Krankengeld, auf Lohnersatz ausgerichtet. Zu diesem Zweck war die Äquivalenz, also die Entsprechung von Beiträgshöhe und Leistungsniveau durchaus sinnvoll. Heute jedoch werden die Aufgaben der GKV von Leistungen dominiert, die zur Entwicklung und Erhaltung des Guts "Gesundheit" beziehungsweise zur Finanzierung der Krankenversorgung dienen. Dagegen beträgt der Anteil des Krankengeldes an den gesamten Leistungskosten nur noch etwa 4 Prozent.

Die Idee des Vorsorgenden Sozialstaats

Je mehr Aufgaben der Sozialstaat übernimmt, die nur lose mit dem Arbeitsverhältnis verknüpft sind, desto härter stößt das tradierte, auf Erwerbsarbeit beruhende Sozialversicherungsmodell an seine Grenzen. Aus dieser Perspektive erweist sich der nachsorgende, primär transferorientierte Sozialstaat als ergänzungsbedürftig. Denn Sozialpolitik löst sich immer mehr von der historischen Arbeiterfrage; "kompensatorische" und präventive Aspekte erhalten eine größere Bedeutung. In den meisten Fällen führt dies gerade zu einer Umkehrung der Einkommensäquivalenz. Dieses Phänomen wird nicht nur am Beispiel der Gesundheitsversorgung deutlich, sondern etwa auch bei den Themen Pflege und Bildung.

An dieser Stelle kommt die Idee des Vorsorgenden Sozialstaats ins Spiel, der spätestens seit dem Hamburger Grundsatzprogramm vom Oktober 2007 einen wesentlichen Pfeiler sozialdemokratischer Sozialstaatsprogrammatik bildet. Einzelne Aspekte, auf die das vorsorgende Sozialstaatsmodell Bezug nimmt, sind seit den achtziger Jahren immer wieder diskutiert worden, beispielsweise das Prinzip der Aktivierung, Mindestsicherungselemente oder die infrastrukturelle Orientierung nach dem Muster der skandinavischen Sozialstaaten. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die Suche nach sozialstaatlichen Methoden, um unter den Bedingungen der Wissensgesellschaft Chancengleichheit und Innovationen gleichermaßen zu fördern.

Die in zahlreichen Studien nachgewiesene Zementierung des Faktors Herkunft als Hindernis für den sozialen Aufstieg zeigt deutlich, dass die familiäre frühkindliche Erziehung allein nicht in der Lage ist, ausreichende Chancengleichheit herzustellen. In diesem Sinne ist der Vorsorgende Sozialstaat als Antwort auf die Legitimations- und Leistungsschwäche eines eher nachsorgenden Sozialstaats zu verstehen. Er zielt darauf ab, früher und wirkungsvoller zu fördern, um spätere Probleme zu vermeiden oder zu reduzieren. Dabei soll der sozialen Infrastruktur eine größere Bedeutung zukommen, zudem geht es darum, den Sozialstaat stärker über Steuern zu finanzieren. Auf diese Weise könnte sich Sozialpolitik wieder stärker als innovative Gesellschaftspolitik beweisen, indem sie auf strukturelle gesellschaftliche Veränderungen neue, eigene Antworten gibt.

Der "Abgabenkeil" wirkt beschäftigungsschädlich

Im Zentrum des Vorsorgenden Sozialstaates stehen die Politikfelder Bildung, Familie, Gesundheit und Integration. Auf diesen Gebieten müssen die Defizite nachsorgender Sozialstaatlichkeit gezielt behoben werden. Dies geht nur mit einer modernen sozialstaatlichen Infrastruktur. Solche Überlegungen stehen klassischen sozialpolitischen Vorstellungen entgegen. Für viele sozialpolitische Akteure muss "richtige" Sozialpolitik in Form einer Sozialversicherung organisiert sein. Aus dieser Sicht war es nur konsequent, noch Mitte der neunziger Jahre die Pflegeversicherung als fünfte Säule der Sozialversicherungen zu verankern. Aus der Perspektive des vorsorgenden Sozialstaates sollte Sozialpolitik hingegen stärker über Steuern finanziert werden.

Bis Ende des 20. Jahrhunderts war das Sozialversicherungsparadigma kaum umstritten. Jedoch lassen sich die damaligen Debatten um die Pflegeversicherung auch als Ouvertüre der Diskussion zum Vorsorgenden Sozialstaat deuten: Die neue Versicherung wurde als "Erbenschutzprogramm" kritisiert; als alternative Lösung stand ein Leistungsgesetz im Sinne einer Weiterentwicklung der Sozialhilfe zu einer bedarfsbezogenen Sonderleistung für Bedürftige zur Diskussion. Im Prinzip geht es auch bei der Kontroverse um die beiden Modelle "Bürgerversicherung" und "Gesundheitsprämie" um die Frage der Finanzierung.

Inzwischen verstehen immer mehr Politiker, dass es im Hinblick auf die Verteilungswirkungen gerechter ist, sozialpolitische Maßnahmen über (progressive) Steuern zu finanzieren als über einkommensproportionale Beiträge. Dieses Argument führt auch der gesamtwirtschaftliche Sachverständigenrat in seinem jüngsten Gutachten an: Der hohe Abgabenkeil (aus Sozialversicherungsbeiträgen) wirke gerade bei niedrigen Einkommen beschäftigungsschädlich. Zur Debatte stehen unterschiedliche Alternativen: Staatliche Steuerung (wie in Skandinavien) versus Versicherungen mit Prämiensystem. Dabei ist es durchaus denkbar, dass eine Bürgerversicherung dazu beiträgt, dass beitragsbezogene System aus den Angeln zu heben, womit sich dieses dem Steuersystem annähert. Bei dieser Tendenz würde die Sozialversicherung mit ihren konstitutiven Merkmalen " Äquivalenzprinzip, Beitragsfinanzierung durch Arbeitseinkommen beziehungsweise Lohnersatzleistungen, Teilautonomie und Selbstverwaltung, besonders Finanzautonomie und Beitragshoheit bei Trägervielfalt " immer mehr zum bloßen Etikett werden. Obgleich soziale Bedarfe zunehmend nicht mehr durch die Prinzipien und Institutionen der Sozialversicherung abgedeckt werden können, hängt auch von der Reform der Sozialversicherungen viel ab. Bei der Krankenversicherung spielt es eine wichtige Rolle, welche Formen des Wettbewerbs sich zwischen den Kassen entwickeln und welche Konsequenzen dies für die medizinische Versorgung hat.

Der Wettbewerb soll darin bestehen, dass alle das Gleiche tun

Um die Bedeutung des Wettbewerbsgedankens in der GKV zu verstehen, hilft ein Blick in die Geschichte: Die Politik hat den Wettbewerb nur nolens volens eingeführt. Beispielsweise sollte die aus den ständestaatlichen Wurzeln der Sozialversicherung überkommene Trägervielfalt im Zuge des Gesundheitsstrukturgesetzes (1992) auf keinen Fall beseitigt werden. Ein solcher Schritt wäre als zu radikal bewertet worden. Dagegen wurde bereits die Pluralität der Kassen als Wettbewerb uminterpretiert und funktionalisiert. Auch das Bundesministerium für Gesundheit geht heute von einem Wettbewerbsbegriff aus, der sich nur auf die Vielzahl der Krankenkassen sowie auf Entscheidungsspielräume der Versicherten bezieht " zum Beispiel die Wahl zwischen der Behandlung in medizinischen Versorgungszentren und hausarztzentrierter Versorgung. Dabei wird aber offensichtlich nicht intendiert, dass die Kassen als Unternehmen unterschiedliche Konzepte entwickeln, geschweige denn, dass dabei auf längere Zeit unterschiedliche Ergebnisse herauskommen. Der Wettbewerb soll möglichst darin bestehen, dass alle das Gleiche tun. Das Ministerium versteht die Kassen letztlich als nachgeordnete Behörden. Ähnliches lässt sich auch zu der gemeinsamen Selbstverwaltung, dem gemeinsamen Bundesausschuss von Krankenkassen und Leistungserbringern sagen, wo die Eingriffsdichte ebenfalls zunimmt, verbunden mit einer zunehmenden Politisierung der Regelungsprozesse durch staatliche Vorgaben.

Angesichts der generellen Schwächung des Bismarckschen Modells der sozialen Sicherung aufgrund der vielfältigen Strukturveränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft ist zwar die Zunahme staatlicher Eingriffe in die GKV nicht mehr erklärungsbedürftig. Anders sieht es jedoch mit der Zunahme marktförmiger Prozesse aus, deren Einfluss in der Gesundheitsversorgung ebenfalls zugenommen hat. Welche Bedeutung erhalten marktorientierte Versorgungsmodelle angesichts der gegenwärtigen Krisensituation?

Die psychologischen Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise könnten die Entwicklung staatlicher Intervention noch beschleunigen und die Selbständigkeit der Kassen weiter einschränken. Die Krise stellt einen größeren Einschnitt dar und wird nicht nur zu einem wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel führen. Auch die Ausweitung marktförmiger Prozesse im Gesundheitswesen könnte nachdrücklich gebremst werden. Selbst wenn die Krise in Wirklichkeit die Marktwirtschaft nicht grundsätzlich in Frage stellt, wird diese doch ab sofort skeptischer beurteilt werden. Die Frage, welche Felder des Lebens in Wirtschaft und Gesellschaft wir wie sehr dem Markt überlassen sollen, wird neu gestellt und muss auch für die Gesundheitsversorgung neu beantwortet werden. Die gegenwärtige Krisenangst wirkt sich zudem auf die Bewertung der Rolle von privatem Anlagekapital in der Gesundheitswirtschaft aus. Das betrifft beispielsweise die Privatisierung von Krankenhäusern, die Trägerschaft von Kapitalgesellschaften bei Medizinischen Versorgungszentren oder die kapitalgedeckten Zusatzversicherungen zur Ergänzung der GKV. Ebenso werden "Manager" in der Krankenversicherung und anderen größeren Einrichtungen des Gesundheitswesens kritischer betrachtet werden.

Der alte Korporatismus im Gesundheitswesen, der schon lange erodiert, hat mit der Gesundheitsreform 2007 einen Stoß erhalten, der seinen Untergang irreversibel macht. Bestimmte Institutionen wie die Verbände der Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen bestehen zwar fort, ihre Revitalisierung erscheint jedoch praktisch ausgeschlossen. Offen bleibt, was an ihre Stelle tritt. Abgebaut worden sind Privilegien, Alleinstellungsmerkmale, Einflussmöglichkeiten und Verfahren des korporatistischen Sozialstaates, ebenso wie eine differenzierte ständische Gliederung der Leistungssysteme und Leistungsniveaus; das Verhältnis zwischen GKV und PKV ist etwas durchlässiger geworden. Damit werden auch unterschiedliche vertragliche Regelungen zu den Leistungen und ihrer Vergütung zunehmend infrage gestellt.

Die primären Ziele des Sozialstaates wie eine solidarische Finanzierung, kollektive Rahmenverträge mit gleicher Geltung für alle Versicherten und Wettbewerb um Qualität in einem einheitlichen Ordnungsrahmen werden durch die Gesundheitsreform 2007 nunmehr höher bewertet. Ihnen wird durch diese Gesundheitsreform und in der langfristigen Zielsetzung der Politik mehr Geltung verschafft. In diesem Kontext ist auch die verstärkte Wettbewerbsorientierung der einzelnen Krankenkassen und Leistungsanbieter im Sinne des neuen Systems der Einzelverträge zu verstehen, so wenig wettbewerblich sie auch tatsächlich von der Politik gemeint sein mögen. Insoweit ist diese Gesundheitsreform auch Teil einer grundsätzlicheren Neuordnung des sozialstaatlichen Regimes in der Bundesrepublik.

Die Umrisse einer neuen Ordnungspolitik

Nach der Gesundheitsreform 2007 besteht eine Übergangssituation. Gleichwohl sind die Umrisse einer neuen Ordnungspolitik bereits erkennbar: Die Tendenz geht in Richtung stärkerer Zentralisierung, auch durch staatliche Vorgaben, weniger Einfluss der Kassen und ihrer Selbstverwaltungen sowie mehr Wettbewerb. Vor allem der Gewinn an staatlicher Steuerungsmacht in der Gesundheitspolitik hat seinen Preis. Mit der Festlegung des allgemeinen Beitragssatzes durch die Bundesregierung ist dem Staat ein "Legitimationspuffer" verloren gegangen, den die teilautonomen Sozialversicherungen stets dargestellt haben. Für alle Steuerungsentscheidungen in Bezug auf die Krankenversicherung und ihre Konsequenzen muss der Staat künftig direkt haften beziehungsweise in der Öffentlichkeit geradestehen.

Zugleich ist der Reformbedarf auf allen Ebenen nach wie vor sehr hoch. Und dies nicht nur wegen der Folgen des experimentellen Regierens. Die großen Fragen werden weiter auf der Tagesordnung bleiben: Wie kann der medizinisch-technische Fortschritt auch in Zukunft allen Menschen zugänglich gemacht werden? Wie bleibt dieses System finanzierbar für alle? Wie kann eine echte Vorsorgekultur geschaffen werden? Wie kann der Zweiklassenmedizin Einhalt geboten werden? Besonders in der Gesundheitspolitik kann dabei eine Regel als sicher gelten: Nach der Reform ist vor der Reform! Denn oft zeigt sich bereits nach kurzer Zeit, dass die jüngste Reform nicht die erwünschten Wirkungen erbringt und nachjustiert werden muss. Weil auch künftig politische Richtungsentscheidungen die Gesundheitspolitik prägen werden, wird das experimentelle Regieren bei den kommenden Gesundheitsreformen weiter gehen.

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