Ideal kommt vor dem Fall

Wo jeder Kompromiss als "faul" gilt, hat die pluralistische Demokratie einen verdammt schweren Stand. Übersteigerte Erwartungen an Politik sind ein Schlüssel zum Verständnis der politischen Kultur der Neuen Bundesländer

Schon die DDR hatte ein Moralproblem. Viel deutet darauf hin, dass sie es dem vereinten Deutschland vererbt hat. Die DDR versprach von Anfang an, das bessere Deutschland zu sein. Der Sozialismus würde Ausbeutung und Knechtschaft abschaffen, der Kommunismus dann alle Menschheitsprobleme lösen. Mit solchen Versprechungen ließ sich Generation nach Generation Entbehrungen aufbürden, damit das goldene Zeitalter wenigstens in der jeweils nächsten Generation Wirklichkeit würde. Aber die Morgenröte des Sozialismus wollte und wollte nicht zum Tag werden. Ihr ferner Glanz erwies sich immer deutlicher als Fata Morgana.

In dem Maße, in dem die Ernüchterung um sich griff und auch die höchsten Parteikader erfasste, sah sich die DDR-Führung mit einem schwer lösbaren Problem konfrontiert. Da offensichtlich die Mittel fehlten, die Wirklichkeit zur Utopie zu bringen, blieb nur noch der Weg, die Utopie der Wirklichkeit anzunähern. So entstand die Rede vom "real existierenden Sozialismus", eine Selbstbezeichnung, die wie eine Selbstbezichtigung klang. Die Verkündigung der resignierten Formel vom "real existierenden Sozialismus" bedeutete bald das Ende eines überhaupt existierenden Sozialismus.

Eigentlich hatte man sich ganz gut eingerichtet im DDR-Einheitstrott. Klassenbester, Radsportler und Pionier. Die Zukunft lag relativ klar vor Augen. Was sollte da auch schon kommen. Im "goldenen" Herbst 1989 jedoch, passierten allerlei merkwürdige Dinge. Plötzlich wurde in meiner Schule - während einer Erklärungsveranstaltung zu den Fluchtbewegungen - widersprochen. Die Unzufriedenheit mit den Zukunftsaussichten und die Wahrheit über die flüchtigen Bekannten oder Verwandten wurden thematisiert. Der bessere deutsche Staat war plötzlich nicht mehr ganz so gut.

Als Reaktion auf die Enttäuschungen des Sozialismus und die Willkür der Diktatur wurde schon zu DDR-Zeiten Demokratie als Kontrastprogramm und Gegenmodell überhöht. Als sie nach der Wende auch für die DDR Wirklichkeit wurde, sollte nun sie alle Probleme lösen. Rational, ruhig und gerecht sollte sie das Gemeinwohl verwirklichen. Die tatsächliche Demokratie kommt gegen dieses Idealbild genau so wenig an wie einst die gesellschaftliche Wirklichkeit gegen das Idealbild des Sozialismus. So hat die DDR unversehens ihr Moralproblem an das neue Deutschland vererbt.

Viele Besonderheiten der politischen Kultur in den neuen Bundesländern lassen sich damit gut erklären: In einigen Bundesländern, in denen es einen "Landesvater" gibt, erzielt dieser hohe Mehrheiten, egal welcher Partei er angehört, weil er die Erwartung vom sachlich, schnell und ohne Streit ermittelten Gemeinwohl zu erfüllen scheint. Und wo es keinen solchen Landesvater gibt, zersplittert das politische Spektrum. Die Wahlbeteili-gung ist niedrig, die Neigung zu Protestwahlen ausgeprägt. Autoritäre Parteien und Bewegungen, die schnelle, einfache Lösungen versprechen, haben wachsenden Zulauf.

Vielfach wird die Verantwortung für das eigene Leben - wie zu DDR-Zeiten erlernt - an die Politik abgegeben. Nicht die Eigeninitiative, die Suche der Chancen, steht im Mittelpunkt, sondern eine extrem hohe Erwartungshaltung an den Staat. Die Aussage, Politik könne keine Arbeitsplätze schaffen, wird mit Widerspruch quittiert. Die Verzweiflung geht so weit, dass gefordert wird, jeder Bundestagsabgeordnete solle eine Patenschaft für einen Arbeitslosen übernehmen und ihm einen Job verschaffen. Dass alles nicht sofort geht und es oftmals langer Prozesse bedarf, um Rahmenbedingungen und auch Stimmungen zu schaffen, die ein Klima für neue Investitionen erzeugen, ist schwer vermittelbar. Nach zwölf Jahren und immer wiederkehrenden Versprechen der Besserung sagen viele nur noch: "... allein mir fehlt der Glaube". Die Grundeinstellung, dass man sich nicht selbst helfen könne, untergräbt das Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten. So existiert kaum eine bürgerliche oder intellektuelle Mitte. Individualismus stellt bei den Älteren keinen Wert dar.

Anfangs zeigte sich bei repräsentativen Umfragen nur ein geringes rechtsextremes Potential in den neuen Bundesländern. Es lag weit unter dem in den alten Bundesländern. Inzwischen ist das rechtsextreme Potential stark angestiegen und übertrifft deutlich das in den alten Bundesländern. Statistische Untersuchungen zur Erklärung dieser Veränderung verweisen vor allem auf die Enttäuschung mit der Politik und speziell mit der Demokratie. Hinzu kommt: Die Ausländerfeindlichkeit ist trotz vernachlässigbarer Ausländerquote sehr viel höher als in den alten Bundesländern. Sie ist besonders hoch bei den enttäuschten Demokraten.

Am deutlichsten belegt die Enttäuschungs-These der Leipziger Wissenschaftler Peter Förster. Von ihm stammt die vermutlich weltweit einzige systemübergreifende Längsschnittuntersuchung. Von 1987 bis heute konnte er eine Gruppe von damals repräsentativ ausgewählten sächsischen Schülerinnen und Schüler befragen. Zu DDR-Zeiten hatte Förster gefragt: "Wie zuversichtlich sehen Sie die Zukunft für die Entwicklung der DDR?" Ab 1991: "Wie zuversichtlich sehen Sie die Zukunft für die Entwicklung Ostdeutschlands?"

Schon zu DDR-Zeiten ging die Zuversicht zurück. Aber die Werte von damals sind Traumnoten verglichen mit dem, was später kommt: 1987 waren noch 36 Prozent sehr zuversichtlich, heute ganze 4 Prozent. 1995 legte Förster seinen Jugendlichen die Aussage zur Beurteilung vor: "Es gibt keinen Unterschied in der politischen Moral heute und in der DDR." Schon damals stimmten diesem Satz beinahe 60 Prozent zu. Mit jeder Befragung wuchs die Zustimmung. Gleichzeitig ging die Bereitschaft zur aktiven Teilnahme an Politik rasant zurück.

Wenn ich heute in eine Schulklasse meiner Heimatstadt gehe, dann bleibt die Frage nach den persönlichen Erwartungen an die Zukunft nicht aus. Was glaubt man so anfangen zu können, im Deutschland von morgen? Oftmals steht dann eine Gegenfrage im Raum: "Was sollen wir denn hier anfangen?" Wobei die Erwartungen zur Zukunft Ost- und Westdeutschlands meist deutlich unterschieden werden. Eine Bereitschaft oder gar der Wille zum Gang ins Ausland wird nur selten - und wenn, dann mit rheinischem oder anderem westdeutschen Akzent - artikuliert. Jedoch heißt die Antwort oft: "Es bleibt ja nur der Gang in den Westen." Der tatsächlich höhere Lohn und die zahlreichen Zusatzleistungen - im Osten auch bei hochqualifizierten Jobs meist die Ausnahme - sind oftmals nicht das Hauptargument. Allein die Annahme der besseren Zukunftsaussichten der westlichen Bundesländer gibt den Ausschlag für die Entscheidung: "Dort geht es ja sowieso besser voran!"

In den für die Sozialwissenschaften von ALLBUS durchgeführten repräsentativen Befragungen wurde Anfang der neunziger Jahre die Unzufriedenheit mit dem politischen System erfragt. In den neuen Bundesländern ist sie eklatant und steigt bis 1994 auf über 50 Prozent.

Die Enttäuschung über den scheinbar langsamen Anpassungsprozess der wirtschaftlichen Entwicklung ist auch heute unmittelbar greifbar. Mit jeder neuen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme schrumpft der Glaube, dass sich die persönliche Lebenssituation verbessern werde. Man schwingt sich nur noch von einem Rettungsanker zum nächsten. In einem Gespräch mit einer 50-jährigen Sekretärin wird nur noch der sprichwörtliche Überlebenswille deutlich. Der Wille oder auch die Kraft, sich gestaltend einzubringen fehlt nach 12 Jahren Umorientierung und Flexibiltät. Der Glaube an die eigene Leistungsfähigkeit und das eigene Können nimmt ab. Dies führt zur Grübelei über das politische System insgesamt, das diese Erwartungshaltung nicht in Gänze erfüllt hat. Helmut Kohls Wahlaussagen von den "blühenden Landschaften" und davon, dass es niemanden schlechter gehen werde als zu DDR-Zeiten, haben die Menschen für bare Münze genommen. Heute ist die Aussage, das DDR-Politmagazin "Der schwarze Kanal" habe eigentlich nicht so falsch gelegen, im Osten immer häufiger zu hören.

Damit kontrastieren die Antworten auf eine andere Frage. Diesmal wurde nicht nach der praktizierten, sondern nach der idealen Demokratie gefragt: "Was würden Sie, im Vergleich zu anderen Staatsideen, zur Demokratie sagen?" Als abstrakte Staatsidee, als ideale Vorstellung, findet Demokratie auch in den neuen Bundesländern mit 80 Prozent breite Zustimmung. Die reale Demokratie kommt gerade noch auf die Hälfte. Aber vielleicht ist es gerade diese Idealisierung, aufgrund derer die Bürger die praktizierte Demokratie ablehnen. Dazu müsste man die Inhalte dieser Idealisierung kennen.

Aus repräsentativen Befragungen in Thüringen kann man recht gut einige der Vorstellungen von Politik und Demokratie ablesen, die sich als Reaktion auf die Enttäuschung mit der wirklichen Demokratie durchgesetzt haben. Wir nehmen an, dass die Verhältnisse in den anderen neuen Bundesländern ähnlich liegen. Aus den Daten lassen sich folgende Elemente eines Bildes der Politik ablesen. Gewünscht wird:

- Politik nicht als repräsentative Demokratie der Parteien und Interessengruppen, sondern als direkte Demokratie durch Volksentscheid - über 80 Prozent sprechen sich für Plebiszite aus.

- Politik nicht als beständige, von Interessen geleitete Debatte und Auseinandersetzung um die Lösung von Problemen, sondern als die schnelle Durchsetzung "richtiger" Lösungen. 60 Prozent stimmen der Aussage zu: "In der Politik wird zuviel geredet und nichts geleistet."

- Politik nicht als an Interessen orientierter Kampf um die Macht, sondern als eine Veranstaltung, die auf ein ermittelbares Gemeinwohl und eine ermittelbare Wahrheit verpflichtet ist. Etwa 80 Prozent stimmen der Aussage zu: " In der Politik geht es nicht um die Sache, sondern nur um die Macht."

- Politik nicht als Parteiendemokratie, in der die Parteien zwischen den Wahlen die Macht ausüben, sondern Parteien als dauernde Vollzugorgane des "Volkswillens". 70 Prozent stimmen der Aussage zu "Die Parteien wollen nur die Stimmen der Wähler, ihre Ansichten interessieren nicht."

- Politik nicht als Widerstreit vielfältiger Interessen, die nach einem Ausgleich suchen, sondern als autoritäre Herrschaft einer "starken Hand". 73 Prozent stimmen der Aussage zu: "In diesen Zeiten brauchen wir unbedingt eine starke Hand."

zurück zur Person