Hurra, wir profitieren!

zu Ulrike Herrmann, Wie sich die Mittelschicht selbst betrügt, Berliner Republik 3/2010

Seit Aristoteles wissen wir, dass jene Gesellschaft die beste ist, die sich auf die Mittleren gründet: „So ist es für den Staat das größte Glück, wenn die Bürger einen mittleren und ausreichenden Besitz haben.“ Eine breite mittlere Bürgerschaft ermöglicht Demokratie und macht sie dauerhaft. Dieser Aristotelische Grundsatz ist durch die historische Entwicklung der Bundesrepublik in den fünfziger bis siebziger Jahren eindrucksvoll bestätigt worden. Seit einigen Jahren jedoch lässt sich eine Tendenz beobachten, die – gemessen an den Wachstums- und Wohlstandserfahrungen der Mittelschicht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – beunruhigend wirkt: Die Nettolöhne und -gehälter stagnieren. Der Anteil der Bevölkerung, der nach objektiven, ökonomischen Kriterien zur Mittelschicht gerechnet werden kann, hat abgenommen. Diese Entwicklung regt zum Nachdenken an und verlangt nach einer Erklärung. Wie sieht die Zukunft der Mittelschichten in Deutschland aus? Sind wir Zeugen eines tiefgreifenden sozialstrukturellen Wandels? Was sind die Ursachen für das vermeintliche „Schrumpfen“ der gesellschaftlichen Mitte?

In jüngster Zeit hat sich eine rege Mittelschicht-Debatte entwickelt. Auch die Redakteurin der Tageszeitung Ulrike Herrmann hat sich des Themas angenommen. In der vergangenen Ausgabe der Berliner Republik war nachzulesen, „wie sich die Mittelschicht selbst betrügt“. Argumentation und Thesen decken sich mit Herrmanns jüngst erschienen Buch Hurra, wir dürfen zahlen: Der Selbstbetrug der Mittelschicht. Herrmanns Ausgangspunkt ist der Befund einer „rasend“ schrumpfenden Mittelschicht seit Beginn des neuen Jahrtausends. Dabei beruft sich die Autorin vor allem auf Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) vom Frühjahr 2008 zur Einkommensentwicklung in Deutschland. Demnach gehörten im Jahr 2000 noch 62 Prozent zur „Mitte“, im Jahr 2006 waren es aber nur noch 54 Prozent. Die Abwärtsbewegung bei den mittleren Einkommen sei, so Herrmann, vom deutschen Staat nicht gebremst, sondern sogar noch befördert worden – durch die Privilegierung der Reichen. Als Beispiele nennt Herrmann die Senkung des Spitzensteuersatzes unter der rot-grünen Bundesregierung, die zu niedrige Abgeltungssteuer auf Zinserträge und die Reform der Erbschaftssteuer. Millionäre wüssten zudem, Steuerschlupflöcher geschickt zu nutzen und kämen dadurch noch besser weg. Die Bürde der Finanzierung staatlicher Aufgaben liege damit allein bei der Mittelschicht, die schonungslos „ausgebeutet“ werde.

Der Autorin zufolge greifen drei Mechanismen ineinander, die erklären, warum die Mittelschicht mit ihrem „eher bescheidenen Wohlstand“ eine Politik unterstütze, die vor allem den Eliten diene. Erstens rechneten sich die Reichen „gekonnt“ arm und erklärten sich so selbst zu einem Teil der Mittelschicht. Zweitens verkenne die Mittelschicht den Abstand, der sie von den Eliten trenne, und glaube – irrtümlicherweise – noch immer an die Möglichkeit des eigenen Aufstiegs. Drittens verwende die Mittelschicht all ihre Kraft und Aufmerksamkeit darauf, sich von der Unterschicht abzugrenzen. Aus der „Verachtung für die Unterschicht“ entstehe die „fatale Allianz“ der Mitte mit der Elite.

Schon der erste Teil von Ulrike Herrmanns Argumentation ist bestreitbar. Lässt sich tatsächlich von einer „Ausbeutung“ der Mittelschicht sprechen? Hat nicht die Mittelschicht selbst jahrzehntelang vom deutschen Steuer- und Sozialstaat profitiert, indem sie dessen Leistungen und Fördermaßnahmen in Anspruch genommen hat? Ist nicht der Aufstieg der Mittelschicht in den trente glorieuses der Nachkriegszeit eng mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates verknüpft gewesen? Lebensstandardsicherung in der Rentenversicherung, Eigenheimförderung, steuerliche Sparförderungs- und Vermögensbildungsmaßnahmen sind nur einige Beispiele für die vielseitigen Förder- und Interventionsinstrumente des deutschen Sozialstaats. Hinzu kommen die kostenlose Inanspruchnahme sozialer Dienstleistungen und Infrastruktur sowie das gesamte Spektrum kultureller Einrichtungen wie Theater, Bibliotheken oder höhere Bildungseinrichtungen. Die Mittelschicht hat diese öffentlichen Ressourcen nicht nur zum Vergnügen in Anspruch genommen, sondern daraus auch kulturelles Kapital gebildet, das wiederum der eigenen Statussicherung dienen konnte. Gewiss, die Mittelschicht finanziert diese Leistungen mit, doch fließt am Ende auch viel an sie zurück.

Ulrike Herrmann verweist auf das Beispiel der Kranken- und Pflegeversicherung. Natürlich ist es ungerecht und ärgerlich, wenn sich bestimmte Gruppen der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung entziehen können. Dennoch ist es falsch, die Krankenversicherung als „Zusatzsteuer“ zu titulieren. Denn das deutsche Sozialversicherungssystem ist gerade nicht steuerfinanziert (wie der britische National Health Service), sondern finanziert sich über individuell erhobene Beiträge. Die Mittelschicht zahlt also vor allem für die Deckung ihres eigenen Krankheitsrisikos. Dass zugleich die Gesundheitskosten von Geringverdienern und Arbeitslosen abgedeckt und querfinanziert werden, entspricht dem System der sozialen Umverteilung (von oben nach unten!), das Ulrike Herrmann am Ende ihres Textes so ausdrücklich einfordert. Und zum Thema Abgeltungssteuer: Sind es nicht vor allem auch die Spareinlagen und Zinserträge der Mittelschicht, die von dieser neuen Steuer betroffen sind? Ein niedriger Abgeltungssteuersatz ist keine mittelschichtfeindliche, sondern eher eine mittelschichtfreundliche Maßnahme. Die deutsche Steuer- und Sozialpolitik nützt der Mittelschicht viel mehr, als sie ihr schadet. Es ist mithin falsch zu behaupten, die Mittelschicht stimme für eine Politik, „die ihren Interessen völlig entgegenwirkt“.

Auch der zweite Teil der Argumentation von Ulrike Herrmann, der auf den angeblichen „Selbstbetrug der Mittelschicht“ zielt, ist problematisch. Die Mittelschicht ist kein „Opfer“ staatlicher Politik. Doch „Täter“, im Sinne Herrmanns, ist sie auch nicht. Die These von der „Allianz mit den Eliten“, die „allein den Reichen nutzt“ und den Armen schadet, ist wenig überzeugend. Die Mittelschicht verteidigt ihre Ansprüche. Und das ist legitim.

Die aktuelle Stimmungslage in Deutschland macht es der Autorin leicht, zwischen „gut“ (Arme) und „böse“ (Reiche) zu unterscheiden. Doch in Wirklichkeit sind die Grenzen zwischen den „Klassen“ der sozialen Hierarchie nicht eindeutig. Wer ist überhaupt Elite, wer Mittelschicht? Herrmann beruft sich vor allem auf das Einkommenskriterium und wundert sich, dass „die Mittelschicht überhaupt je der Idee verfallen sein konnte, sich in der Nähe der Privilegierten zu wähnen“. Begütert sei die Mittelschicht nicht. Zu ihr zähle, wer zwischen 70 und 150 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung habe. Bei einem Single seien dies aktuell zwischen 1.000 und 2.200 Euro netto im Monat. Hier kommen Zweifel auf. Gemeint ist wohl nicht das Durchschnittseinkommen, sondern das Medianeinkommen, mit dem auch das DIW in seinen Berechnungen operiert. Diese Unschärfe ist symptomatisch. Allein mit Zahlen und Einkommensgrenzen zu argumentieren, greift zu kurz. Beginnt etwa bei 150 Prozent des Medianeinkommens bereits die „Elite“? Befinden sich eine 30-jährige Lehrerin, ein 35-jähriger Informatiker oder ein 50-jähriger Maschinenbauer wirklich jenseits der Mittelschicht, also in der „Oberschicht“?

Man kann die Zugehörigkeit zur Mittelschicht nicht allein am Kriterium des Einkommens festmachen. Vielmehr muss ein Set von Merkmalen berücksichtigt werden. Dazu gehören der berufliche Status, der Bildungsgrad, aber auch vermeintlich „weiche“, subjektive Merkmale wie bestimmte Denk- und Verhaltensweisen, Werte und Mentalitäten. Berücksichtigt man unterschiedliche Definitionskriterien, so wird deutlich: Die Mittelschicht ist heterogen und setzt sich aus einem Ensemble verschiedener marktbedingter Klassen zusammen. Damit sind auch ihre Interessen vielfältig. Sie können sich mit denen der „Unterschicht“ decken, sie können aber in anderen Bereichen durchaus auch mit denen der „Besserverdiener“, der „Elite“ übereinstimmen. Das gilt zum Beispiel für die Bildungspolitik. Eigenverantwortung und Leistungsbewusstsein, Aufstiegsstreben und Fleiß sowie die Betonung von Bildung sind klassische, aus dem Erbe der Bürgerlichkeit abgeleitete Werte der Mittelschicht. Diese Werte haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg verallgemeinert und dienten auch weiten Teilen der Arbeiterschaft als Maßstab und Orientierung. Die Ankündigung, die Bildungsförderung auszuweiten – beispielsweise mittels zusätzlicher Stipendienprogramme für leistungsstarke Schüler und Studenten – ist daher auch für die bildungsehrgeizige Mittelschicht eine gute Nachricht, und nicht lediglich ein „genialer Trick“, „der dem Nachwuchs der Elite verlässlich bestätigt, dass sie zu den Hochintelligenten zählt“. Auch ist es ein gutes Zeichen und kein Beweis von Naivität, dass der Glaube an den sozialen Aufstieg in der Mittelschicht noch existiert. Einen besseren Job zu bekommen als die Elterngeneration ist in Deutschland nicht illusorisch und auch kein Randphänomen. Aber der Aufstieg ist auch nicht mehr selbstverständlich. Dass Bildung Chancen eröffnet – auch für die Unterschicht – lässt sich kaum bezweifeln. Wichtig ist deshalb, dass die Aufstiegskanäle in die Mittelschicht offen bleiben.

Insgesamt ist die Mitte mündiger, als Herrmann sie beschreibt. Ihr Handeln erschöpft sich keineswegs darin, der Oberschicht blind nachzueifern. Gleichzeitig unterscheidet sich eine Politik für die Mittelschicht auch von einer Politik für die Unterschicht. Eine zunehmende staatliche Versorgung, im Sinne einer „von unten nach oben“ erweiterten Fürsorgepolitik, hilft der Mitte nur vordergründig. Langfristig schwächt eine solche Politik die Ressourcen der Selbständigkeit und der Kreativität in den mittleren Schichten. Außerdem mutet sie dem Staat Aufgaben zu, die er nicht erfüllen kann, und schadet damit auch sozialen Gruppen außerhalb der Mitte.

Bleibt zum Schluss noch der Hinweis auf den amerikanischen New Deal. Warum Ulrike Herrmann in ihrem Artikel ausgerechnet den Vergleich mit den Vereinigten Staaten gewählt hat, ist unverständlich. Die USA als Beispiel oder auch Vorbild der Sozial- und Steuerpolitik – das klingt beinahe zynisch. Die sozialen Reformen der dreißiger Jahre, einschließlich des Social Security Act von 1935, waren wichtige Schritte in der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung Amerikas, und dennoch bleiben die Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der Sozialpolitik bis heute Nachzügler. Bereits Ende der dreißiger Jahre nahm die Regierung einen Teil ihrer staatlichen Förderprogramme wieder zurück. Der Weg aus der Wirtschaftkrise gelang in erster Line durch den Rüstungs- und später den Nachkriegsboom. Und was den von Herrmann angeführten, in den Vereinigten Staaten im Jahr 1936 festgelegten Spitzensteuersatz in Höhe von 79 Prozent betrifft, so wäre immerhin wichtig zu erwähnen, dass dieser nur auf Einkommen erhoben wurde, die mehr als fünf Millionen Dollar betrugen – nach Abzug sämtlicher abschreibungsfähiger Titel. Inflationsbereinigt entspräche das heute einem Einkommen von etwa 78.481.000 Dollar. Der Vergleich mit den Vereinigten Staaten der dreißiger Jahre führt somit nicht weiter, ja er ist angesichts der vollkommen unterschiedlichen historischen Ausgangslage sogar irreführend.

Wenn die Erhöhung des Spitzensteuersatzes das einzige ist, was Ulrike Herrmann zur Lösung der sozialen Probleme und Herausforderungen der Zukunft vorschlägt, so ist das zu wenig. Im Übrigen führt ein hoher Steuersatz auch nicht automatisch zu höheren Steuerzahlungen der „Superreichen“ und damit zu mehr Umverteilung – wie Herrmann mit Verweis auf Berechnungen des DIW übrigens selbst argumentiert. Insgesamt drängt sich der Verdacht auf, dass es vor allem der Reiz des Tabubruchs war, der die Autorin zu ihren Thesen über die Mittelschicht verleitet hat. «

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