Honecker hätte 1987 die deutsche Einheit anbieten können

Fragen an Egon Krenz zum Untergang der DDR, zur Rolle der Sowjetunion und zu Alternativen der Entwicklung

Hatten Sie zu irgendeinem Zeitpunkt in der DDR Angst um Ihr Leben oder Ihre Freiheit?

Nein. Der Ruf "Krenz an den Galgen" kam nicht aus der DDR. Der "Herbst 89" barg allerdings viele Gefahren in sich. Bei unvernünftigem Verhalten der Staatsmacht oder bei Provokationen hätte es auch zu einer Katastrophe kommen können. Mir war wichtig, dass keine Gewalt angewendet wurde.

Sehen Sie, dass es, was die Angst angeht, vielen Ihrer Landsleute anders gegangen ist?

Die Angst, in der DDR könne Gewalt angewendet werden, wurde von vielen geschürt, nicht zuletzt von Medien der alten Bundesrepublik. Die DDR-Führung hat solche Absichten nicht gehabt. Es kam nach dem 8. Oktober 1989 zu keinen Zusammenstößen zwischen Staatsmacht und Demonstranten. In Ihrer Frage liegt eine differenzierte Sicht. Das ist heute leider selten. Sie sprechen nicht von "allen", sondern von "vielen Landsleuten". Es gab ja nicht nur die Gegner der DDR. Viele sahen in der DDR ihren Staat. Die Protestbewegung im Herbst 89 begann nicht mit der Forderung nach der deutschen Einheit. Es ging um eine reformierte DDR.

Welcher Teil der DDR-Bürger fürchtete sich vor der DDR, wenn Sie sagen, man müsse das differenzieren?

Unter denen, die uns verlassen haben, waren viele Jugendliche. Das war besonders schmerzhaft. Mir liegen soziologische Untersuchungen vor, die 1989 vom Institut für Jugendforschung in Leipzig angefertigt wurden. Danach war der wichtigste Kritikpunkt die fehlende Reisefreiheit in den Westen. Das hatte etwas mit mangelndem Vertrauen zum Staat zu tun. Unzufriedenheit lösten besonders die schlechte Versorgung mit hochwertigen Konsumgütern wie PKW, Videorecordern, Farbfernsehern, Computern usw. aus. Jemand hat einmal gesagt, das Wettrennen zwischen Mercedes und Trabant konnte die DDR nicht gewinnen. In diesem Satz liegt viel Wahrheit, weil er die ungleiche wirtschaftliche Situation der beiden deutschen Staaten anspricht. Fragen der Demokratie, die im nachhinein an die erste Stelle der Unzufriedenheit gesetzt werden, waren es damals nicht.

Wann glauben Sie, war die Zustimmung der Menschen in der DDR zu diesem Staat am größten?

Wahrscheinlich unmittelbar nach ihrer Gründung. Aus eigener Erfahrung kann ich die siebziger Jahre nennen. Die Weltoffenheit, wie sie zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten 1973 herrschte, strahlte Hoffnung aus auf eine lebenswerte Alternative zur alten Bundesrepublik. Die DDR wurde völkerrechtlich anerkannt. Die Beziehungen zur BRD wurden vertraglich geregelt. Die Grenzen nach Polen und zur CSSR wurden für den Besucherverkehr weit geöffnet. Die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik hob das Lebensniveau. Für die Kulturpolitik sollte gelten: Für das künstlerische Schaffen gibt es keine Tabus.

Warum kippte das?

Wir haben zu lange geglaubt, eine einmal konzipierte Politik braucht keine Korrekturen. Als uns nach 1976 viele bekannte Künstler verließen, haben wir die Ursache nicht in erster Linie in der gesellschaftlichen Entwicklung der DDR gesucht, sondern im Westen. Es wurde versäumt, strategische Fragen unserer Politik mit der Bevölkerung offen zu besprechen. Wir haben ungenügend Schlussfolgerungen gezogen aus der weltweiten wissenschaftlich-technischen Revolution. Unser Zurückbleiben bei den Hochtechnologien vergrößerte unseren Abstand in der Arbeitsproduktivität zur BRD. Es begann die Zeit von zwei Währungen in der DDR. Wer über DM verfügte, konnte sich mehr leisten als der, der nicht an die DM herankam. Das spaltete die Gesellschaft.

Die Freiheit fehlte.

Ja, sag mir, welche Freiheit meinst du? Die Freiheit ist so unbegrenzt jetzt auch nicht. Wer Arbeit hat, empfindet sie anders als derjenige, der keine hat. In der DDR war das Wort Arbeitslosigkeit ein "Fremdwort". Wer heute über Vierzig ist, und keine Arbeit hat, fühlt sich oft aus der Gesellschaft ausgegrenzt.

Sie haben in Ihrem Buch "Herbst 89" anklingen lassen, oder sagen wir offen gelassen, ob das Ende der DDR durch "Verrat" seitens der Sowjetunion eingeleitet wurde.

Nein, die Ursachen für den Untergang der DDR liegen viel tiefer. Sie liegen weder im Verrat Gorbatschows noch allein in den Dummheiten Honeckers, Krenz′, Modrows oder des SED-Politbüros begründet. Es sind geschichtliche, weltpolitische, ökonomische und auch subjektive Faktoren, die zum Untergang der DDR führten. Das sozialistische System in Europa hat den Kalten Krieg verloren.

Eine Frage aufwerfen, heißt ja auch eine Vermutung zulassen.

Gorbatschow war für die DDR-Bürger eine große Hoffnung, heute sind viele von ihm enttäuscht. Manche werfen ihm auch Verrat vor. Ich gehöre nicht dazu. So laufen gesellschaftliche Prozesse nicht ab. Ich habe ihm 1989 voll vertraut. Sonst hätte ich mich im Oktober 89 nicht gegen Honecker gestellt. Vermutungen lasse ich in meinem Buch nur dort zu, wo noch nicht alle Fakten bekannt sind. Bisher liegen nur die Akten der DDR offen. Die der alten Bundesrepublik, der USA und Russlands sind noch verschlossen. Wenn zum Beispiel bekannt wird, was Gorbatschow und Bush Anfang 1989 vor der Küste Maltas besprochen haben, wird der Weg, der zur Einheit Deutschlands geführt hat, klarer, als er bisher ist.

1984 schon, so stellen Sie in Ihrem Buch dar, hat man von sowjetischer Seite vorgefühlt, ob es nicht an der Zeit wäre, Honecker abzulösen. Bei Ulbricht war es ja so, dass Honecker sich von Moskau den Segen geholt hat, Ulbricht abzulösen. Wie anders wäre die Entwicklung in der DDR gelaufen, wenn es schon 1984 den Wechsel gegeben hätte?

1984 ging es nicht um Reformen, sondern um Raketen. Honecker stand bei der sowjetischen Führung im Verdacht, Bündnisinteressen zu verletzen. Er hatte gefordert, dass alle Raketen vom deutschen Boden verschwinden müssen. Er wollte 1984 die BRD besuchen, um so zur deutsch-deutschen Entspannung beizutragen. Das stieß in Moskau auf Widerstand. Ob es nach dem Machtantritt Gorbatschows im März 1985 bei einem Führungswechsel in der DDR einen grundlegenden Wandel gegeben hätte, ist Spekulation. Für mich wäre aber klar gewesen: Die DDR kann sich nur wandeln im Schulterschluss mit der Sowjetunion. Wer kann heute schon mit Bestimmtheit sagen, was aus der Perestroika Gorbatschows geworden wäre, wenn sich alle sozialistischen Länder Europas mit ihm verbündet hätten?

Wie hätte eine sozialistische DDR denn nach zehn Jahren Krenz ausgesehen?

Ich mag keine Spekulationen

Sie schreiben aber selbst spekulativ: Wenn Honecker 1987 die Initiative ergriffen und deutschlandpolitisch die Bundesrepublik unter Druck gesetzt hätte, dann ...

Ich beziehe mich auf eine Äußerung von Erich Honecker, nach der er schon 1987 aus amerikanischen Quellen gewusst haben will, dass die UdSSR bereit sei, die DDR aufzugeben. Ich hatte diese Informationen nicht. Wenn Honeckers Version stimmt, hat er bei seinem Besuch 1987 in der BRD eine große Chance verpasst. Stellen Sie sich vor, er hätte Kohl vorgeschlagen, den Weg einer deutschen Konföderation zu beschreiten. Die DDR hätte die deutschlandpolitische Initiative gehabt. Die deutsche Einheit hätte langfristig vorbereitet werden können. Sie wäre zu Bedingungen zustandegekommen, die ehrenvoller für die DDR-Bürger gewesen wären, als sie es 1990 waren. Die Geschichte lässt aber keinen Konjunktiv zu. Man muss sich an Tatsachen halten.

Honecker hat stattdessen gesagt, dass Sozialismus und Kapitalismus wie Feuer und Wasser zueinander seien.

Das Bild stimmt ja heute noch. Er war nur keine Antwort auf die Information - die Honecker angeblich gehabt haben will -, dass die Sowjetunion die DDR aufgeben wolle.

War für Sie persönlich die deutsche Einheit ein Ziel?

Nein. Ich gehöre zu einer anderen Generation als Honecker. Ich bin mit der deutschen Zweistaatlichkeit groß geworden. Übrigens haben Medien der alten Bundesrepublik auf diesen Umstand rechtzeitig hingewiesen. Als ich 1983 Mitglied des Politbüros wurde und in die Rolle des "Kronprinzen" kam, stand in Artikeln verschiedener Zeitungen, Krenz sei für den Einheitsgedanken der denkbar schlechteste Partner. Honecker denke als Saarländer viel stärker gesamtdeutsch als Krenz, der die deutsche Einheit nur aus frühester Kindheit kennt.

Als wie wacklig haben Sie das System der Bundesrepublik eingeschätzt?

Wacklig war das System der Bundesrepublik für mich nicht. Es war mir fremd. Ich war mir aber immer bewusst, dass uns mit dem anderen deutschen Staat nicht nur der größere, sondern auch der ökonomisch stärkere gegenübersteht. Feindbilder gab es auf beiden Seiten. Gegenüber den Bürgern der BRD habe ich nie Hass empfunden. Die Gesellschaftsordnung passte mir nicht.

Gefällt sie Ihnen heute?

Fragen Sie mich was leichteres. Ich stehe unter Polizeiaufsicht, durfte mich zeitweilig nur in Berlin und Brandenburg aufhalten, habe keinen Personalausweis, darf meinen Wohnsitz nicht ohne Zustimmung des Gerichts ändern, muss mich regelmäßig bei der Polizei melden, bin in erster Instanz zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Zudem erhebt die Bundesrepublik Anspruch auf mein Haus, das meine Familie nach DDR-Recht redlich erworben hat. Dennoch würde ich Deutschland nie verlassen. Hier bin ich zu Hause. Hier stelle ich mich meiner Verantwortung. Hier will ich beitragen, deutsche Nachkriegsgeschichte aufzuarbeiten.

Gehen Sie wählen?

Ja.

Darf man fragen, wen?

Die PDS hat mich 1990 ausgeschlossen. Das hindert mich nicht daran, sie zu wählen. Sie ist ja inzwischen im Osten eine Volkspartei, die in einigen Ländern bei Wahlen die SPD überflügelt. Ich sage das gegenüber der SPD nicht zynisch. Ich freue mich zwar, dass die PDS mehr Stimmen als die SPD hat; es ärgert mich aber, dass die SPD weniger als die CDU hat.

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