Hohepriester und nützliche Idioten

Das Paradiesversprechen der Piratenpartei ist die totale Freiheit im Internet, ihr Gottseibeiuns heißt Zensur. Dass sie mit dieser Agenda die Interessen von Internet-Industrie und Kriminellen bedienen, haben die Piraten noch gar nicht begriffen

Sie kämpfen für die totale Freiheit im Inter­net – als Abgeordnete müssen sie nun im Parlament ihre Pseudonyme fallen lassen. Sie sind hip, auch bei Anhängern der Altparteien. Die Rede ist von den „Piraten“. Bei den jüngsten Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus bekam die Pira­ten­par­tei rund neun Prozent der Wähler­stim­men – ein Ergebnis, das wie eine Ini­tial­zündung wirkt. Nicht nur die Grünen stolpern den Wählern der Piratenpartei devot hinterher und wollen jetzt auch die totale Freiheit im Netz retten.

Wer sich selbst als „Pirat“ bezeichnet, verrät viel über sein Welt- und Selbstbild. Die in Hollywoodfilmen romantisch verbrämten Räuberbanden waren in Wirk­lichkeit Barbaren. Also: Wer kapert hier wen oder was? Und was macht die Piraten­partei so attraktiv? Sicher nicht nur die Ver­dros­senheit über die Altparteien. Die Popularität rührt auch daher, dass die Pi­raten erst gar nicht behaupten, ein schlüs­siges Programm zu haben, Fakten und politische Zusammenhänge zu kennen. Die Medien tun ihr Übriges und erheben die fehlende politische Erfahrung zur Atti­tüde. Keine Verantwortung zu tragen wird zum sympathischen Parteipro­gramm. Die Pi­raten sind eben Kinder und Aus­druck ihrer Zeit.

Das Paradies ist das Internet

Das Paradies-Versprechen der Piraten­par­tei ist das vollkommen freie Internet, das allen Menschen umfassende Bildung und den totalen Einblick in politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Pro­zes­se ermöglicht. Eine Verheißung, die auch modernen Hacker-Unternehmern wie dem Wikileaks-Gründer Julian Assange bei den Jungen, bei linken Gruppen und Globalisierungsgegnern Bewunderung und Sympathien entgegenbringt. Jedem Anarchisten muss das Herz höher schlagen: Denkt man die Texte der Piraten weiter, müssten nicht nur Urheberechte, Patente und das Recht auf geistiges Eigen­tum fallen, sondern auch harte Drogen und das Schwarzfahren legalisiert werden. Die Weltrevolution durch die Rächer der Unwissenden, die Befreiung der Unmün­digen aus der Unmündigkeit scheint nicht mehr weit.

Das Telefon hat Hitler nicht verhindert

Wer die Technik nicht versteht, sollte nach Meinung der Piraten erst gar nicht politisch darüber urteilen. Wer sich für Netz­sperren einsetzt, wird von der Szene, aus der die Piraten hervorgingen, schnell als „Zensursula“ gemobbt und über Wiki­pedia verunglimpft. Der zentrale Glau­bens­satz dabei: „Das Internet kennt keine Grenzen.“ In Wahr­heit bestimmen wie bei jeder Erfin­dung aber Menschen, ob die Technik einer humanen Entwicklung der Zivilisa­tion nützt oder schadet. Das Inter­net ist wie jede andere Technik: weder gut noch böse, weder links noch rechts, sondern beliebig.

Die Internetindustrie verdient Milliar­den mit Patenten und Lizenzen, mit dem Handel persönlicher Daten und mit Wer­bung. Für ein seriöses Netz, für eine effiziente Selbstregulierung und die Durch­setzung internationaler Regeln müs­sten die Profiteure des Internet einen hohen Preis zahlen. Der Chef des Verbands der Internetwirtschaft ECO schätzt, dass allein die gesetzliche Sperrung so genannter Kinderporno-Seiten in Deutschland mehr als 100 Millionen Euro im Jahr kosten würde. Da kommen die Piraten für das total freie Internet gerade recht.

Und ob das Internet, wie bei den nordafrikanischen Aufständen, der subversiven Kommunikation und damit dem Kampf für Demokratie dient, ist längst nicht ausgemacht. Zwar sind das verfügbare Wissen und mehr Transpa­renz von Politik und Wirtschaft wichtige Voraus­setzungen für Emanzipation. Aber die Erfindung des Telefons hat weder Stalin noch Hitler verhindert. Die Nutzer entscheiden, wie und für welche Interessen sie eine Kommuni­kations­technik einsetzen.

Aus diesen Gründen müssen sich die Piraten bewusst werden, welche soziale Verantwortung sie übernehmen, wenn sie allen nationalen und internationalen Ver­suchen widersprechen, das Internet demokratisch legitimierten Regeln und Sicher­heitskontrollen zu unterwerfen, etwa der Sperrung von kriminellen Homepages oder der Verbrechensbekämpfung via Vor­ratsdatenspeicherung. Jeder demokratisch legitimierte Regulierungsversuch gilt ihnen als Einfallstor für verfassungsfeindliche staatliche Zensur. Würde dieser Maßstab auch bei allen nicht-virtuellen Me­dien angelegt, müssten viele Jugend­schutz- und Strafgesetze sofort abgeschafft werden. Es ist erstaunlich, dass diese fundamentalistische Gehirnwäsche, wie man sie bei den Debatten um das „Zugangser­schwerungsgesetz“ der Großen Koalition 2009 beobachten konnte, in Politik und Öffentlichkeit offenbar prima funktioniert.

Surfer müssen schwimmen können

Nach den Wahlen 2009 hat die schwarz-gelbe Regierung zunächst verfassungswidrig den Vollzug des von einer Bun­destags­mehrheit beschlossenen und ord­nungs­gemäß in Kraft getretenen Ge­setzes gestoppt. Anschließend schaffte sie das Gesetz unter dem Druck der In­dus­trie und ihrer eigenen jungen „Fach­leute“ ganz ab. Während Frankreich und Großbritannien neue Zugangser­schwer­nisse für kriminelle Inhalte einführten, entspricht der neue Gesetz­ent­wurf der Koalition den Forderungen der Inter­net­industrie. Klar ist: Technische Mittel wie das „Löschen und Sperren“ von kriminellen Seiten reichen für den Verbraucher- und Kinderschutz allein nicht aus. Kri­tische Medienkompetenz muss fächerübergreifend in den Schulen vermittelt werden und Eltern müssen den Medien­konsum ihrer Kinder verantwortlich begleiten. Wer surfen will, sollte vorher schwimmen lernen.  

Auch die Piraten müssen sich dem Missbrauch der Technik stellen: Daten­klau,  illegales Glückspiel, Cyber-Mobbing, sexistische Werbung, der „Kinderporno­grafiemarkt“ – dies alles findet im internationalen Windschatten der Cyber-Freiheit statt. Die Partei sollte helfen, diese Ma­chen­schaften zu unterbinden und sich für den Verbraucher-, Daten- und Kinder­schutz im Netz einsetzen. Ein Beispiel ist der von Datenschützern geforderte Daten­brief, der Anbieter verpflichtet, alle Nutzer regelmäßig über ihre gespeicherten persönlichen Daten zu informieren. Dass versierte Kriminelle Internetsperren leicht umgehen können, ist kein überzeugendes Gegenargument, denn vor Gericht käme niemand mehr mit der Entschuldigung durch, er sei zufällig auf pädokriminelle Seiten gelangt.

Womöglich ungewollt treten die Pira­ten stattdessen für das Recht der Stärkeren ein und machen sich zum Helfer technisch versierter Krimineller. Allerdings sollten wir uns alle selbst an die Nase packen, wenn wir nicht Opfer von Cyber-Kriegen und organisierter Internetkriminalität werden wollen. Gebraucht wird eine demokratische Avantgarde, die für die Belan­ge der Konsumenten eintritt, für Freiheit in sozialer Verantwortung, für gleiches Recht auf Bildung und Information, außerdem für den Kinder- und Jugendschutz im Internet. Bei aller Notwendigkeit, Behör­den zu kritisieren, sollten die Piraten unserer Staats­ge­walt dabei helfen. Um das zu erreichen, ist aktive Einmischung und ein aufklärender gesellschaftlicher Diskurs gefragt. Hohe Priester, die uns das Paradies der Freiheit versprechen und nützliche Idioten, die mangels eigener Ideen dazu wohlfeilen Beifall klatschen, brauchen wir hingegen nicht. «

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