Hoffentlich will überhaupt jemand rein

Ab 1. Mai herrscht fast überall in der EU völlige Freizügigkeit für Arbeitnehmer. Maßlose Befürchtungen sind unbegründet - übertriebene Hoffnungen aber auch

Zur Vollendung der EU-Osterweiterung wird es weder Staatsakte noch Feuerwerke geben – sie wird ganz prosaisch zu Ende administriert. Hinter dem bürokratischen Wortungetüm „Ende der Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit“ verbirgt sich die Abschaffung eines letzten Stücks europäischer Teilung: Erst ab dem 1. Mai 2011 gilt die Grundrechte-charta der Europäischen Union im vollen Umfang für die Bürger der EU-Beitrittsstaaten Polen, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Tschechien, Slowenien und der Slowakei – und damit verbunden das Recht, ganz legal auch in Deutschland und Österreich zu arbeiten.

Gleichzeitig geht damit eine Phase deutscher und europäischer Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zu Ende, in der vernunftorientierte Argumente und interessengeleitete Emotionen heftig aufeinander prallten. Die Bundesregierung nutzte die Übergangsfristen mit dem Ziel, den deutschen Arbeitsmarkt zu schützen. Die Gründe dafür waren Prognosen über große Migrationsströme, die Situation auf dem Arbeitsmarkt und die Anfang 2000 noch gravierenden Lohnunterschiede. Wie so oft haben Alarmisten die deutsche Massenarbeitslosigkeit und diverse Horrorszenarien ausgenutzt, um eine verzerrte, polarisierte Debatte zu befeuern.

Spekulation bestimmt die Debatte

Vertreter einer eher defensiven Position warnten vage vor „wirtschaftlichen und sozialen Brüchen“ (so der Koalitionsvertrag der rot-grünen Bundesregierung 1998) oder vor „unzumutbaren Belastungen für unseren Arbeitsmarkt“ (Europamanifest der CDU 2004). Nicht zuletzt der Anspruch, die Sorgen und Anliegen der Bevölkerung (und der Stammtische) ernst zu nehmen, machte die Berliner Volksparteien zu erfolgreichen Advokaten umfassender Übergangsregelungen. Obwohl sich die sozioökonomische Situation mittlerweile deutlich entspannt hat, argumentieren Vertreter der alarmistischen Schule wie der Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo, Hans-Werner Sinn, bis heute ähnlich. Sinn prophezeit den „bald einsetzenden Sturm der EU-Migranten“ und eine weitere Einwanderung in das Sozialsystem. Sinns Menetekel einer drohenden Immigrationswelle hat freilich wenig mit der
Arbeitnehmerfreizügigkeit ab kommendem Mai zu tun. Und seine Einwanderungsszenarien („Irgendwo müssen sie hin“) bleiben ebenso spektakulär wie spekulativ.

Doch auch die Position der optimistischen Schule, die sich vom 1. Mai die Lösung arbeitsmarktpolitischer Strukturprobleme erhofft, beruht eher auf Wunschdenken als auf belastbaren Zahlen. Die Forderungen der Arbeitgeberverbände nach flexiblen Übergangsfristen dienten dem Interesse, den Mühen der deutschen Arbeitsbeziehungen und dem sich abzeichnenden Fachkräftemangel mithilfe günstiger Arbeitskräfte aus Mittelosteuropa zu entgehen – ohne Rücksicht auf die arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Folgen.

Beide Positionen verbindet eine grundlegende Fehleinschätzung der quantitativen und qualitativen Dimensionen der Arbeitnehmerfreizügigkeit und des sozioökonomischen Wandels. Was also ist realistischerweise zu erwarten?

Die wenigsten wollen nach Ostdeutschland

Aktuelle Studien zeigen: Grundsätzlich wird die Öffnung der Arbeitsmärkte langfristig relativ geringe Auswirkungen haben – weder positive noch negative. Die Friedrich-Ebert-Stiftung geht in einer aktuellen Studie von einem jährlichen Zuwanderungspotenzial für Deutschland von insgesamt 51.000 bis 134.000 Menschen aus den neuen Mitgliedsstaaten aus, vor allem in die wirtschaftsstarken Metropolen Westdeutschlands. Die Grenzregionen selbst werden aufgrund ihrer strukturellen Schwächen sogar eher unterdurchschnittlich betroffen sein. So wird sich voraussichtlich der Anteil der Beschäftigten aus den neuen EU-Staaten an allen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in Brandenburg in den kommenden vier Jahren von heute 0,4 Prozent auf lediglich 1,2 Prozent erhöhen – trotz einer gemeinsamen Grenze des Bundeslandes mit Polen von über 250 Kilometern.

Gute Leute verdienen inzwischen auch in Mittelosteuropa gutes Geld

Warum ist das so? Zum einen lässt sich heutzutage als Fachkraft auch in Mittelosteuropa gutes Geld verdienen: Die Reallöhne in den acht Staaten, für die ab Mai die volle Freizügigkeit gilt, sind allein im Zeitraum 2000 bis 2008 um durchschnittlich 81 Prozent angestiegen. Zum anderen ist die große Gruppe potenziell Auswanderungswilliger aus der Region in den vergangenen Jahren bereits nach Großbritannien beziehungsweise Irland gegangen, wo es keine vergleichbaren Übergangsfristen gab. Allein zwischen 2004 und 2007 sind fast zwei Millionen Polen in andere EU-Länder ausgewandert! Auch dadurch hat sich der Migrationsdruck in Richtung Deutschland beträchtlich abgeschwächt. Dass diese Auswanderer als moderne Arbeitsnomaden den jeweils höchsten Wachstumsraten hinterher ziehen, wie Hans-Werner Sinn glaubt, ist reine Spekulation. Dagegen sprechen die existierenden Migrantennetzwerke in den angelsächsischen Ländern und die größere Verbreitung von Englisch als Fremdsprache.

Dennoch könnten einzelne Segmente des Arbeitsmarktes durchaus sensibel auf die neue Situation reagieren. Wo bisher noch keine branchenspezifischen Mindestlöhne existieren, kann es, ebenso wie im geringqualifizierten Bereich, zu Lohnkonkurrenz und Verdrängungseffekten kommen, wenn osteuropäische, aber auch einheimische Arbeitgeber ihren osteuropäischen Beschäftigten bei Tätigkeiten in Deutschland niedrigere Löhne zahlen. Um das zu verhindern, ist die Lohnuntergrenze in der Leiharbeit ein erster Schritt in die richtige Richtung. Zusätzlich muss Missbrauch und krimineller Energie bei Schwarzarbeit, Scheinselbständigkeit und Entsendungen wirksam entgegengewirkt werden. Denn die nach wie vor bestehende Lohndifferenz zwischen Deutschland und den neuen Mitgliedsländern birgt das Risiko, dass vor allem Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor gegeneinander ausgespielt werden. Noch immer verfügen deutsche Arbeitnehmer über zweieinhalb Mal mehr Kaufkraft als ihre polnischen Kollegen.

Unseren Fachkräftemangel müssen wir anders in den Griff bekommen

Dennoch entsprechen die zu erwartenden negativen Effekte keineswegs den Schreckensszenarien der Alarmisten: Dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zufolge ist nach dem 1. Mai 2011 mit einer kurzfristigen Lohnverringerung um durchschnittlich 0,1 Prozent und einer Steigerung der Arbeitslosenquote um ebenfalls 0,1 Prozent zu rechnen, langfristig jedoch mit konstanten Löhnen und Arbeitslosenquoten. Umgekehrt gilt: Auch die positiven Effekte der Arbeitnehmerfreizügigkeit werden nur geringfügig sein. Das deutsche Fachkräfteproblem wird sich damit keineswegs lösen lassen. Die Autoren einer aktuellen Fachkräftestudie des Prognos-Instituts gehen allein für Berlin und Brandenburg davon aus, dass bis 2030 rund 460.000 Fachkräfte fehlen, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Gerade für Ostdeutschland mit seinen wenig entwickelten Migrationsstrukturen bietet die Freizügigkeit also eine Chance, den Fachkräftemangel und die negativen Folgen des demografischen Wandels abzufedern. Mehr als eine relative Verkleinerung des Problems darf man allerdings nicht erwarten: Modellrechnungen zufolge kann Brandenburg mit einer Nettozuwanderung von gerade einmal 2.000 Menschen pro Jahr rechnen.

Welche Hausaufgaben vor uns liegen

Folglich werden die Strukturprobleme unseres Arbeitsmarktes aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit weder eskalieren noch verschwinden. Statt Schreckensszenarien aufzubauschen oder sich Illusionen hinzugeben, sollten die arbeitsmarktpolitischen Akteure ganz einfach ihre Hausaufgaben machen: Dazu gehört, die verbleibenden Schlupflöcher für Lohndumping zu schließen, etwa mithilfe eines allgemeinen Mindestlohns und der Ausweitung des Entsendegesetzes auf weitere Branchen. Bestehende Kontrollmechanismen gegen Missbrauch müssen wirksam angewendet werden. Außerdem kommt es darauf an, die Chancen des offenen Arbeitsmarktes zu nutzen und qualifizierte Fachkräfte aus Mittelosteuropa für Jobs in Deutschland zu begeistern – durch gute Arbeit, faire Löhne und die verbesserte Anerkennung ausländischer Studienabschlüsse mit dem Ziel grenzübergreifender Arbeitsmärkte. Denn hochmobile und weltweit gesuchte Fachkräfte können sich ihre Arbeitsplätze längst aussuchen. Sie kommen auch ohne Deutschland zurecht – Deutschland aber nicht ohne sie.

Die Fachkräftesicherung bleibt also ein hausgemachtes deutsches Problem und gehört auf längere Zeit ganz oben auf die Agenda der Politik. Kleine, aber wichtige Schritte sind gefragt, und zwar entlang der gesamten Bildungsbiografie: Die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss muss deutlich gesenkt werden. Ferner brauchen wir mehr Berufsbildungs- und Hochschulabschüsse, besonders in den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern, sowie eine höhere Beteiligung an der Weiterbildung. Gleichzeitig müssen wir noch mehr tun für die bessere Vereinbarung von Beruf und Familie, darunter auch Beruf und Pflege. Gerade für Frauen müssen wir mehr Möglichkeiten schaffen, sich am Erwerbsleben zu beteiligen und dorthin zurückzukehren – wenn sie es wollen auch in Vollzeit. Das Thema Gleichstellung wird in diesem Jahrzehnt nicht nur das große gesellschaftspolitische, sondern auch das große ökonomische Thema werden. Die nächste Revolution in Deutschland wird in unserer Arbeitswelt stattfinden. Es ist auch höchste Zeit dafür. «

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