Höchststrafe für Roland Koch

Wer eine patriarchalische Kultur der Ausgrenzung stützt, darf sich nicht wundern, wenn es zu Gewaltexzessen männlicher Jugendlicher kommt. Die richtige Antwort darauf lautet nicht "Noch mehr Härte", sondern Integration und Teilhabechancen für alle

Erst skandalisiert die deutsche Öffentlichkeit monatelang die Kinderarmut – dann präsentiert Roland Koch mit seinem vermeintlichen Wahlkampfschlager die einfache Lösung des Problems: Ausweisen und wegsperren! Härtere Strafen für gewalttätige Kinder und Jugendliche! Steckt sie in „Bootcamps“ wie in den Vereinigten Staaten, brecht ihre Persönlichkeit („to boot“ – mit Stiefeln treten)! Kurz: Der Staat soll mit barbarischen Mitteln gegen barbarische Ausfälle Minderjähriger vorgehen. In den Vereinigten Staaten hat man mittlerweile erkannt, dass dieses Konzept gescheitert ist. Aber was soll’s und wer weiß das schon.

Die Bilder aus der Münchener U-Bahn und ihre permanente Wiederholung in den Massenmedien waren übermächtig und kaum mit vernünftigen Argumenten zu relativieren. Die Frage, wie und warum denn diese Bilder aus den Überwachungskameras öffentlicher Sicherheitsbehörden für eine populistische Hetze von privaten Medien und Parteien missbraucht werden konnten, hat niemand gestellt. Auch nicht die Frage nach der Verantwortung der Erwachsenen, die weggucken und denen egal ist, ob die Integration von Einwandererkindern gelingt.

Kein Zweifel, Staat und Gesellschaft müssen der Gewalt jugendlicher Straftäter entschlossen entgegentreten. Selbstverständlich mit geeigneten Mitteln. Die Realitäten und Verantwortlichkeiten müssen benannt werden. Tabuisierung und falsche Toleranz sind abzulehnen, heuchlerische und volksverhetzende Wahlkampagnen allerdings auch.

Neben der angemessenen Reaktion auf Gewalttaten müssen wir vor allem die Gewaltprävention von Anfang an – in Kindertagesstätten, Schulen, Ausbildung und Jugendhilfe – endlich ernst nehmen. Das bestehende Jugendhilfe- und Jugendstrafrecht gibt den Jugendämtern, der Polizei und den Gerichten alle geeigneten Mittel an die Hand, schnell, fallgerecht und auch hart auf extreme Gewalt zu reagieren. Deshalb lehnten im Jahr 2006 alle, auch die unionsgeführten Bundesministerien einen Vorschlag des Bundesrates zu Strafverschärfungen ab.

Schon jetzt sind sofortige Haft, Warnschussarrest, die Ausweisung nach schweren Straftaten, Erziehungscamps und dauerhafte Unterbringung in geschlossenen Einrichtungen möglich, und sie werden häufig praktiziert. In Wahrheit fehlt es in den zuständigen Bundesländern und Kommunen aber immer wieder an der konsequenten Durchsetzung. Auch in Hessen, das bei dieser Fehlentwicklung paradoxerweise an der traurigen Spitze steht, wurden Mittel für Polizei, Justiz und Jugendhilfe von Ministerpräsident Roland Koch erheblich gekürzt; Haftplätze für jugendliche Straftäter sind nicht ausreichend vorhanden. So kommen die langen Wartezeiten zustande, bis ein Straftäter seine Haftzeit antritt.

Fast überall mangelt es an Personal

Gegen Jugendgewalt und Kriminalität gibt es vielfältige und erfolgreiche Konzepte, und viele Jugendrichter, Polizisten und Jugendarbeiter leisten hervorragende Arbeit. Es ist schlicht unverschämt, diejenigen als zu lasch und liberal zu diffamieren, die diese schwierige Aufgabe für den Staat erfüllen. Fast überall mangelt es an Personal und sachgerechten Hilfen. Sozialarbeit und Resozialisierung haben keine starke Lobby und sind chronisch unterfinanziert – besonders in Hessen und anderen unionsgeführten Bundesländern.

Zwar ist die Jugendkriminalität bei Gewaltdelikten leicht gestiegen, doch insgesamt geht sie zurück. Auch wurde der Opferschutz verbessert. Wo die Verantwortlichen gut zusammenarbeiten und schnell reagieren, wie etwa in dem Remscheider Pilotprojekt „Gelbe Karte“ zur raschen Verurteilung jugendlicher Straftäter, lässt sich die Rückfallquote auf zehn Prozent reduzieren. Davon ist der Erwachsenenstrafvollzug meilenweit entfernt.

Extreme Gewaltdelikte gegen Fremde kommen vor allem in rechtsextremen, sozial benachteiligten, aber auch verwahrlosten Gruppen von Jugendlichen vor. Unter Einwandererfamilien ist die Armutsrisikoquote um ein Mehrfaches höher und die Quote bei den Bildungsabschlüssen weit niedriger als in deutschstämmigen Familien. Das entschuldigt keine einzige Tat, doch diese Fakten muss zur Kenntnis nehmen, wer ernsthaft an der Lösung der Probleme interessiert ist.

Die aktuellen Forderungen nach Verschärfung des Jugendstrafrechts lenken von diesen Ursachen ab – zudem sind sie kontraproduktiv. Die Abschreckungseffekte sind fraglich. Oftmals verstärken längere Haftstrafen kriminelle Karrieren; außerdem ändern sie nichts an der öffentlichen Gefahr. Kein Wunder, dass die Vorschläge der Union von fast allen Fachleuten (Sozialarbeitern, Polizisten, Richtern) abgelehnt werden. In Wirklichkeit kommt es auf ausreichende Vorbeugung, die konsequente Durchsetzung der Gesetze und das richtige Vorbild der Erwachsenen an. Allerdings werden Gewaltdelikte nie ganz zu vermeiden sein. Diese Botschaft wäre eine Illusion.

Politik der niederen Instinkte

Das von skrupellosen Machtpolitikern wie Roland Koch und Boulevardmedien wie Bild kurz vor den Landtagswahlen erzeugte Bild von „laschen“ Achtundsechziger-Richtern, Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen ist falsch, durchsichtig und heuchlerisch. Wie schon im Jahr 1999 bei der erfolgreichen Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft („Wo kann man hier gegen Ausländer unterschreiben?“) nutzen Roland Koch und die Unionsführung mangels überzeugender Zukunftskonzepte die Ängste und niederen Instinkte einer angeblich „schweigenden Mehrheit“, der Stammtische und tatsächlich verängstigter Bürger für parteitaktische Zwecke. So können sie von eigenen Fehlern und effizienten Lösungen ablenken. Dass sie die Gesellschaft spalten und Rassenhass gegen Jugendliche aus Einwandererfamilie und Ausländer schüren, nehmen sie in verwerflicher, unchristlicher Weise in Kauf. Die Kanzlerin hat diese Taktik unterstützt, was einiges über ihre Rolle in der Union und ihre Beliebigkeit aussagt. Es wurde Zeit für Fachleute, Praktiker und unabhängige Journalisten, sich zu wehren.

Wer es nicht anders lernt, der schlägt zu

Statt Ängste zu schüren, sollten sich die Unionschristen folgendem Zusammenhang stellen: Fast alle besonders auffälligen Gewalttäter sind schlecht integrierte männliche Jugendliche mit Rollenproblemen und fehlenden persönlichen wie beruflichen Perspektiven, die zu gesellschaftlicher Anerkennung führen könnten. Ihre familiäre Umgebung ist oft geprägt von überkommenen, fundamentalistischen Vorstellungen, etwa der Gewaltherrschaft des männlichen Patriarchen über Frauen und Kinder – diese Leitkultur ist besonders im konservativen Islam, aber auch im katholisch geprägten Christentum verankert. Deshalb hat dieser Zusammenhang Relevanz, unabhängig davon, ob Jugendliche deutscher oder ausländischer Abstammung sind. Mit einer solchen kulturellen Prägung einher geht eine stärkere Akzeptanz von Gewalt in der Erziehung („Eine Ohrfeige hat noch niemandem geschadet!“), die Abwertung von Rechten für Frauen, Kinder, Schwächere und Andersdenkende sowie ein besonderes Rollenbild männlicher Führerfiguren (Patriarchat, Machokultur). Wer keine anderen Konfliktlösungsstrategien lernt, der schlägt zu.

Religiöse Fundamentalisten, Rechtsextreme und auch manche Bürgerlich-Konservative halten diese angeblich zu schützenden „Werte“ hoch. Diese Haltung richtet sich nicht nur gegen den Geist unserer Verfassung. In Wirklichkeit erzeugen diese Werte neue Gewaltpotenziale, ganz besonders in Verbindung mit materieller Armut, Ausgrenzung und mangelnder Bildung. Auch diese Tatsachen dürfen nicht verschwiegen, sondern müssen offensiv angegangen werden.

In der Elementarerziehung und in den Grundschulen fehlen wegen geringerer Qualifikation und Bezahlung männliche Erzieher und Lehrer, die Jungen eine andere Rollenidentität vermitteln könnten. In der christlichen Tradition war dies eben Frauenarbeit („Gott vergelt’s!“). Für eine gelingende Integration in unsere Gesellschaft ist – neben dem ausreichenden Spracherwerb – eine zivilisierte männliche Sozialisation wichtig. Dafür müsste die Elementarerziehung entsprechend ausgebaut werden. Genau dies haben die Union sowie einige Bundesländer lange verhindert, derzeit versuchen sie, derartige Bemühungen mit Forderungen nach kostengünstigen Tagesmüttern und einem „Betreuungsgeld“ zu konterkarieren.

Immer wieder Blockade und Verzögerung

Die Christdemokraten haben in der Geschichte der Bundesrepublik fast alle Reformen blockiert oder verzögert, die auf den Wandel von überkommenen und autoritären Strukturen zielten. Ein gutes Beispiel ist das Familienrecht, etwa die Gleichstellung oder der Gewaltschutz für Frauen. Zugleich haben sie sich stets gegen eine moderne Integrationspolitik und ein integriertes Schulsystem gewandt, das gleiche Bildungs- und Teilhabechancen für alle Kinder von Anfang an und unabhängig von der sozialen oder ethnischen Herkunft ermöglicht.

Wer eine patriarchalische Kultur der Ausgrenzung stützt oder als „Familiensphäre“ schützt, sich dann über Gewaltexzesse von männlichen Jugendlichen empört und diese mit Hilfe einiger Hetzblätter heuchlerisch als Wasser auf die eigenen Mühlen deutet, wer also erst Probleme mit verursacht und dann „Haltet den Dieb!“ ruft – der gehört in Wirklichkeit selbst bestraft.

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