Hände weg vom Präsidenten!

Eine Direktwahl passt nicht zum Amtsverständnis unseres Staatsoberhauptes - ein neues Wahlverfahren in der Bundesversammlung schon: Warum der Bundespräsident in Zukunft mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit gewählt werden sollte

Wann immer die Wahl oder Wiederwahl eines Bundespräsidenten ansteht, kann man sicher sein, dass von Politikern, journalistischen und wissenschaftlichen Beobachtern und Teilen der interessierten Öffentlichkeit die Forderung erhoben wird, das bisherige indirekte Wahlverfahren durch eine unmittelbare Volkswahl zu ersetzen. Das war und ist auch bei der jetzt bevorstehenden Neuwahl nicht anders, nur dass die Fürsprecher einer Verfassungsänderung dieses Mal noch lauter und prominenter vernehmbar waren als bei früheren Wahlgängen. Die Vehemenz hängt natürlich mit der Art und Weise zusammen, wie die Parteien bei der Nominierung der Präsidentschaftskandidaten zu Werke gegangen sind.

Dass machtpolitische Motive dabei eine wichtige Rolle spielen und Kriterien wie die Qualität oder Repräsentativität eines Bewerbers bisweilen in den Hintergrund drängen, konnte man schon bei vergangenen Bundespräsidentenwahlen beobachten. Wenn sie in diesem Jahr besonders geballt zu Tage traten, so lag das an einer Verquickung mehrerer Umstände. Erstens besitzen Union und FDP in der Bundesversammlung nur eine knappe Mehrheit, weshalb sie größten Wert darauf legen mussten, einen gemeinsamen Kandidaten zu finden, der in den eigenen Reihen zustimmungsfähig ist. Eine Niederlage hätte sie im Wettbewerb um die Regierungsmacht gegenüber Rot-Grün zurückgeworfen. Zweitens wurde die Präsidentenfrage im unionsinternen Führungskampf instrumentalisiert und zu einem Teil der Entscheidung über die kommende Kanzlerkandidatur gemacht. Dafür hatte es bisher nur einen einzigen Präzedenzfall gegeben, nämlich die "Präsidentschaftsposse" (Hans-Peter Schwarz) von 1959, als Adenauer die Suche nach einem Nachfolger für Theodor Heuss benutzte, um dem von ihm wenig geschätzten Ludwig Erhard den Weg ins Kanzleramt zu verbauen (vergebens, wie man weiß). Und drittens bleibt die Kür eines Präsidenten nicht unberührt von den plebiszitären oder medialen Tendenzen, die das Regierungsgeschehen zunehmend überlagern. Was früher noch im Verborgenen beraten und entschieden werden konnte, findet heute als Machtschauspiel auf offener Bühne statt. Damit treten naturgemäß auch die unschönen Seiten der Prozedur stärker ins öffentliche Bewusstsein.

Wenn "Vordenker" auf den Holzweg geraten

Soll die Konsequenz aus alledem nun lauten, den Parteien das Amt "wegzunehmen", wie es die Befürworter einer Direktwahl beabsichtigen? Bei nüchterner Abwägung der Pro- und Contra-Argumente spricht nach wie vor kaum etwas dafür. Um so verwunderlicher ist, dass der Direktwahlvorschlag immer mehr prominente Unterstützer findet. Wo der Vorschlag von den Parteien selbst eingebracht wird, mag man das als Akt der populistischen Anbiederung abtun und nicht allzu wichtig nehmen. Besonders die Freien Demokraten haben sich im letzten Jahr in dieser Hinsicht unrühmlich hervorgetan. Anders verhält es sich jedoch, wenn die Forderung von Persönlichkeiten vorgetragen wird, deren Meinung in der öffentlichen Debatte großes Gewicht hat, wie es bei den derzeitigen und früheren Amtsinhabern Johannes Rau und Richard von Weizsäcker der Fall ist. Auch die Tatsache, dass sich mit Jürgen Rüttgers und Peter Glotz zwei Politiker für die Direktwahl ausgesprochen haben, die in ihren Parteien den Ruf von "Vordenkern" genießen, sollte zu denken geben. Dasselbe gilt für die Unterstützung des Vorschlags durch namhafte Politikwissenschaftler und Staatsrechtler.

Wollen wir einen Präsidentschaftswahlkampf?

Denn was wäre mit der Einführung der Direktwahl gewonnen? Die Hoffnung, man könne die Parteien auf diese Weise entmachten, ist schon deshalb trügerisch, weil natürlich auch bei einer Direktwahl die Hauptverantwortung für die Nominierung der Kandidaten den Parteien obläge. Dabei würden genau dieselben Fragen virulent werden wie heute: Welcher Kandidat hat die besten Chancen, eine Mehrheit zu bekommen? Wen wird das gegnerische Lager vermutlich aufstellen? Gibt es die Möglichkeit, einen innerparteilichen Rivalen ins höchste Staatsamt wegzuloben?

Eine Direktwahl hätte gewiss den Vorzug, dass sie die Chancen eines ideologisch einseitigen, polarisierenden Bewerbers mindern würde. Dem stünden auf der anderen Seite aber auch handfeste Nachteile gegenüber. Da es bei einer Direktwahl vor allem auf Popularität ankommt, wäre das Rekrutierungsfeld kleiner als bei der Wahl durch eine Versammlung. Damit hätten Kandidaten wie die diesmal nominierten Horst Köhler und Gesine Schwan, deren öffentlicher Bekanntheitsgrad gering ist, wenig Chancen, aufgestellt zu werden. Auch Roman Herzog wäre unter diesen Voraussetzungen schwerlich Bundespräsident geworden. Das Wahlverfahren diskriminiert also gerade jenen Typus des parteifernen Bewerbers, der von seinem Zuschnitt dem überparteilichen Charakter des Amtes besonders gut entsprechen würde.

Dies führt zu einem weiteren, noch wichtigeren Gegenargument. Das bisherige indirekte Verfahren des Art. 54 Abs. 1 impliziert, dass der Bundespräsident "ohne Aussprache" gewählt wird, was eine vorherige öffentliche Diskussion über die Kandidaten selbstverständlich nicht ausschließt. Bei der Direktwahl hingegen wäre eine solche Diskussion zwingend, müsste ein regelrechter Präsidentschaftswahlkampf stattfinden. Doch um welche Themen sollte dabei gestritten werden? Da der Bundespräsident von Verfassungs wegen nur über geringe politische Befugnisse verfügt, würden die Kandidaten Gefahr laufen, im Wahlkampf Erwartungen zu wecken, die sie später gar nicht erfüllen könnten. Eine Direktwahl ist unter diesen Umständen ohne Sinn. Sie wäre gemessen an der faktischen Machtlosigkeit des Amtes ein verfassungspolitischer Fremdkörper.

Mehr Kompetenzen für den Präsidenten?

Nun sind die Befürworter der Direktwahl keineswegs so naiv, dass ihnen dieser Zusammenhang entgangen wäre. Von daher ist es zumindest logisch konsequent, wenn von Weizsäcker und Glotz neben der Direktwahl auch eine institutionelle Stärkung des Amtes ins Auge fassen. Welcher Art die zusätzlichen Kompetenzen sein könnten, lassen sie allerdings offen, obwohl die Antwort eigentlich auf der Hand liegt. Es handelt sich um die Reservebefugnisse, über die das Staatsoberhaupt im Bereich der Regierungsbildung und Gesetzgebung derzeit nur beschränkt verfügt. Ihre Ausweitung würde die Position des Präsidenten innerhalb der doppelköpfigen Exekutive aufwerten und ihn dadurch in eine stärkere Konkurrenzsituation zum Bundeskanzler und dessen parlamentarisch verantwortlicher Regierung bringen.

Doch warum sollte die Bundesrepublik einen solchen Weg einschlagen, der auf die Änderung ihres bisherigen Verfassungsgefüges hinauslaufen würde? Nur um die unter Demokratiegesichtspunkten gewiss sympathische Einführung der Direktwahl zu legitimieren? Als die Verfassungsgeber im Parlamentarischen Rat über das Regierungssystem des zu gründenden Weststaates nachdachten, waren sie sich darin einig, dass man den unseligen Dualismus im Bereich der Exekutive beseitigen müsse, der in der Weimarer Republik eine verhängnisvolle Rolle gespielt hatte. Statt eines "semi-präsidentiellen" Systems, in dem der Regierungschef sowohl dem Parlament als auch dem Präsidenten gegenüber verantwortlich war, sollte das Grundgesetz eine strikt parlamentarische Regierungsform begründen und die Hegemonie beim Kanzler liegen. Dem Staatsoberhaupt wurden ausschließlich zeremonielle (und staatsnotarielle) Funktionen zugewiesen und seine Autorität ganz auf die Macht des Wortes beschränkt.

Bloß nicht noch ein Vetospieler!

Zwar lassen sich die Erfahrungen von Weimar auf die heutige Situation nicht mehr ohne weiteres übertragen, nachdem die Bundesrepublik zu einer politisch-kulturell gefestigten Demokratie herangereift ist. An den Argumenten, die damals gegen eine Neuauflage des Semi-Präsidentialismus sprachen, hat sich jedoch kaum etwas geändert. Eine Neuaufteilung der Funktionen wäre nur sinnvoll, wenn es Gründe gäbe, die Macht des Bundeskanzlers innerhalb der Exekutive sowie im Verhältnis zur Legislative einzuschränken. Ein deutscher Regierungschef hat es aber schon heute eher mit zu vielen als mit zu wenigen Gegenmächten zu tun. Sowohl das mit Normenkontrollbefugnis ausgestattete Verfassungsgericht als auch der im überwiegenden Teil der Gesetzgebung gleichberechtigt mitwirkende Bundesrat können ihm bei der Durchsetzung seiner Gesetzesvorhaben Steine in den Weg legen. Die Koalitionszwänge des Mehrparteiensystems und der starke Einfluss von Interessengruppen tun ein Übriges. Welchen Sinn sollte es haben, dem einen weiteren potenziellen Vetospieler hinzuzufügen?

Auch der Verweis auf Länder wie Österreich oder Frankreich, in denen die Direktwahl des Staatsoberhauptes eine Selbstverständlichkeit sei und sich in die jeweiligen Systeme gut einfüge, taugt bei Lichte betrachtet als Gegenargument nicht. Die österreichische Verfassung billigt dem Bundespräsidenten weitreichende exekutive Befugnisse zu, die dieser in der Praxis freilich kaum noch einlöst. Insofern passt die Direktwahl heute eigentlich nicht mehr zur rein parlamentarischen Regierungsform des Landes. (Deren Konsequenzen hatte der demnächst scheidende Amtsinhaber Thomas Klestil Anfang 2000 schmerzhaft erfahren, als er die gegen seinen Willen zustande gekommene schwarz-blaue Regierungskoalition ernennen musste.)

Die französische Verfassung von 1958 gesteht dem Staatspräsidenten weniger Rechte zu als die österreichische, doch hat sich die Praxis hier genau in die gegenteilige Richtung entwickelt. Deshalb war es konsequent, dass die ursprünglich nicht vorgesehene Direktwahl 1962 in der Fünften Republik nachträglich eingeführt wurde. Nachdem auch Finnland (als einzig vergleichbarer Fall) inzwischen zur parlamentarischen Regierungsform übergangen ist, steht Frankreich mit seiner dualistischen Exekutive unter den EU-Ländern heute alleine da. Nur in den postkommunistischen Transformationsstaaten Mittel- und Osteuropas hat der Semi-Präsidentialismus Nachahmer gefunden.

Die Kandidatenbestellung ist das Problem

Mit einer Aufwertung des Präsidentenamtes würde sich die Bundesrepublik folglich gegen den in Westeuropa vorherrschenden Trend stellen, der die Position des Staatsoberhaupts eher zurückgenommen als gestärkt hat. Auch das spricht dafür, es bei der derzeitigen Konstruktion zu belassen, mit der die Deutschen insgesamt gut gefahren sind. Das Festhalten an der indirekten Wahl bedeutet freilich nicht, dass man mit ihr zugleich die bisherige Praxis der Kandidatennominierung gutheißen müsste. Gerade darum hat sich ja die Kritik an der aktuellen Kampagne zu Recht entzündet - allerdings ziehen die Befürworter der Direktwahl daraus die falschen Konsequenzen. Das Problem besteht darin, dass die überparteiliche Ausübung des Amtes, die sich in der Verfassungspraxis durchgesetzt hat, bei der Bestellung des Präsidenten keine Entsprechung findet.

Wann immer die Mehrheitsverhältnisse so waren, dass sie den Posten mit einem eigenen Kandidaten besetzen konnten, haben die Parteien diese Möglichkeit genutzt. So vereitelte die Union 1979 eine zweite Amtszeit des weithin anerkannten Walter Scheel und setzte 1994 die Wahl Roman Herzogs gegen den in der Bevölkerung bekannteren und populäreren SPD-Politiker Johannes Rau durch. Amtierende Präsidenten konnten bei ihrer Wiederwahl nur dann auf die Unterstützung des gegnerischen Lagers rechnen, wenn dieses keine eigene Mehrheit hatte (so 1954 Theodor Heuss, 1964 Heinrich Lübke oder 1989 Richard von Weizsäcker). Wo diese Mehrheit nicht gesichert war, wie bei Scheel oder neuerdings bei Rau, mussten die Amtsinhaber auf eine neuerliche Kandidatur verzichten.

Im eigenen Lager war Köhler dritte Wahl

Das überragende Interesse der Parteien an der Besetzung des Amtes wirkt befremdlich, wenn man die geringen Machtbefugnisse des Präsidenten und die Praxis der überparteilichen Amtsführung in Rechnung stellt. Zurückgeführt wird es üblicherweise auf die Signalwirkung, die angeblich von der Präsidentenwahl auf die politischen Kräfteverhältnisse ausgeht. Für einen Einfluss auf die nachfolgenden Bundestagswahlen gibt es empirisch aber keine wirklichen Belege. Der einzige Fall, der das Attribut der Signalwirkung unzweifelhaft verdient, war die Wahl Gustav Heinemanns im Jahre 1969, als das Abstimmungsverhalten der FDP die nachmalige Bildung der sozial-liberale Koalition vorwegnahm. Unter dem Eindruck dieses einschneidenden Ereignisses wurde die parteipolitische Bedeutung der späteren Präsidentenwahlen notorisch überschätzt. So verhinderte beispielsweise 1979 die Wahl von Karl Carstens nicht die Niederlage der Union bei den im Jahr darauf stattfindenden Bundestagswahlen. Und Helmut Kohl hätte gegen Rudolf Scharping 1994 vermutlich auch dann gewonnen, wenn es der SPD gelungen wäre, Johannes Rau in der Bundesversammlung gegen Roman Herzog durchzubringen.

Im Umkehrschluss heißt das, dass es für die Parteien machtpolitisch keineswegs ein Schaden sein muss, wenn sie bei der Nominierung des Präsidentschaftskandidaten den Konsens mit dem gegnerischen Lager suchen und/oder auf die Aufstellung eines eigenen Bewerbers ganz verzichten. Warum hätte sich die SPD 1999 nicht darauf verständigen können, eine zweite Amtszeit von Roman Herzog zu unterstützen? Dieselbe Frage muss sich die Union mit Blick auf den nun ausscheidenden Johannes Rau gefallen lassen. Selbst wenn man der stärksten Partei in der Bundesversammlung das erste Vorschlagsrecht zugesteht, ist sie doch nicht daran gehindert, nach einer überparteilichen Lösung zu suchen. Auch nach Raus Verzicht wäre die Einigung auf einen gemeinsamen Kandidaten durchaus möglich gewesen - immerhin hatte die SPD ihre Unterstützung für Klaus Töpfer ausdrücklich signalisiert. Und vielleicht hätte das Regierungslager sogar Horst Köhler mit getragen, wenn dieser als ein für alle Seiten akzeptabler Bewerber von vornherein ins Spiel gebracht worden wäre. So aber muss der vermutliche Amtsnachfolger von Johannes Rau mit dem Makel leben, sogar im eigenen Lager bei der Nominierung nur zweite oder dritte Wahl gewesen zu sein.

Wie den Parteien zu helfen wäre

Mit einem Appell an die Parteien, bei der Besetzung des Amtes verantwortungsbewusster vorzugehen, wird es aber sicher nicht getan sein. So wie die Realität der Wettbewerbsdemokratie nun mal ist, werden sich die parteipolitischen Akteure wohl kaum in der hier geforderten Zurückhaltung üben. Dies gilt zumal, wenn die Präsidentenkür - wie im aktuellen Fall - von innerparteilichen und koalitionstaktischen Ränkespielen überschattet ist. Deshalb stellt sich die Frage, ob man dem Verhalten der Parteien nicht durch geeignete verfassungsrechtliche Vorkehrungen "nachhelfen" könnte. Denkbar wäre etwa eine Änderung des Wahlverfahrens in der Bundesversammlung dergestalt, dass statt der absoluten Mehrheit im ersten und zweiten Wahlgang eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich ist und erst im dritten Wahlgang die absolute Mehrheit genügt (heute reicht bereits die relative Mehrheit). In Italien wird ein ähnliche Regelung mit gutem Erfolg praktiziert. Zwar zeigen die dortigen Erfahrungen, dass die Quoren einen Konsens nicht automatisch erzwingen - die meisten der bisherigen zehn Präsidenten wurden mit absoluter Mehrheit gewählt. Dennoch erhöhen sie den Druck auf die politischen Akteure, zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen.

Übertragen auf die Bundesrepublik hätte das gleich mehrere Vorteile. Erstens würde es die Wiederwahl eines bewährten Amtsinhabers wahrscheinlicher machen, dessen Partei in der Versammlung die Mehrheit eingebüßt hat. Zweitens wäre das Erpressungspotenzial der kleinen Parteien geringer, die unter dem jetzt geltenden Verfahren einen ihnen nicht gebührenden Einfluss ausüben. (Wenn es im Bereich der Regierung üblich ist, dass die größere Partei den Kanzler stellt, erhebt sich die Frage, warum das nicht auch beim Präsidenten der Fall sein sollte.) Und drittens hätten parteiferne Bewerber bessere Chancen, nominiert und gewählt zu werden. Der Charme der Zwei-Drittel-Mehrheit besteht darin, dass sie dem überparteilichen Charakter des Amtes Rechnung trägt, an seiner verfassungsrechtlichen Ausgestaltung im Übrigen aber nicht rüttelt. Damit wäre sie die eigentliche, systemkonforme Alternative zur Direktwahl.

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