Hire and Fire

Ist der amerikanische Arbeitsmarkt ein Vorbild für Deutschland?

Endstation Amerika, auch für den deutschen Arbeitsmarkt? Diese Frage kann man auf zweierlei Weise verstehen. Zum einen empirisch: Ist unser Arbeitsmarkt dabei, so zu werden wie der amerikanische? Zum anderen normativ: Sollte er so werden? In meiner Antwort verschränken sich beide Aspekte der Frage. Allenfalls dort, wo dies am wenigsten wünschenswert erscheint, ist der deutsche Arbeitsmarkt dabei, Züge des amerikanischen anzunehmen; ansonsten aber, und vor allem dort, wo wir etwas von Amerika lernen könnten, bleibt in Deutschland auf absehbare Zeit alles so deutsch, wie es ist. Oder anders: Wo wir die Amerikanisierung unseres Arbeitsmarkts nicht wollen, können unsere Institutionen sie nicht verhindern - und da, wo wir sie gebrauchen könnten, stehen sie ihr im Wege

Im Sommer des Jahres 2000 unternahm Bundeskanzler Schröder eine Reise in die östlichen Bundesländer. Dabei erklärte er immer wieder, für Wähler und politische Öffentlichkeit gleichermaßen unüberhörbar, "amerikanische Zustände" werde es auf dem deutschen Arbeitsmarkt unter seiner Führung nicht geben. Allgemein wurde dies so verstanden, dass die Bundesregierung sich nunmehr entschieden hatte, das bestehende Arbeitsmarktregime nicht anzutasten und das deutsche System großzügiger und freizügig gewährter Lohnersatzleistungen beizubehalten. Ein Jahr später, kurz vor dem 11. September 2001, proklamierte Schröder mit der "Politik der ruhigen Hand" eine politische Strategie, die ihre Hoffnung für die Wahlen im folgenden Jahr auf die anlaufende Weltkonjunktur richtete. Aus dieser wurde dann bekanntlich nichts. Im Frühjahr 2002, als die Wahlniederlage unvermeidlich schien, wurde überfallartig die Spitze der Bundesanstalt für Arbeit ausgetauscht (heute ist auch Florian Gerster schon wieder Geschichte) und die "Hartz-Kommission" nahm ihre Arbeit auf. Der Irak-Krieg und die Flut retteten die Regierung über die Wahlen. Kurz danach begann mit der Neuregelung der "Mini-Jobs" und der anschließenden Verkündigung der "Agenda 2010" jene so genannte Reformpolitik, von der viele befürchten, sie werde am Ende die "soziale Kälte" Amerikas in die letzten Winkel der sozialstaatlichen Wärmestuben unseres Landes blasen. Also doch: Endstation Amerika?

Paradoxe Wirkungsketten zwischen Absichten und ihren realen Folgen sind in der sozialen Welt alles andere als selten. Die gegenwärtigen Reformen, von denen ihre Gegner die Amerikanisierung des deutschen Arbeitsmarktes befürchten, sind nichts Anderes als die unvermeidliche Konsequenz der hartnäckigen Verteidigung jener Institutionen, die uns vor "amerikanischen Zuständen" bewahren sollen. Statt das lecke Schiff zu reparieren, wirft die Mannschaft Ballast ab. Im Folgenden möchte ich die These plausibel machen, dass gerade der Versuch der Bewahrung dessen, was wir in der Vergangenheit zu Recht für sozialstaatliche Errungenschaften halten durften, heute zunehmend eben jener Polarisierung und sozialen Unsicherheit den Weg bereitet, welche die Anhänger des "europäischen Sozialmodells" an den Vereinigten Staaten so abstoßend finden - während er zugleich manches, was wir aus den USA möglicherweise übernehmen könnten, in unerreichbare Ferne rückt.

In kurzer Zusammenfassung kann man das heutige deutsche Arbeitsmarktregime als das politisch und gesellschaftlich festgezurrte Resultat eines gescheiterten jahrzehntelangen Kampfes gegen eine Gefahr beschreiben, die es nie gegeben hat - mit Mitteln, die selbst rasch zu Zielen wurden und deshalb bis heute zäh verteidigt werden, obwohl ihr fortdauernder Gebrauch dabei ist, unser Land zu ruinieren. Mit der Gefahr, die nie bestand - und die man so überhaupt nur in Deutschland wahrzunehmen glaubte - meine ich das "Ende der Arbeitsgesellschaft", eine grüne und neo-sozialdemokratische Chimäre, die einerseits mit massenhafter Arbeitslosigkeit drohte, andererseits aber, bei richtiger politischer Behandlung, den Weg in eine sanftere Welt voll Urlaub und Freizeit zu öffnen versprach. Das Mittel, das gegen sie in Stellung gebracht wurde und mit dessen Hilfe das postindustrielle Risiko einer "Gesellschaft, der die Arbeit ausgeht", in die postindustrielle Chance einer von Arbeit befreiten Gesellschaft verwandelt werden sollte, war eine sozialstaatliche und tarifliche Politik der planmäßigen Stillegung von Arbeitskraft, die eine "gerechtere Verteilung" sowohl der "schrumpfenden Erwerbsarbeit" als auch der wachsenden "arbeitsfreien Zeit" bewerkstelligen sollte.

Heute ist die sozialstaatlich subventionierte Verknappung des Arbeitsangebots dadurch, dass sie auf dem Umweg über die Sozialversicherungsbeiträge die Kosten des Faktors Arbeit ständig erhöht, selber zur Ursache von dauerhafter Massenarbeitslosigkeit geworden. Insofern ist der deutsche Kampf gegen das "Ende der Arbeitsgesellschaft" dabei, die falschen Prämissen, auf denen er geführt wurde, doch noch wahr zu machen - wenn auch nur im eigenen Land. Zugleich wurden Frühverrentung und Arbeitszeitverkürzung zu politisch nahezu unantastbaren Errungenschaften der schrumpfenden Zahl derjenigen, die noch reguläre Arbeit finden können. Während die Schwarzarbeit ständig zunimmt und besser als alle ökonomische Theorie beweist, dass nicht "Erwerbsarbeit knapp", sondern ihr administrierter Preis zu hoch ist, verschlingt die Subventionierung des versteinerten Arbeitsmarktregimes der siebziger und achtziger Jahre Mittel in einem Ausmaß, das jede Vorstellung übersteigt (ich werde darauf später zurückkommen) und die Gesellschaft schon seit längerem daran hindert, ihren Wohlstand durch Investitionen in ihre zukünftige Produktivität zu verteidigen. Damit ist mindestens für das nächste Jahrzehnt eine kontinuierliche Verarmung unseres Landes völlig unvermeidlich. Die paradoxe Folge sind wachsende Unsicherheit der Beschäftigung sowie eine zunehmende Polarisierung von Arbeitswelt und Gesellschaft, die durchaus als "Amerikanisierung" gesehen werden können, ohne dass andere Eigenarten des amerikanischen Arbeitsmarkts, wie seine Offenheit und Inklusionsfähigkeit, durch welche Unsicherheit und Polarisierung vielleicht erträglicher werden könnten, bei uns eine Chance hätten.

Zur Verdeutlichung ein paar Zahlen. Dass in Deutschland alle Versuche, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, gescheitert sind, kann nicht in Zweifel gezogen werden: Die deutsche Arbeitslosenquote liegt seit langem dauerhaft über der vergleichbarer Länder, insbesondere auch der USA. Dabei ist unsere offizielle Arbeitslosenquote noch zwischen zwei und drei Prozentpunkte höher als die (weitgehend nach amerikanischen Methoden) standardisierte. Das liegt daran, dass in Amerika und anderswo nur diejenigen als arbeitslos gezählt werden, die in den letzten zwei Wochen vor der Erhebung aktiv nach Arbeit gesucht haben. Die deutsche Definition ist viel weniger streng; dies ist deshalb so, weil wir Arbeitslosen auch dann noch Arbeitslosengeld zahlen wollen, wenn mit ihnen längst vereinbart worden ist, dass sie nach dessen Ablauf direkt in die Rente gehen sollen beziehungsweise dürfen. Dementsprechend hoch ist bei uns der Anteil der Langzeitarbeitslosen an der Gesamtheit der Arbeitslosen: Zwei Drittel aller Arbeitslosen in Deutschland sind länger arbeitslos als sechs Monate, und die Hälfte länger als ein Jahr. Das ist, soweit ich weiß, Weltrekord. Die entsprechenden Anteile in den USA, wo die Übergangsgeschwindigkeit zwischen zwei Arbeitsplätzen sehr viel größer ist, liegen bei 13,0 beziehungsweise 7,4 Prozent. Selbst in der Schweiz mit ihrer Restarbeitslosigkeit von nicht mehr als 3,7 Prozent in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre war der Anteil der Langzeitarbeitslosen niedriger als bei uns, und noch niedriger war er in Dänemark mit seiner auf "Aktivierung" zielenden Arbeitsmarktpolitik.

Der beste Maßstab für die Leistungsfähigkeit eines Arbeitsmarktes ist freilich nicht die Arbeitslosen-, sondern die Beschäftigungsquote - und hier wird das ganze Ausmaß der deutschen Misere, im Vergleich sowohl zu den USA als auch zu verschiedenen europäischen Ländern, erst richtig deutlich. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre waren in Deutschland weniger als 65 Prozent der Personen in arbeitsfähigem Alter in Beschäftigung. In den USA waren es knapp neun Prozentpunkte mehr, und in der Schweiz sogar über 14 Prozentpunkte. Jeder kann sehen, dass unsere derzeitigen Probleme mit der Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme viel weniger unlösbar wären, wenn wir eine Beschäftigungsquote auf amerikanischem, dänischem oder gar Schweizer Niveau hätten. Der Zusammenhang zwischen Beschäftigung und sozialer Sicherung ist jedoch noch ein gutes Stück komplexer und, wie ich fürchte, dramatischer; ich komme auf ihn zurück.

Warum ist unsere Arbeitslosigkeit so hoch und unser Beschäftigungsniveau so niedrig? Eine offensichtliche Ursache der niedrigen Beschäftigung ist die Frühverrentung, die wir wie kaum ein anderes Land bis vor kurzem als Mittel zur Verringerung der Arbeitslosigkeit eingesetzt haben. Das Ergebnis ist, dass bei uns kaum mehr als ein Drittel der Bevölkerung im Alter zwischen 55 und 64 Jahren beschäftigt ist. Dies ist im internationalen Vergleich geradezu schockierend wenig. In Dänemark arbeiten mehr als die Hälfte der Älteren, in den USA knapp sechzig Prozent, in Schweden fast zwei Drittel, und in der Schweiz gar mehr als siebzig Prozent. Nach der Logik der deutschen Frühverrentungspolitik müssten dies Länder mit hoher und höchster Arbeitslosigkeit sein, weil sie versäumt haben, die "knapp gewordene Erwerbsarbeit gerecht zwischen Alt und Jung zu verteilen". Aber wie wir anfangs gesehen haben, sind es gerade nicht die USA, die Schweiz und Dänemark, deren Arbeitslosigkeit hoch ist, sondern Deutschland, das Land mit der aggressivsten, jedenfalls aber teuersten Politik der Entlastung des Arbeitsmarktes vom Arbeitsangebot Älterer.

Ähnlich erfolglos war die andere in Deutschland eingesetzte Methode der Rationierung von Arbeit, die Verkürzung der wöchentlichen und jährlichen Arbeitszeit. Liegen unsere niedrige Beschäftigungsquote und unsere hohe Arbeitslosigkeit daran, dass bei uns diejenigen, die Arbeit haben, zuviel davon in Anspruch nehmen? Nichts spricht dafür. In keinem vergleichbaren Land ist die durchschnittliche jährliche Arbeitszeit pro Beschäftigten zwischen 1979 und 1999 so stark zurückgegangen wie in Deutschland. Mit 35-Stunden-Woche und sechswöchigem bezahlten Urlaub kommen deutsche Arbeitnehmer heute gerade noch auf etwas mehr als 1.500 Arbeitsstunden im Jahr, das sind 210 (!) weniger als am Ende der siebziger Jahre. Amerikaner dagegen arbeiten, bei sehr viel höherer Beschäftigungsquote und entsprechend niedrigerer Arbeitslosigkeit, 71 Stunden im Jahr mehr (!) als 1979 und etwa 440 Stunden, oder elf 40-Stunden-Wochen, länger als die Deutschen. Auch die Japaner und Briten, sogar die Schweden, arbeiten im Durchschnitt länger, wobei in Schweden die durchschnittliche Arbeitszeit zwischen 1979 und 1999 um fast drei Wochen zugenommen hat. Im Vergleich zwischen Deutschland und den USA, um den es hier ja vor allem geht, bleibt festzuhalten, dass die Amerikaner auf die Wohlstandsverluste der späten siebziger und achtziger Jahre mit einer Erhöhung ihres Arbeitseinsatzes, wir dagegen mit einer Verminderung desselben reagiert haben. Die Ergebnisse sprechen für sich. Dass auch die Japaner, ausgehend von einem sehr hohen Niveau, ihre Arbeitszeit verkürzt haben, geschah übrigens nicht freiwillig, sondern auf Druck ihrer amerikanischen Konkurrenten im Rahmen der so genannten Structural-Impediments-Verhandlungen; bei uns hat es solchen Drucks nicht bedurft.

Wenn Frühverrentung und Arbeitszeitverkürzung keine Erhöhung der Beschäftigung oder Senkung der Arbeitslosigkeit bewirkt haben, was haben sie dann bewirkt? Vieles spricht erstens dafür, dass sie gewollt oder ungewollt dazu beigetragen haben, das deutsche Beschäftigungssystem für Außenseiter zu schließen. Wir haben an dem hohen Anteil der Langzeitarbeitslosen gesehen, wie schwer es in Deutschland ist, wieder Arbeit zu finden, wenn man einmal arbeitslos war. Hierzu passt, dass die Erwerbsquote der Frauen bei uns im Jahr 2000 noch immer etwa zehn Prozentpunkte unter der in den USA lag, wobei 34 Prozent der Frauen in Deutschland Teilzeit arbeiteten, in den USA aber nur 19 Prozent. Ähnlich steht es um die Beschäftigungsquote gering qualifizierter Arbeitnehmer. Nur gut 48 Prozent der Geringqualifizierten in Deutschland sind beschäftigt, während es in den USA immerhin knapp 56 Prozent sind - von wirtschafts- und beschäftigungspolitisch erfolgreichen europäischen Ländern wie Schweden, der Schweiz und Dänemark ganz zu schweigen. Die deutsche Rhetorik über wohlfahrtsstaatliche Solidarität mit den Schwächeren und das deutsche Gefühl moralischer Überlegenheit über das "sozial kalte" amerikanische Gesellschaftsmodell stehen hierzu in bemerkenswertem Kontrast. (Freilich hat bereits die PISA-Studie mit bestürzender Deutlichkeit gezeigt, dass die deutsche Gesellschaft weder besonders erfolgreich noch auch nur besonders bemüht ist, benachteiligte Bevölkerungsgruppen vor sozialer Ausschließung zu bewahren.)

Zweitens hat die sozialpolitische Stillegung von Arbeitskraft, die nach der etablierten Logik des Bismarckschen Wohlfahrtsstaats vor allem aus Sozialversicherungsbeiträgen finanziert wird, zu einer enormen Verteuerung der Arbeit geführt. Sozialversicherungsbeiträge von 34 Prozent der gesamten Arbeitskosten bedeuten, dass ein Arbeitnehmer, der am Ende des Monats 2.000 Euro in der Tasche behalten will, von seinem Arbeitgeber 3.000 Euro erhalten muss, Steuern nicht eingerechnet. Nicht nur Arbeitslosengeld und Arbeitsmarktpolitik müssen aus den Beiträgen bezahlt werden, sondern auch die Renten für diejenigen, die vom Arbeitsmarkt freigesetzt oder aus ihm hinauskomplimentiert worden sind. Hinzu kommen die höheren Durchschnittsbelastungen in allen Zweigen der Sozialversicherung, die aus dem niedrigen allgemeinen Beschäftigungsniveau resultieren. Zu den Sozialbeiträgen, die wie eine Steuer auf Beschäftigung wirken (in der Höhe des Spitzensteuersatzes der Körperschaftssteuer!), kommen die Kosten des Lohnausgleichs für die üppigen Arbeitszeitverkürzungen der letzten zwei Jahrzehnte. Auch ohne Vergleich mit den USA oder den erfolgreicheren europäischen Ländern wird man zu dem Schluss gelangen, dass bei uns die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch Stillegung von Arbeitskraft, vermittelt durch die von ihr bewirkte Erhöhung der Arbeitskosten, längst selbst zur Ursache von Arbeitslosigkeit geworden ist - und zwar, wie wir gesehen haben und wie auch gar nicht anders zu erwarten war, vor allem bei Außenseitern des Arbeitsmarkts mit (zunächst) niedriger Produktivität.

Wie sehr unsere gigantischen Lohnnebenkosten im Übrigen die wirtschaftliche Entwicklung verzerren, zeigen die sektoralen Beschäftigungsquoten. In der Industrie, in der hohe Arbeitskosten durch Rationalisierung ausgeglichen werden können, gehört Deutschland, nicht nur was den Beschäftigungsanteil betrifft, immer noch zu den führenden Ländern. Hohe Exportüberschüsse zeigen, dass von mangelnder internationaler Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft keine Rede sein kann. Allerdings kann die Beschäftigung in der Industrie nicht wachsen, und in der Tat nimmt sie im Gegenteil in allen entwickelten Ländern seit langem kontinuierlich ab; bei uns langsamer als anderswo, aber die Osterweiterung der EU ist gerade dabei, diesen Prozess scharf zu beschleunigen. Worauf es für die Zukunft der Arbeitsgesellschaft einschließlich ihrer sozialen Sicherung ankommt, ist deshalb die Expansionsfähigkeit des Dienstleistungssektors. Hier, wo der Anteil der Arbeitskosten an den Produktionskosten hoch ist, liegt Deutschland, was die Beschäftigung angeht, mehr als vierzehn Prozentpunkte hinter den USA und der Schweiz, und etwa zehn Prozentpunkte hinter Schweden und Großbritannien.

Ist also der deutsche Arbeitsmarkt auf dem Weg nach Amerika? Die Antwort ist: Es kommt darauf an, was man darunter versteht. Wird sich die Arbeitslosigkeit bei uns in absehbarer Zeit halbieren? Besteht Aussicht, dass unser Beschäftigungsniveau rasch um runde zehn Prozentpunkte zunimmt? Werden Frauen, Ausländer, Geringqualifizierte bei uns bald bessere Chancen haben, ihr Geld in einem wachsenden Dienstleistungssektor selber zu verdienen, statt es beim Sozialamt abholen zu müssen? Wird, in anderen Worten, das Volumen der offiziell geleisteten Arbeit bei uns wieder anfangen zu wachsen, so wie es in der Vergangenheit in so unterschiedlichen Ländern wie Schweden und den USA gewachsen ist? Wichtigste Voraussetzung für eine Auferstehung des deutschen Arbeitsmarkts wäre, dass es gelänge, den Felsen der bei uns auf Beschäftigung erhobenen Sozialabgaben von seinem Grab zu rollen. Und genau dafür spricht so gut wie nichts.

Der abenteuerliche Fanatismus der Etablierten


Einmal etablierte Institutionen sind unglaublich zäh, auch wider alle Vernunft. Versuche zur Entlastung der Arbeit von Sozialversicherungsbeiträgen, und nicht immer nur zaghafte, hat es in den Jahren seit 1998 durchaus gegeben: von der Ökosteuer bis zur Riesterschen Rentenreform und zur Gesundheitsreform von 2003. Wie Wahlergebnisse und Umfragen belegen, haben sie die rot-grüne Bundesregierung so gut wie ihr gesamtes politisches Kapital gekostet. Dennoch aber haben sie nur erreicht, dass der Gesamtbeitrag nicht gestiegen ist; eine Senkung war niemals wirklich in Reichweite und ist es auch heute nicht. In anderen Worten, Reformen des Sozialstaats kosten bei uns die Regierung schon dann den Kopf, wenn sie lediglich verhindern, dass alles noch schlimmer wird. Man beachte auch den geradezu abenteuerlichen Fanatismus, mit dem nicht nur die Funktionäre, sondern wohl auch die Mitglieder der Gewerkschaften ihre Errungenschaft des 1.500-Stunden-Jahres verteidigen - und damit eine Politik der Arbeitszeitverkürzung fortsetzen (siehe den Streik der IG Metall letztes Jahr in Ostdeutschland), die nur noch in Deutschland verfolgt wird und die in der wirklichen Welt mit dem genauen Gegenteil jener niedrigen Arbeitslosigkeit und hohen Beschäftigung einhergeht, um derentwillen sie angeblich erfunden wurde.

Anders als in den USA ist in Deutschland, so lässt sich zuspitzend zusammenfassen, der Wohlfahrtsstaat längst an die Stelle der Arbeitsgesellschaft getreten. Diejenigen, die genau dies in den siebziger Jahren als wünschenswerte Zukunft propagiert haben, haben insofern ihr Ziel erreicht. Die Konsequenzen allerdings sind bei weitem nicht so erfreulich wie erwartet. Heute beläuft sich der Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit, jetzt Bundesagentur, mit etwa 50 Milliarden Euro pro Jahr auf fast doppelt so viel wie der sämtlicher Universitäten und Fachhochschulen zusammen; warum nicht, könnte man sagen, wir haben ja auch (mindestens) doppelt so viele Arbeitslose wie Studenten. Zusätzlich zu den 50 Milliarden der Bundesanstalt subventionieren wir unser bankrottes Arbeitsmarktregime aus der Rentenkasse, die unsere Frühpensionäre alimentiert, sowie unter anderem mit den Steinkohlesubventionen, die Jahr für Jahr höher sind als die Forschungsmittel der Max-Planck-Gesellschaft und der Fraunhofer-Gesellschaft zusammen. Kurz, wir konsumieren statt zu investieren - wir verspeisen unsere Saatkartoffeln, und das schon seit langem. "Eliteuniversitäten" überlassen wir den Amerikanern; dafür haben wir unsere Bundesanstalt für Arbeit, und die macht uns keiner nach.

Das heißt aber nicht, dass es bei uns ohne jede "Amerikanisierung" abgehen wird. Allerdings findet diese nicht beim Wirtschaftswachstum statt oder bei Wissenschaft und Forschung, und sie kommt auf Umwegen und über Schleichpfade zustande. Was bei uns mehr als alles andere wächst, ist die Schwarzarbeit, aus der schon fast 17 Prozent unseres Sozialprodukts stammen. (In den USA ist der Anteil nur halb so hoch, vor allem weil dort die Sozialversicherungsbeiträge so niedrig sind, dass es sich nicht lohnt, sie zu vermeiden.) Mehr Schwarzarbeit bedeutet ein weiteres Aushungern der sozialen Sicherungssysteme und ein kontinuierliches Abbröckeln des alten Arbeitsmarkt- und Sozialregimes. Dessen Grenzen werden nun selbst soziale Bruchstellen - zwischen Insidern und Outsidern, Versicherten und Nichtversicherten, Alt und Jung, Einheimischen und Zuwanderern. Die Zweiteilung unserer Wirtschaft und Gesellschaft ist längst in Gang: Nicht nur erhöht ein wachsender inoffizieller und nun auch offizieller Niedriglohnsektor entgegen allen frommen Wünschen die Lohnspreizung, es wächst auch beständig die Zahl derer - unter ihnen viele Einwanderer -, die in den expandierenden gewerkschaftsfreien Zonen unseres Beschäftigungssystems mit ihren Arbeitsmarktrisiken selber zurechtkommen müssen, einschließlich dem hire and fire ihrer Arbeitgeber. Hier, endlich, gilt: Amerika, wir kommen.

Wie der deutsche Wohlfahrtsstaat Verarmung produziert


An dieser Stelle kommt der zweite, der normativ-politische Aspekt meines Themas ins Spiel: Wäre es wünschenswert, dass der deutsche Arbeitsmarkt dem amerikanischen ähnlicher würde? Gemeinhin wird diese Frage bei uns mit Verweis auf die berühmten working poor - die nicht wenigen Menschen in den USA, deren Hauptarbeitsplatz ihnen lediglich ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze einbringt - kurz und pauschal negativ beschieden. Einige Leser, da bin ich sicher, sind schon misstrauisch geworden, weil ich das Thema nicht gleich am Anfang aufgegriffen habe. In der Tat habe ich seine Behandlung aufgeschoben, weil es mir darum ging, durch Einführung einiger anderer Tatsachen und Zusammenhänge die Gefechtslage zunächst zu komplizieren.

Vor allem zwei Überlegungen ergeben sich zunächst aus den genannten Zahlen. Erstens, die fast vollständige Abwesenheit eines Wohlfahrtsstaats in der amerikanischen Arbeitsgesellschaft könnte zu der Vermutung verleiten, dass niedrige Arbeitslosigkeit, ein hohes Beschäftigungsniveau, wettbewerbsfähige Arbeitszeiten und Ein- und Aufstiegschancen für Außenseiter nur um den Preis einer völligen Vermarktung der Lebenschancen und deshalb, zumindest für uns in Europa, aus moralischen Gründen eben nicht zu haben sind. Die europäischen Länder, die ich in meine Betrachtung einbezogen habe, zeigen jedoch, dass Arbeitsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat durchaus miteinander vereinbar sind und dass man über den anmaßenden Neoliberalismus eines Reagan oder Bush oder den kaltschnäuzigen Opportunismus der Clintonschen Abschaffung von welfare as we know it hinausgelangen kann, ohne den ja ohnehin längst als untauglich erwiesenen Versuch unternehmen zu müssen, die Arbeitsgesellschaft durch den Wohlfahrtsstaat zu ersetzen. Anders gesagt, man muss sich nicht die amerikanischen Pathologien ins Haus holen, um die deutschen loszuwerden. Und ebenso wie die durchaus zahlreichen Amerikaner, die den Neoliberalismus nicht für der Weisheit letzten Schluss halten, sich deshalb nicht notwendig eine Bundesanstalt für Arbeit zuziehen müssen, können wir von den USA und anderen lernen, ohne gleich arbeitslosen Müttern von drei Kindern die Sozialhilfe zu streichen.

Noch wichtiger erscheint mir, zweitens, der Umstand, dass ein starres Festhalten am Wohlfahrtsstaat deutscher Prägung das Versagen unseres Arbeitsmarkts auf längere Sicht nicht nur nicht ausgleicht, sondern es weiter verstärkt. Nicht nur wird, wie allmählich in das allgemeine Bewusstsein einsickert, unsere Art von Wohlfahrtsstaat immer weniger finanzierbar: Der Versuch, ihn dennoch zu verteidigen, trägt auf dem Umweg über die von ihm verursachte gesellschaftliche Verarmung zu eben jener sozialen Polarisierung durch prekäre Beschäftigung, niedrige Löhne und versagende soziale Sicherung - das heißt, zu eben der "Amerikanisierung" - bei, die er eigentlich verhindern soll. Die deutschen Pathologien, in anderen Worten, bieten auf die Dauer nicht einmal vor den amerikanischen Schutz. Meine Antwort auf die Gretchenfrage "Wie hältst Du′s mit den working poor?" lautet deshalb: Machen wir uns nichts vor, die haben wir schon - und es werden immer mehr. Wer das nicht glaubt, möge einmal etwas früher aufstehen und die türkische Putzfrau, die sein Büro sauber macht, in ein Gespräch über ihre Arbeitsbedingungen verwickeln.

"Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage."


Hier nun bin ich endgültig bei dem moralischen Kernproblem meines Themas angekommen, dem der Gleichheit. Es stimmt, dass bei uns in den achtziger und neunziger Jahren die Lohnspreizung zurückging, als sie fast überall zunahm, vor allem natürlich in den USA. Nach wie vor sind die Vereinigten Staaten bei weitem die am wenigsten egalitäre Industriegesellschaft der Welt, während wir unter den großen Ländern das egalitärste sind. Vergleichende Forschung hat gezeigt, dass der Wohlfahrtsstaat ein geeignetes Mittel ist, Ungleichheit zu mindern, und dass er dies grundsätzlich zu tun vermag, ohne dabei ein hohes Beschäftigungsniveau unmöglich zu machen. Dies gilt aber unglücklicherweise nicht für unseren Wohlfahrtsstaat. Bei uns wurde in den letzten zwei Jahrzehnten die relative Gleichheit unter den Beschäftigten mit schrumpfender Beschäftigung in der Industrie und einer stagnierenden Entwicklung des Dienstleistungssektors erkauft, also im Ergebnis mit einer Ausgrenzung von Arbeitsplätzen und damit von Menschen aus dem Erwerbssystem, deren niedrige Produktivität und entsprechend niedrige Entlohnung die gemessene Ungleichheit vergrößert hätte. Dies mochte, solange man den auf diese Weise von Arbeit Freigestellten einen akzeptablen materiellen Unterhalt finanzieren konnte, als Form wohlfahrtssteigernder sozialer Solidarität durchgehen. Spätestens mit den von der nunmehr endemischen Finanzkrise des Staates erzwungenen gegenwärtigen Reformen aber ist die sozialstaatliche Freistellung von der Arbeit, die ja deren vermeintlich notwendiger Rationierung dienen sollte, endgültig zur Abschiebung aus der Arbeit, und mit ihr aus der Gesellschaft, geworden.

Der normative Schlüsselbegriff in diesem Zusammenhang ist jener der Zumutbarkeit. Menschen niedrig bezahlte, prekäre Arbeit nicht zuzumuten und so, anders als in Amerika, ein Beschäftigungssystem ohne working poor aufzubauen, ist grundsätzlich nicht nur wohltätig, sondern auch vernünftig. Wenn dadurch aber der Preis der zugemuteten Arbeit gestützt wird und organisierte Anstrengungen zu seiner weiteren Erhöhung ermutigt werden, ist es erlaubt, an Goethe zu denken: "Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage." Heute, wo das Geld für weitere Drehungen der nach oben offenen Schraube von Arbeitslosigkeit und sozialstaatlicher Rationierung des Arbeitsangebots ausgegangen ist und die Schwelle der Zumutbarkeit dementsprechend wieder gesenkt werden muss, beklagen die Verteidiger des alten Regimes das Ende der gesellschaftlichen Solidarität und, was für sie dasselbe ist, den Anfang der Amerikanisierung - auch wenn sich ihre Art von Solidarität, wo sie nicht schlicht die Privilegien der einmal Beschäftigten absichert, längst zum Instrument sozialer und wirtschaftlicher Ausgrenzung gewandelt hat.

Wenn es nun aber so ist, dass unsere langjährig erprobten arbeitsmarktpolitischen Instrumente wie Arbeitszeitverkürzung und Stillegung von Arbeitskraft durch hohe Lohnersatzleistungen fortschreitende soziale Polarisierung nicht verhindern, sondern im Gegenteil sogar noch zu ihr beitragen, dann darf man sich, so meine ich, auch bei der Betrachtung amerikanischer Verhältnisse den Luxus der einen oder anderen kreativen Intuition gönnen. Vielleicht trifft es ja zu, dass ein Wohlfahrtsstaat, der auf die Sicherung des sozialen Status beschäftigter Arbeitnehmer sowie auf egalitären Ausgleich der Ergebnisse des Arbeitsmarktes abzielt, eher zu einem nach außen abgeschlossenen und kulturell homogenen Land passt als zu der Einwanderungsgesellschaft, welche die USA immer waren und die wir zunehmend werden. Möglicherweise wäre es deshalb ratsam, in Zukunft nach einem Solidaritätsbegriff zu suchen, der mehr auf Gleichheit der Chancen als der Ergebnisse abstellt. Von Amerika aus betrachtet fällt jedenfalls auf, dass es in Deutschland trotz einer großen Zahl von Einwanderern, mittlerweile der zweiten oder dritten Generation, keine Affirmative action-Programme oder Equal opportunity-Gesetze gibt - und wie schändlich unsere viel gepriesene soziale Solidarität gegenüber den Kindern unserer ehemaligen "Gastarbeiter" versagt, sollte uns spätestens die bereits erwähnte PISA-Studie gezeigt haben.

Mit anderen Worten, viel spricht dafür, dass eine auf Aktivierung und wirtschaftliche Integration zielende Sozial-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik sowohl der heutigen Bevölkerungsstruktur als auch der sich wandelnden Nachfrage nach Arbeit besser entspräche als eine Politik der Absicherung, Stilllegung und Abfindung, die ohnehin längst unbezahlbar geworden ist. Auf die Dauer werden wir um eine Öffnung der Märkte zur Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen für Außenseiter nicht herumkommen, nicht nur international gegenüber den Ländern Osteuropas und den sich entwickelnden neuen Industriegesellschaften, sondern auch im eigenen Land. Geringqualifizierte werden es in einer "Wissensgesellschaft" nie leicht haben. Aber was spricht dagegen, ihnen gerade deshalb zu erlauben, sich wie in den USA über längere Arbeitszeiten konkurrenzfähig zu machen, statt sie zu zwingen, sich beim Sozialamt einen unvermeidlich immer niedriger werdenden Ersatzlohn abzuholen? Wer kein Geld oder gar keine Arbeit hat, der kann mit sechs Wochen Urlaub ohnehin wenig anfangen.

Ohne Optimismus gibt es weder Initiative noch Investitionen


Ein anderer Bereich, in dem wir von Amerika lernen könnten und, so bin ich überzeugt, lernen sollten, ist der Umgang mit den persönlichen Risiken des Lebens. Hier begebe ich mich ausnahmsweise auf ein Gebiet, das dem Sozialwissenschaftler sonst eher unheimlich ist: das der kollektiven Mentalitäten. Was ich vor Augen habe, sind die Lebensauffassung und die allgemeine Einstellung der breiten amerikanischen Mittelschicht zu Arbeit und Wirtschaft - jener Gruppe, die allen Gerüchten zum Trotz immer noch weit größer und für die amerikanische Gesellschaft repräsentativer ist als die der working poor. Amerika war schon erheblich länger ein reiches Land als wir; vielleicht ist das die Erklärung, weshalb seine Bürger besser als wir verstanden haben, dass die Mitglieder einer reichen und entsprechend anspruchsvollen Gesellschaft mehr Risiken selbst übernehmen können und müssen. Die kulturelle Grundausstattung, welche die Amerikaner dazu befähigt, ist ein tief verwurzelter Optimismus. Ohne Optimismus gibt es keine Eigeninitiative und keine riskanten Investitionen. Dass der Staat ihnen ihr Studium spendieren sollte, käme Amerikanern im Leben nicht in den Sinn. Die Kosten ihrer Ausbildung betrachten sie als ihre eigenen Investitionen in ihre eigene Zukunft. Viele amerikanische Studenten verlassen die Universität stolz auf ihre Leistung und über beide Ohren verschuldet. Eltern mit mehreren Kindern im College verzichten jahrelang ohne zu klagen auf den Familienurlaub, um ihren Kindern die bestmögliche Ausbildung mit auf den Weg zu geben. Dennoch gibt es in Amerika anteilsmäßig weit mehr Studenten an Universitäten und Fachhochschulen als bei uns. Schrecken Studiengebühren vom Studium ab, wie unsere zuständige Ministerin nicht müde wird zu behaupten? Im Vergleich zwischen Deutschland und den USA müsste man sagen: Sie erhöhen die Studentenzahl.

Überhaupt beklagen sich die Menschen in den Vereinigten Staaten weit weniger als bei uns. Sie arbeiten, wie wir gesehen haben, erheblich mehr – und sind trotzdem Umfragen zufolge bei der Arbeit insgesamt zufriedener. In den meisten Familien sind beide Eltern ganztägig berufstätig, mit amerikanischen Arbeitszeiten – und dennoch ist, auch das wohl ein elementarer Ausdruck von Optimismus, die Geburtenrate in den USA mit 2,06 gegenüber 1,38 anderthalb mal so hoch wie bei uns. Die üblichen politisch korrekten Erklärungen für unsere niedrige Kinderzahl, dass es nicht genügend staatliche Kindergärten und nicht genügend Teilzeitarbeit gibt, versagen hier übrigens völlig: In Amerika gibt es so gut wie überhaupt keine staatlichen Kindergärten, und von den Frauen mit zwei Kindern arbeiten in Deutschland 60 Prozent in Teilzeit, in den USA aber nur 24 Prozent. (Familien mit zwei Verdienern können die Risiken eines flexiblen Arbeitsmarktes leichter ertragen als Familien, die von einem einzigen Einkommen abhängen; nicht nur erhöht Flexibilität die Beschäftigung, sondern hohe Beschäftigung ermöglicht auch höhere Flexibilität.) Optimismus, Initiative und Unternehmungsgeist spiegeln sich auch in der hohen räumlichen Mobilität der Amerikaner, die von einer entsprechenden kulturellen und institutionellen Infrastruktur unterstützt wird: Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Nachbarn, auch solchen, die von weither zugewandert sind, Bereitschaft zu rascher Anpassung an eine neue Umgebung, aber auch, wenn es sein muss, zu leichtem Abschiednehmen, ein starker Zusammenhalt der Familien auch über weite Entfernungen hinweg, ein effizienter Hausmarkt usw. usw.

Welche Tugenden wir brauchen werden

Nicht alles davon werden wir lernen können, wollen oder müssen. Einiges aber wohl schon. Das eine oder andere von dem, was wir dringend brauchen werden, wenn unser Arbeitsmarktregime und unser Bismarckscher Sozialstaat endgültig zusammengebrochen sein werden, können wir schon heute im All-tagsleben der Menschen in den Vereinigten Staaten beobachten. Hierzu gehören Selbsthilfe und Eigeninitiative, die für Wohlstand und Erfolg in der zukünftigen postindustriellen Arbeitsgesellschaft wichtiger sein werden als kollektive Versorgung. Selbsthilfe und Eigeninitiative wiederum sind ohne optimistische Bereitschaft zu Risiko und Wettbewerb nicht möglich. Je schneller wir lernen, wie man mit offeneren Märkten zurechtkommt, desto besser. In dem Maße, wie unsere Probleme amerikanischer werden, können unsere Lösungen nicht deutsch bleiben. Auch die amerikanischen Lösungen sind nicht der Weisheit letzter Schluss. Aber wenn wir einige der Tugenden genauer kennen lernen wollen, die wir brauchen werden, um die Probleme unserer Zukunft zu meistern, kann ein Blick nach Amerika helfen.

Geringfügig redaktionell bearbeitete Fassung eines Beitrags zur Ringvorlesung "End-station Amerika? Sozialwissenschaftliche Innen- und Außenansichten", Duisburger Akzente 2004, Universität Duisburg-Essen, Campus Duisburg, 29. April 2004.

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