Hier trug der Westen Hornbrille

Peter Richter hält Ost- und Westdeutschen den Spiegel vor

Der Schutzumschlag ist knallrot. Im oberen Drittel sieht man zwei Autos: einen stumpfgrünen Trabi und einen metallicblauen Golf. Beide sind offenbar gerade zusammengestoßen, man sieht es an ihren ramponierten Vorderfronten. Der Zusammenprall hat sie vom Boden abheben lassen. Offen bleibt, was passiert, wenn sie wieder auf dem Boden landen.

Darunter der Titel in rapsgelb: Blühende Landschaften. Eine Heimatkunde. Der Autor stellt sich in den ersten Sätzen seines Buches gleich selber vor: "Mein Name ist Peter Richter, ich bin dreißig Jahre alt, und, ja, ich habe fast alles von den Böhsen Onkelz. Ich sage das lieber gleich, sonst finden mich wieder alle nett..."

Kein Zweifel, Peter Richter, der zurzeit in Ostberlin lebt, in Dresden aufgewachsen ist und nach der deutschen Einigung in Hamburg studiert hat, will provozieren. Und über weite Strecken gelingt ihm das auch. Dabei meidet er die im Osten gelegentlich so beliebte Jeremiade nach dem Motto "Klagen ohne zu leiden" (Felix R. Mindt). Vielmehr kriegen beide Seiten ordentlich was ab, erzählt entlang von Begebenheiten, die der Autor selbst erlebt hat. In der Sache kräftig, im Stil meist locker, gelegentlich elegant und geschliffen polemisch. Kern all dieser Geschichten: Erst durch die Wiedervereinigung kommt es zur Geburt der Sozialfigur des Ostdeutschen, und nur dadurch wiederum haben die Westdeutschen "so richtig zu sich selbst gefunden". Der fremde Blick des ostdeutschen Autors auf den Westen wirft ein neues Licht auf das scheinbar bekannte Eigene, der kennende Blick auf das Eigene im Osten öffnet die Augen des Westdeutschen für das Fremde.

Ein paar Beispiele, die aber natürlich den Stil, in dem sie erzählt werden, nicht wiedergeben können: Da schildert der Autor etwa, als Wanderer zwischen beiden Welten, die Lust der Westdeutschen an der scheinbar unschuldigen Ursprünglichkeit der DDR - bis ihnen durch randalierende Neonazis, sich krebsartig ausbreitende Baumarktscheußlichkeiten und spießige Nachbarn die Lust am Osten vermasselt wird. Da erzählt er von der "linken" WG in Hamburg, deren Wortführer erfährt, dass der potentielle Mitbewohner aus Dresden kommt und daraufhin erklärt, man würde die Stadt am liebsten noch einmal bombardieren, weil es darin auch Neonazis gibt. Da polemisiert Richter gegen jene Fernsehsender, die ostdeutsche Neonazis mit Gagen alimentieren, die diese erst zum Zuschlagen ermuntern: "Ein halbwegs fotogener Brandanschlag - und alle machten die Kassen auf."

Oder er karikiert die westdeutsche Politik-Medien-Inszenierung am Beispiel des Deutschlandfunks und seiner Frühstücks-Telefoninterviews mit Politikern, von denen ich annahm, dass sie noch im Schlafanzug steckten, während ihre Sätze schon Schlips und Kragen trugen". Köstlich ist in diesem Zusammenhang die beiläufige Charakterisierung des Deutschlandfunks in Köln: "Hier trug der Westen Hornbrille."

Days of Speed, Nights of Nuth

Andererseits die Ostdeutschen: die sich jahrelang beklagten, von westdeutschen Glücksrittern, die ihnen jeden Schrott andrehten, ausgeplündert worden zu sein. Die aber ihrerseits, angesichts des ungewohnt üppigen Warenangebots, hemmungslos zugriffen, ohne zu zahlen: "Bevor nämlich in Ostdeutschland die Depression einsetzte, gab es auch hier erst mal eine Manie: Und das war vor allen Dingen die Kleptomanie." Oder die Geschichte von der DDR, in der es natürlich nach offizieller Lesart keine Drogen gab. Aber es gab - keine Mangelware - den Fleckentferner Nuth, der, auch an Minderjährige verkauft, als Ersatzdroge zum Schnüffeln genutzt wurde; oder jene Appetitzügler, die nach bundesdeutschem Betäubungsmittelgesetz der Droge Speed gleichkamen und auch so benutzt wurden. Oder der Umgang der DDR mit ihren Ausländern: Hier wurde staatlicherseits und getarnt mit dem Etikett "Völkerfreundschaft" der Boden bereitet für die Brandanschläge von Rostock in der frühen Nachwendezeit.

Das alles erzählt Richter meist mit scharfer Beobachtungsgabe und oft in bestem Sinne unterhaltend. Dabei gelingen ihm wunderbare Formulierungen. Etwa jene über die historischen Sehenswürdigkeiten im Westen, die "den löblichen Eindruck (machten), eben erst fertig gestellt worden zu sein". Kaum zu übertreffen der Spott, mit dem er die Lust des Arbeiter- und Bauernstaats auf "gutbürgerliches Essen" beschreibt, als "ein bis heute unschlagbares Wort, um die kleinbürgerlichen Gelüste nach vermeintlich großbürgerlichen Standards zu beschreiben". Oder der hilflose Umgang einer sich gern politisch korrekt gebenden Szene mit den Neonazis: "Das haben die Linken leider nie begriffen. Wer Häuser besetzt, bekommt ein Gerichtsverfahren. Wer Leute anzündet, einen neuen Sportplatz. Bei rechtsradikaler Gewalt wurde gern ein Defizit an Zuwendung ausgemacht und dies nachträglich mit Sachleistungen zugeschüttet."

Wo viel geschossen wird, geht auch mancher Schuss daneben. Etwa bei Richters Polemik gegen westdeutsche Essgewohnheiten, Modevorlieben und Wohnkultur. So präzise manches beobachtet ist (was man allerdings anderswo schon gelesen hat, wie etwa Ausführungen zur Markenfixierung Jugendlicher), scheint dann doch das sicher beklagenswerte Schicksal durchzuschimmern, mit Sättigungsbeilagen, Dederonstoffen und Sprelacarttischen aufgewachsen zu sein. Und im polemischen Parforceritt gehen auch schon mal Formulierungen unangenehm daneben - etwa wenn Richter zwei alte Frauen in Hamburg schildert, die Tag für Tag auf Kissen gestützt aus ihren Fenstern schauen, um zu erleben, dass im langweiligen Stadtteil Horn nichts passiert: "Sie waren Trümmerfrauen gewesen, jetzt waren sie Frauentrümmer." Das, Herr Richter, ist dann doch unter ihrem Niveau. Von dem Anderen würde ich gern mehr lesen. Und dann werden wir schon gemeinsam einen Weg finden, um den oben geschilderten Schaden an ihrem Trabbi und meinem Golf zu regulieren.

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