Heute wird global gezockt: Warum Deutschland als Blockaderepublik keine Zukunft hat



Reformpolitik hat in Deutschland einen schlechten Ruf. Konservative misstrauen ihr, weil sie die Dinge grundsätzlich für wenig bewegbar halten, jedenfalls nicht zum Besseren, weil sie Reformern nicht trauen und weil auch die als Reformen bezeichneten Modernisierungen der Bildungs- und Sozialpolitik in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts handwerklich oft unbefriedigend ausgeführt wurden. Nicht-Konservative (es scheint kein geeignetes positives Wort für diese Gattung mehr zu geben) sind ebenfalls skeptisch, weil ihnen die in den vergangenen Jahren beschlossenen und derzeit erwogenen Veränderungsschritte entweder in die falsche Richtung gehen oder, umgekehrt, nicht weit genug. Und weil die Kategorie der „Reform“ den Verrat am größeren, wirklich bedeutsamen Wandel in sich trägt.


Wer bis hierher gelesen hat, wird sogleich – und zu Recht – einwenden, dass die Begriffe „Konservative“ und „Reformer“ ungenügend, weil zu vage und unpräzise sind. Dieser Hinweis verweist auf ein Kernproblem der gegenwärtigen Reformdebatten in Deutschland. Es ist kaum rational bestreitbar (und wird auch kaum bestritten), dass fundamentale Veränderungen der sozialen Sicherungssysteme, der Arbeitsbeziehungen, des Steuerrechts, des Bildungssystems und allgemein der Innovationsanreize unvermeidlich sind. Ein relativ unkomplizierter Realitätsabgleich mit den Verhältnissen in anderen Gesellschaften und mit der demografischen Entwicklung im eigenen Land, ferner die mit der Globalisierung einhergehende Dynamik erlauben keinen anderen Befund. Ein „Modell Deutschland in einem Land“ kann nicht funktionieren.


Allerdings: Wandel, der die Lebensverhältnisse von Millionen von Menschen berührt und beeinflusst, benötigt wohl mehr als anscheinend technokratische Begründungen. Und an dieser Stelle fällt auf, dass nun – anders als in der Zeit der sozialliberalen Koalition – der damals strapazierte und im Zweifel attraktive Begriff des Fortschritts nicht mehr zur Verfügung steht. Das macht die mobilisierungsfähige Kodierung politischer Veränderungen offenbar mühsamer.


Wenn wir über diesen Marketingaspekt hinaus blicken, stellen wir fest, dass es zumindest drei wesentliche Gründe für Veränderungsblockaden gibt. Erstens kann man die Nachwirkungen des Korporatismus der Nachkriegszeit beklagen. Die tripartistischen Konfliktregulierungen haben Deutschland (anders als Frankreich und Italien) viele sozialen Auseinandersetzungen erspart, oder diese zumindest gemildert. Das gemeinsame Auspalavern von Kohle-, Werften- und anderen Krisen, zum „Modell Deutschland“ aufgeadelt, hatte damals wohl seinen Sinn. Heute aber ist das Spielfeld nicht mehr das Saarland, das Ruhrgebiet und die Küste. Heute wird global gezockt. Und dadurch verkehrt sich ein Äquilibrium von Interessengruppen, das den langsamen Wandel ermöglichte, in eine instabile und von intransigenten Vetospielern bevölkerte Szenerie.

Wo steht, dass wir ständig wählen müssen?

Zweitens, die Wahlen. Demokratie und Wahlen gehören zueinander. So sagen die Texte, mit denen unsere Politikstudierenden traktiert werden, so sagt das Grundgesetz, und so glauben wir es anscheinend fast alle – Politikmüdigkeit hin oder her. Wo aber steht geschrieben, dass wir ständig wählen müssen? Nirgends. Wir tun es aber. Es fällt einem kaum ein Land der Welt ein, in dem in so kurzen Abständen und mit so viel gesamtgesellschaftlicher Aufmerksamkeit ständig Zettel in die Urnen geworfen werden. Über vier Jahre verteilt (und nicht etwa gebündelt auf wenige Daten) wählen die Deutschen den Bundestag, 16 Länderparlamente, das Europaparlament, und selbst die Kommunalwahlen in Frankfurt oder Köln entgehen nicht der bundesweiten Publizität.


Nun könnte man das als Folklore betrachten. Doch es gibt eine fatale Wirkung des Dauerwählens: Der politische Prozess wird entsprechend strukturiert. Vor allem wird er kurzatmiger, da er sich ständig der Logik irgendeiner Landtagswahl anzupassen hat. Entscheidungen unterbleiben, deren Wirkungen einen negativen populistischen Furor auslösen könnten. Energien und Aufmerksamkeit, die wir für die Lösung von Sachproblemen benötigen, werden in Wahlkämpfe investiert. Komplexe politische Zusammenhänge werden zur Unkenntlichkeit vereinfacht und medial „aufbereitet“. Nicht unbedingt zwischen Demokratie und politischer Performanz, aber gewiss zwischen einem unaufhörlichen Wahlmarathon und konstruktiven, wirksamen politischen outcomes besteht ein negativer Zusammenhang.

Die Medien folgen ihrer eigenen Logik

Drittens, die Medien, unsere „vierte Gewalt“. Die wirken bekanntlich als hoch wirksame agenda setter, auch wenn ihre Vertreter unermüdlich vorgeben, sie hätten keine eigene Agenda. Vielmehr folgten sie den Bedürfnissen reifer Bürgerinnen und Bürger, die qua Zuschalten und Wegzappen demokratisch entscheiden, was sie sehen und lesen wollen. Und wenn die Qualitätssendungen geringe Quoten bringen, ist der Bürger schuld: Er will es eben nicht anders. Es geht dabei nicht um Medienschelte. Die Medien folgen ihrer eigenen Logik, die letztlich inzwischen eine Marktlogik ist – zunehmend auch im öffentlich-rechtlichen Segment. Medien vermitteln Nachrichten und Kommentare über eine Währung: den Nachrichtenwert.


Die Rolle der Medien ist aber nicht nur wegen ihrer selektiven Diskursgenerierung in der Gesellschaft problematisch. Medien verhindern auch das Nachdenken bei Entscheidungsträgern. Politiker und Politikerinnen sehen sich in eine Dauerilluminierung eingetaucht. Siesind Mitwirkende in einem weitläufigen Rotlichtbezirk, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Kein lautes Nachdenken bleibt unbemerkt. Kein ausprobierendes Überlegen eines neuen Ansatzes bleibt unkommentiert. In der Folge sind Politiker zu einer sich selbst ständig absichernden, Medien unablässig bedienenden, aber sie auch benutzenden Spezies geworden. Im Ergebnis erleben wir eine weitgehend situative, fluide, auf kurzfristige Effekte setzende Politik, die ad-hocistisch degeneriert ist. Der „Ad-hocismus“ ist zum dominanten Politikmodus geworden.


Es ist das Verdienst der Berliner Republik, sich diesem Trend immer wieder zu entziehen und sperrig zu sein. Dafür gebührt ihr Aufmerksamkeit und Unterstützung. Weiter so mit dem Versuch, sich der korporatistischen Blockade sowie der Wahl- und Medienlogik ein wenig zu versagen.

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