Hell aus dem dunklen Vergangenen leuchtet die Zukunft hervor

Demokratischer und sozialer Fortschritt seien unmöglich geworden, fürchten manche. Doch das stimmt nicht. Ein Versuch über unsere Gegenwart als historisch offene Situation - und die großen Möglichkeiten der bevorstehenden zwanziger Jahre

Seit fast einem Jahrzehnt konzentriert sich die Politik auf die Lösung aktueller Probleme. Über das, was einmal werden soll hingegen, liegt der Diskurs brach oder flackert nur bei voneinander isolierten Themen auf. Die Debatten und Analysen zur Digitalisierung, zur Elektromobilität, zur Energiewende oder zu anderen Zukunftsfragen sind fachlich ohne Zweifel hervorragend, doch sie bleiben je für sich stehen und strahlen nur begrenzt auf die Gesellschaft aus. Verständlicherweise: Seit einer Dekade sind wir mit einer Kette von Krisen konfrontiert, die jede für sich die Welt hätte ins Chaos stürzen können. Auf die Finanzkrise folgte die Wirtschaftskrise, dann der Krieg in der Ukraine, schließlich der Exodus aus Syrien und die Ankunft hunderttausender Geflohener in Deutschland und Europa. Ebenso folgte eine Notmaßnahme der nächsten. Wer könnte noch zählen, wie viele Krisengipfel seit 2008 stattgefunden haben?

Die genannten Krisen markieren in der Summe das Ende einer Epoche. Das Ende der Marktblindheit, das Ende zweier (aus europäischer Sicht) friedlicher Jahrzehnte, das Ende der analogen Welt. Wir stehen vor dem Beginn von etwas Neuem: der digitalen Welt. Wir stehen hoffentlich vor einer Rückkehr zum Frieden und vor einer neuen ökonomischen Phase. EZB-Präsident Mario Draghi hat der Lust deutscher Volkswirte an Crash und Krise zum Glück widerstanden und damit eine neue ökonomische Option erhalten. Doch was als nächstes folgt, bleibt noch recht unscharf. Zu viele Veränderungen kommen völlig überraschend und sind – bis auf die Energiewende – nicht „Made in Germany“. Wir befinden uns in einer vagen Zwischenzeit.

Diese permanente Unbestimmtheit wirft mehr und mehr Fragen auf, die ohne Antworten bleiben. Das macht scheinbare Alternativen attraktiv. Die sich ausbreitende Ablehnung der Moderne hat schon in Warschau und Bratislava, in Prag und Budapest Politikern zu Mehrheiten verholfen, die sich dem demokratischen Common Sense Europas verweigern. Die konservative Regierung in Großbritannien droht mit dem Austritt aus der EU, wenn ihre Bedingungen nicht erfüllt werden. Die national-soziale Regierung in Polen will die Polonisierung der sich häufig im Auslandsbesitz befindlichen Medien vorantreiben. In Frankreich und Italien führen Anti-Establishment-Parteien die Opposition an. Ihre innere Verfasstheit nimmt die von ihnen angestrebten autoritären Regime vorweg. Hier soll die Grande Nation wieder auferstehen, dort sich der Volkswille als gelenkter Internet-Mob Bahn brechen.

Die Welt wird in zehn Jahren eine andere sein

Dagegen verlieren bewährte Institutionen, Verträge und Gewissheiten an Qualität und Prägekraft. In Deutschland sind die Verhältnisse – verglichen mit Entwicklungen in einigen Nachbarstaaten – sogar noch stabil. Das seit Jahrzehnten tot geschriebene Normalarbeitsverhältnis ist das ökonomische Rückgrat der aktiven Generation. Weil unser Land sich jedoch nicht isolieren kann, gilt auch zwischen Rhein und Oder: Wir handeln in einer historisch offenen Situation. Es ist unendlich viel in Bewegung. Die Welt wird in zehn Jahren eine andere sein – ob mit unserem Zutun oder ohne. Dabei ist ungewiss, ob die vor uns liegenden zwanziger Jahre eine Epoche der Demokratie und Prosperität, des sozialen Fortschritts und ökologischer Erfolge wird.

Die Alternativen sind wenig verlockend: Europa als Union xenophob-autoritärer Regime ist eine abstoßende Vorstellung – und doch möglich. Auch die Vorstellung einer EU als gemeinsamer Markt ohne verbindende demokratische und soziale Grundwerte ist eine Möglichkeit – das will die Regierung in London.

Pessimisten, die vorgeben, dem Projekt des sozialen Fortschritts anzuhängen, es aber schon abgeschrieben haben, gibt es auch bei uns zur Genüge. Manche dieser Freunde, die uns noch zu Beginn des Jahrhunderts zuriefen: „Weniger Sozialstaat bedeutet mehr soziale Sicherheit!“, raten heute zum politischen Irrationalismus – schließlich erkenne doch jeder, dass der demokratische Kapitalismus am Ende sei.

Es empfiehlt sich nicht, diesen Ratgebern zu folgen. Eben weil die Situation offen ist, hängt von ihrem Ausgang auf Jahrzehnte hinaus unser Leben ab. Statt leichtfertig Politik zu spielen, kommt es darauf an, weitreichende Entscheidungen zu treffen. Es gibt tatsächlich mehr als einen Grund zu der Annahme, unser Land könnte aus dem gegenwärtigen Wendepunkt der Geschichte heraus zu einer demokratisch und sozial Starken Gesellschaft werden. Von den wesentlichen Gründen soll hier die Rede sein.

Doch schon hört man die Zweifler dazwischen rufen: Wie könnte das gelingen? Ausgerechnet jetzt, wo die gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnisse so gar nicht für einen demokratischen Aufbruch sprechen und sich der Mob in der AfD zusammenfindet? Ist es denn nicht so, dass wir am Vorabend einer Klimakatastrophe leben? Untergraben nicht die Entwicklungen am Arbeitsmarkt unsere ökonomische Basis? Driften Arm und Reich nicht immer weiter auseinander? Sind die Straßen unseres Landes nicht mit Schlaglöchern übersät? Regnet es nicht durch die Dächer der Schulen und Kitas, in denen es an Lehrern, Erzieherinnen und zeitgemäßer Pädagogik fehlt? Stagnieren nicht seit Jahrzehnten die Einkommen? Entledigen sich Unternehmer und Investoren nicht zusehends der betrieblichen und gewerkschaftlichen Mitbestimmung? Werden Frauen in Arbeitswelt und Gesellschaft nicht systematisch diskriminiert? Warum sonst sinkt die Wahlbeteiligung schier ungebremst? Wenden sich Arbeiter und Angestellte, Rentner und Erwerbslose nicht von der Demokratie ab? Hat uns Japan nicht den ersten Rang bei den Patenten auf regenerative Energiesysteme abgelaufen? Droht nach dem Krieg in der Ukraine nicht ein noch viel größerer Konflikt im Nahen Osten? Die Liste zweifelnder Fragen an die kühne Behauptung, eine Renaissance von Demokratie, Sozialstaat und Frieden liege nicht einmal ein Jahrzehnt vor uns, ließe sich mühelos verlängern.

Aus der Predigt des Niedergangs wird niemals ein politisches Programm

Es ist ja richtig: Die Bevölkerung leidet unter dem Verschleiß ihrer produktiven, mate­riellen und ideellen Substanz, die Grenzen der Belastbarkeit unseres Sozialstaates wurden bis an das gerade noch erträgliche Maß ausgetestet. Erste Reparaturen wie die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes oder die vorübergehende Rückkehr zur Rente mit 63 waren deshalb absolut richtig und notwendig.

Es geht hier auch nicht darum, Werte über Bord zu werfen oder die Welt rosarot zu zeichnen. In Frage steht unser Standpunkt, von dem aus wir als Anhänger des demokratischen und sozialen Fortschritts, eine Zukunft entwerfen. Begnügen wir uns mit dem Mindestlohn? Oder ist nicht der nächste Schritt, diesen Mindestlohn durch bessere Tarifverträge überflüssig zu machen? Will, wer trotz Arbeit arm ist, nicht dorthin kommen, wo andere schon sind: in bessere Arbeit, von der man gut leben kann? Bei allem Unbill, der Arbeitnehmern täglich begegnet, bei aller Respektlosigkeit, mit der sie konfrontiert sind, haben sie nicht aufgegeben. Auch wenn der Arbeitsmarkt nicht auf das Beste geordnet ist, so stehen hierzulande jeden Morgen 43 Millionen Frauen und Männer auf, gehen ihrer Erwerbsarbeit nach, meistern ihren Alltag, versorgen ihre Kinder oder Eltern, engagieren sich in Vereinen, in Parteien, Gewerkschaften, Kammern, Umweltorganisationen, bilden sich weiter. Oder sie tun einfach nichts, was ein ganz vorzügliches Recht ist.

Die Menschen hierzulande sind den Stürmen der Globalisierung und den Zumutungen der Märkte nicht schutzlos ausgeliefert. Ihre tägliche Kraftanstrengung ist ein Grund, warum aus der Predigt des Niedergangs niemals ein politisches Programm wird. Wer ständig beschreibt, wie unserer Gesellschaft der innere Zusammenhalt verloren geht, ignoriert die widerständige Kraft von 80 Millionen Frauen, Männern und Kindern, 60 Millionen davon wahlberechtigt, 43 Millionen erwerbstätig.

Höhere Einkommen, bessere Arbeitsbedingungen

Wer auf die Arbeitnehmermitte als Restgröße blickt, deren Auflösung in Arm und Reich im Kapitalismus gleichsam naturgesetzlich vorgezeichnet ist, der verkennt, dass es ohne politisches Subjekt keine dauerhafte Veränderung geben wird. Diese Arbeitnehmermitte hat ja ihre Themen: Es regnet wirklich in die Schulen ihrer Kinder; es fällt wegen Lehrermangel der Unterricht aus; das Schulsystem fördert nicht, sondern sortiert Kinder nach ihrer Herkunft; die eigene Weiterbildung liegt seit Jahren brach; ihre Realeinkommen sind schon lange nicht mehr gestiegen; die Miete in Großstädten wird immer teurer; das Pendeln ist eine Zumutung; es gibt zu wenig geeignete Kita- und Hort-Plätze; öffentliche Bibliotheken und Hallenbäder werden geschlossen; die Krankenkasse erhöht gerade wieder den Beitrag.

Wie verändert der „Kollege Internet“ den Arbeitsplatz? Was bringt die Energiewende den Arbeitnehmern? Wird Strom nicht nur erneuerbar, sondern auch unvorstellbar teuer? Wird das industrielle Netz als Ankerarbeitsmarkt diese Wende überstehen? Wovon lebt die heutige Arbeitnehmermitte, wenn sie in die Jahre kommt?

Und: Was bedeutet eigentlich Fachkräftemangel aus Sicht der Arbeitnehmer? Könnte es sein, dass im alternden Arbeitsmarkt der kommenden zwanziger Jahre bessere Einkommens- und Arbeitsbedingungen einfacher durchsetzbar werden? Könnte die mit Pendeln vertane Lebenszeit dank digitaler Zusammenarbeit auf ein Minimum reduziert werden? Wird es gelingen, mittels Digitalisierung intelligente hierarchiearme Arbeitsprozesse zu entwickeln, deren Produktivität Top-down-Organisationen überlegen ist?

Die Länge der Mängelliste und die vielen offenen Fragen, die in die Tiefe reichen und miteinander verwoben sind, verbieten isolierte Antworten. Vielmehr müssen sie zu einem Grand Design verbunden werden. Antworten gibt es in Programmatik und Schrifttum aller großen gesellschaftlichen Institutionen. Aber sie bleiben bei genauer Betrachtung fraktioniert, angewandtes Spezialistentum. Sie atmen nicht die Zeit, die kommt. Deswegen wirkt vieles zu klein, meistens scheitert es (wie ein modernes Bildungssystem) auch noch am Geld. Die Politik hat sich mit der „Schuldenbremse“ auf Dauer an ein konservativ-liberales Dogma gekettet. Damit das Mindeste, was Not tut, geleistet werden kann, muss das Steuersystem wieder dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit folgen.

Ein guter Teil der Enttäuschung, die sich im Land breit gemacht hat, ist das Ergebnis des Widerspruchs zwischen Versprechen und Wirklichkeit. Solange der schlanke oder wettbewerbsfähige Staat die Begründung für alles ist, was geht und was nicht, wird das auch so bleiben. An Wahlabenden werden regelmäßig Tränen über das Misslungene vergossen: Fast noch jede Landesregierung (egal welcher Farbe) wurde in den vergangenen 20 Jahren abgewählt, weil sie ihre Versprechen auf eine bessere Bildung der Kinder nicht eingelöst hat. Die am besten ausgebildete aktive Generation lässt sich auf Dauer nicht verschaukeln.

Um erfolgreich zu sein, darf Politik sich nicht damit begnügen, parlamentarische Mehrheiten zu erringen. Die Verführung zur Abkürzung ist groß, wenn der Weg lang ist. Bisweilen aber lohnt der lange Weg. Es geht nicht darum, dass es am Wahlabend für die Parteien irgendwie reicht. Es geht um die gesellschaftliche Mehrheit für ein Projekt. Daraus sollte dann ein entsprechendes Wahlergebnis resultieren. Wäre 2013 eine Koalition aus SPD, Linkspartei und Grünen mit knappster Mehrheit gebildet worden, dann hätten wir wahrscheinlich bis heute keinen Mindestlohn. Und die Vermögenssteuer würde wohl auch noch nicht erhoben.

Es fehle, tuschelten die Parteistrategen schon vor dem Wahltag, zum Erfolg das Narrativ. Nur entsteht so ein Narrativ nicht in der Marketingabteilung, also war es kurzfristig auch nicht zu finden. Es existiert erst dann, wenn der Bäcker von seinen Kunden Widerworte bekommt, wenn er mal wieder gegen die Vermögenssteuer wettert, die ihn angeblich in seiner Existenz bedroht.

Es fehlt bis heute nicht das Narrativ, sondern eine Vorstellung von dem gesellschaftlichen Bündnis, welches in der Lage wäre, die zwanziger Jahre zu einem Jahrzehnt des Fortschritts zu machen. Veränderung braucht Bewegung, Reibung, Hitze. Reform ist nicht, wenn ein totes Gesetz verabschiedet wird. Ein Aufbruch braucht Mehrheiten – also ein politisches Subjekt, das für den Wandel kämpft, ihn trägt und ihn zu verteidigen bereit ist.

Pessimisten entdecken überall Bedrohungen

Dabei sind die Zutaten für das Gelingen eines Aufbruchs reichlich vorhanden. Nicht nur die aktive Generation hat ihre Themen. Zeiten des technologischen Fortschritts sind häufig auch Zeiten des sozialen Wandels. Werden neue Werkstoffe oder Energie­quellen entdeckt, kommen neuartige Techniken zum Einsatz, dann schaffen Innovationen und Investitionen nicht nur den materiellen, sondern auch den geistigen Raum für Fortschritt.

Wir haben das Glück der Gleichzeitigkeit von drei großen Revolutionen – oder das Pech, je nach dem, was unsere Generation aus der Digitalisierung, der Energiewende und dem Fachkräftemangel zu machen versteht.

Die Digitalisierung etwa machte den globalen Siegeszug der Finanzmärkte möglich. Sie hat die Beziehungen zwischen Kunden und Lieferanten revolutioniert und Verbrauchern ungeahnte Einkaufsmöglichkeiten eröffnet. Aber nicht nur das: Heute kann man in jeder Kleinstadt in Sachsen-Anhalt oder Hessen die aktuellste internationale Presse lesen; heute kann man von dort aus an Weltuniversitäten studieren und in globalen Beziehungen arbeiten. In Teilen des Dienstleistungssektors ist es denkbar, Arbeiten und Leben zu verschmelzen.

Pessimisten, die noch 2016 der Normalarbeit der siebziger Jahre nachtrauern, entdecken überall Bedrohungen. Wo bleibt unsere Arbeit, wenn Computer Computer steuern? Jeder weiß es: Der 3D-Drucker beim Zahnarzt macht den Zahntechniker überflüssig. Das Homeoffice bedroht die faszinierende Kultur des Büroalltags, die Verschmelzung von Arbeit und Leben ist die Kernschmelze der Familie und des Ichs. Und wer per Internet an den Hochschulen der Welt studieren kann, belegt auch keinen Volkshochschulkurs mehr.

Freilich ist die Digitalisierung kein Heilsversprechen, deren Weiterentwicklung getrost Forschern, Entwicklern und Managern aus dem Silicon Valley anvertraut werden darf. Doch nachdem wir nun schon alles wissen über die Risiken des Internets für Sitte und Anstand, Arbeit und Leben, sollten wir doch vor allem danach fragen, welche soziale Emanzipation mithilfe der Digitalisierung möglich ist. Wie können wir den technischen Fortschritt nutzen, um daraus sozialen Fortschritt werden zu lassen? Das Wissen darüber ist nicht breit gestreut. Forscher, Fabulierkünstler und Fachsimpler haben dazu einiges aufgeschrieben, doch dieses shared Wissen bleibt dem Alltag arbeitender Menschen seltsam entrückt.

Zu klären wäre: Wie kann sich der Mensch im Internet frei bewegen ohne von Werbern, Dienstanbietern und staatlichen Agenturen gestalkt zu werden? Wie kann die Beteiligung der Bürger an politischen Meinungsbildungsprozessen verbessert werden? Was ist ein Betrieb in einer vernetzten Arbeitswelt? Ist ein Betriebsrat auch für Soloselbständige da? Kann kluge digitale Organisation der Arbeit die kreativitätstötende Top-down-Organisation der Wissensarbeit ersetzen? Wie würde in dieser Welt die Arbeit erfasst und reguliert? Wie wird Produktivität gemessen, damit Lohn und Leistung in einem vernünftigen Verhältnis bleiben?

Man kann in der E-Mail-Flut untergehen oder sich freuen, dass Menschen noch nie in ihrer Geschichte so viele Briefe und Nachrichten geschrieben haben. Die Flut kann abnehmen und die Briefe können besser werden. Wer die zwanziger Jahre zu einem Jahrzehnt des Fortschritts machen will, muss den vielen Bedrohungen durch das Digitale die befreienden Möglichkeiten der neuen Technologien voranstellen.

Mit der Energiewende ist es nicht anders. An dieser Stelle soll nicht davon die Rede sein, ob sie gut oder schlecht gemacht ist. Dass wir sie vorantreiben, weil wir das Klima retten wollen, muss auch nicht diskutiert werden. Wenn sie gelingt, ohne dass Industrie und Verbraucher überfordert zurückbleiben, dann reicht ein Blick in die vorletzte hoch subventionierte Energiewende, um zu ahnen, welche Möglichkeiten in einem solchen Prozess stecken: Die Atomkraft hat aus dem rustikalen Agrarstaat Bayern einen Industrieprotz werden lassen, der die Welt mit Mobilität und Technologie, Maschinen und hochwertigem Porzellan versorgt.

Vielleicht wird Deutschland der Energiewende-Lieferant der Welt

BMW betreibt in Leipzig eine von vier Windrädern betriebene Fabrik zur Herstellung von Elektroautos. Die Karosserien sind aus Carbonfaser – einem zentralen Werkstoff der Windmühlenindustrie. Um die Faserbauteile im gleichen Takt zu kleben, wie heute in konventionellen Autofabriken geschweißt wird, wurde ein eigener Klebstoff entwickelt. So zieht eine Innovation die nächste nach sich. Es ist keine abstrakte Lehre der Geschichte: Jede Energiewende – angefangen bei der Entdeckung des Feuers – hat die menschliche Entwicklung verändert. Jede neue Energietechnologie hat freilich auch neue Möglichkeiten zur Zerstörung mit sich gebracht. Aber eben vor allem das Leben erträglicher gemacht – auch weil neue Produkte möglich wurden und viele Betriebe zu den Energiequellen zogen. Sie werden es bei Erfolg des Projektes wieder tun; es bestehen dann Chancen auf industrielle Arbeit, wo es davon bislang zu wenig gab, etwa an der Küste. Wenn der Coup gelingt, dann wird Deutschland der Energiewende-Lieferant der Welt. Gar nicht auszudenken, wie viele Chancen auf Arbeit in Produktion, Dienstleistungen und Handwerk damit möglich werden.

Der aufkommende Fachkräftemangel kann helfen, eine wesentliche Grundlage unseres Miteinanders zu erneuern: ein Tarifsystem, in dem Arbeit und Kapital ihren Grund­widerspruch nicht nach dem Recht des Stärkeren austragen, sondern in dem zwar gestritten (wenn es nicht anders geht auch handfest), aber über zivilisierte Verhandlungen normalerweise ein Ausgleich zwischen den Interessen gefunden wird.

Auch hier stehen wir am Scheideweg, der offene Situationen kennzeichnet: In einigen Gegenden sind Arbeitgeber dazu übergegangen, ihrer Konkurrenz die Facharbeiter mit Headhuntern und Wechselprämien abzujagen. Und die Aktivitäten berufsegoistischer Verbände geben Auskunft darüber, wie sich die Arbeitslandschaft verändern kann. Es herrscht überdies bei manchen die vage Hoffnung (und bei anderen die Furcht), ein stabiles Tarifsystem könnte durch eine Art Day-Trading-System um die Arbeitskraft von Soloselbständigen ersetzt werden. Dies würde den Preis der Arbeit täglich nervös schwanken lassen, ohne jeglichen sozialen Schutz. In der digitalen Welt entwickelt sich diese Realität gerade erst, sie ist noch sehr weit davon entfernt, unseren Arbeitsmarkt zu prägen. Doch es ist nicht ausgeschlossen, dass auch hier eine Keimzelle für die Arbeit der Zukunft entsteht. Jedenfalls gilt: Wenn nicht nach dem Faustrecht entschieden werden soll, wer die Besten am Arbeitsmarkt für sich gewinnen kann, dann schaffen Flächen- oder wenigstens Branchentarifverträge Regeln, die für Unternehmen das Wirtschaften und für Beschäftigte das Leben planbar machen.

Noch erodiert das System, weil zu viele Arbeitgeber weiterhin den Nachwirkungen des marktradikalen Zeitalters vertrauen, als ihnen die Flucht aus dem Arbeitgeberverband mehr Freiheiten gab, Löhne und Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. In dieser Zeit hat auch das Vertrauen der Arbeitnehmermitte in die politische Gestaltbarkeit ihrer Arbeitsbedingungen gelitten. Das Ergebnis ist unbefriedigend. Die Arbeitszeiten wachsen über die vereinbarte Stundenzahl hinaus, die Einkommensentwicklung stagniert seit 25 Jahren – brutto und netto. Bei erheblich gestiegener Wirtschaftsleistung geht es der heutigen Generation nicht besser als der ihrer Eltern. Das ist – freundlich formuliert – einfach ungerecht.

Wenn wir wollen, dann stehen wir vor wunderbaren Zeiten

Wenn sich aber bislang noch egoistische Arbeitgeber in den zwanziger Jahren zur Rückkehr in die Kultur ordnender, Arbeit gestaltender Flächentarifverträge entschließen, dann werden Lohn und Leistung wieder in ein faires Verhältnis kommen. Die Löhne werden besonders in den Branchen steigen müssen, in denen sich Arbeitgeber jahrzehntelang eine angemessene Bezahlung gespart haben. Das kann kein einfaches Vorwärts in die Vergangenheit werden. Neue Beschäftigungsformen wie Soloselbständigkeit müssen ebenso betrachtet werden wie veränderte Erwartungen an Arbeitszeit und ort einer Generation, in der Frauen und Männer gleichberechtigt erwerbstätig sind. Damit werden die Anforderungen an sie ja nicht geringer. Wer in einem Land leben will, in dem Eltern für ihre Kinder, Söhne und Töchter für ihre Alten da sind, in dem Sportvereine und freiwillige Feuerwehren, Parteien und Gewerkschaften existieren, der muss in einer älter werdenden Gesellschaft über Arbeitszeit neu nachdenken. Wer das nicht will, wird das bekennen müssen. Der vielleicht wichtigste Kampf, der mit Blick auf das fortschrittliche Jahrzehnt vor uns liegt, ist der Kampf um die freie Zeit.

Wenn wir wollen, dann stehen wir vor wunderbaren Zeiten. Die sind übrigens das beste Argument gegen alle Populisten, die jeden Tag eine neue Krise brauchen, damit ihre Heilsversprechen verfangen. Die Krise ständig neu zu beschreiben, erzeugt keinen Aufbruch, sondern bestenfalls die wohlige Gewissheit bei jenen, denen es besser geht, über ihr eigenes Glück und das Unglück der anderen.

Wenn also die obszöne Spreizung von Einkommen, Vermögen und Bildungschancen umgekehrt, wenn aus einer unentschiedenen Gesellschaft keine schwache, sondern eine dem Fortschritt gegenüber offene Starke Gesellschaft werden soll, dann beginnt der Kampf um den Wandel mit einem simplen Versprechen: Von den zwanziger Jahren an gilt für alle Menschen in unserem Land und in Europa, dass weder Herkunft noch Geschlecht, Orientierung oder Religion, Vermögen oder Einkommen darüber entscheiden, wer seine Talente wie ausbilden und seine Lebensziele erreichen kann. Anschließend ist alles zu tun, um dieses Versprechen von der Gleichheit aller Menschen einzulösen. Alle Politik wird an diesem Ziel zu messen sein.

Für eine »Starke Gesellschaft« der Freien und Gleichen

Solch eine Starke Gesellschaft ist das Ergebnis einer Bewegung, die mehr Gleichheit will – und zwar nicht nur, um einer individualistischen Freiheit zu folgen. Eine Starke Gesellschaft ist eine Wohlstandsgesellschaft, kein autoritärer, alles planender Staat. Mehr ein Netzwerk, in dem Jede und Jeder aus seinen Interessen heraus einen Beitrag leistet, damit sich Prosperität, hoher Beschäftigungsstand, gute Arbeit und ökologischer Fortschritt für alle verlässlich entwickeln.

Dazu bedarf es des starken, handlungsfähigen Staates, der auf Steuern aus Vermögen und Börsenumsätzen ebenso wenig verzichten kann wie auf Steuern aus Einkommen, Konsum und Erbschaften. Dazu bedarf es effizient wirtschaftender Sozialversicherungen, die die Folgen großer Lebensrisiken verringern. Dazu sind Sozialpartner nötig, die staatliche Mindestgarantien übertreffen und Unternehmer, die die Talente unseres Landes nicht nur nutzen, sondern sie ausbilden und anschließend fair beschäftigen. Eine Starke Gesellschaft zeichnet sich durch eine wachsende Mitte aus, in der es sich besser lebt, während die Ränder schrumpfen.

Es galt lange Zeit nicht unbedingt als modern, sich als Anhänger allgemeiner Wohlfahrt und egalitärer Gesellschaftsmodelle zu outen. Mag sein, dass die nach 1945 gegründeten Wohlfahrtsstaaten in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren in eine Sackgasse gerieten. Die sozialistischen Diktaturen waren nie eine echte Alternative. Was bleibt im Jahr 15 des neuen Jahrhunderts – nach zwei Börsenzusammenbrüchen, nach nicht gehaltenen Wohlstandsversprechen der Markt-Schreier und sozialer Erosion? Nach dem Ende des Kalten Krieges keimte bei manchen die Hoffnung, es werde neben der Freiheit auch eine materielle Friedensdividende geben. Stattdessen folgten immer neue Zumutungen. Die kommenden zwanziger Jahre sind die Gelegenheit, dass das Leben in Deutschland und Europa wieder zu einem tatsächlichen Wohlstandsversprechen wird.

Die Arbeitnehmermitte ist zahlenmäßig stark genug für einen solchen Aufbruch, und diejenigen, die trotz Arbeit arm sind, wollen es nicht bleiben. Die Werte einer sozialstaatlichen Idee sind etwas verschüttet, aber lebendig. Selbst viele derjenigen, die Einkommensstatistiker zur Oberschicht zählen, sind ihrem eigenen Verständnis nach ganz normale Arbeitnehmer. Sie ringen ebenso um Anerkennung. Eine gesellschaftliche Mehrheit ist möglich, um die offene historische Situation für demokratischen und sozialen Fortschritt zu nutzen. Wenn wir sie nicht zu nutzen wissen, bleiben wir Getriebene.

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