Bewegung der radikalen Hysterie

Die »Alternative für Deutschland« als rechtspopulistische Partei zu beschreiben heißt, sie zu verharmlosen. Der Blick ins Parteiprogramm belegt: Nicht weniger als die Errettung des Volkes aus der Knechtschaft erzkrimineller Eliten ist der heilsgeschichtliche Auftrag der AfD - ein Zweck, der fast jedes Mittel rechtfertigt

Die AfD bestreitet gemeinhin, eine rechte oder rechtspopulistische Partei zu sein. Diese Ansicht ist in der Tat richtig, wie hier zu beweisen sein wird. Bei dem in den Medien und unter Politikern gebräuchlichen Attribut – dies sei bereits vorweggenommen – handelt es sich um eine unbeholfene Verniedlichung.

Um den ersten Schritt in der Beweiskette vorzunehmen, ist es sinnvoll, sich die Definition für „Organisierte Kriminalität“ in Erinnerung zu rufen, welche die bundesweite Gemeinsame Arbeitsgruppe Justiz/Polizei (GAG) im Mai 1990 entwickelt hat: „Organisierte Kriminalität ist die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig

 — unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen,

 — unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder

 — unter Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken.“

Diese Definition ist wichtig, denn sie offenbart uns, woraus die Mitglieder und Funktionäre der AfD die Legitimation für ihre Radikalität ziehen. Im Grundsatzprogramm der AfD, das auf dem Bundesparteitag am 1. Mai 2016 in Stuttgart beschlossen wurde, wird unsere politische Realität nämlich wie folgt beschrieben:

„Heimlicher Souverän ist eine kleine, machtvolle politische Führungsgruppe innerhalb der Parteien. Sie hat die Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte zu verantworten. Es hat sich eine politische Klasse herausgebildet, deren vordringliches Interesse ihrer Macht, ihrem Status und ihrem materiellen Wohlergehen gilt. Es handelt sich um ein politisches Kartell, das die Schalthebel der staatlichen Macht, soweit diese nicht der EU übertragen worden ist, die gesamte politische Bildung und große Teile der Bevölkerung mit politischen Informationen in Händen hat.“

Regiert eine kriminelle Bande das Land?

Dieser starke Vorwurf bildet den Auftakt für das erste Kapitel des Grundsatzprogramms. In der voranstehenden Präambel behauptet die Partei, sie trete an, den Staat und seine Organe wieder in den Dienst der Bürger stellen zu wollen, „so wie es der im Grundgesetz geregelte Amtseid aller Regierungsmitglieder vorsieht“. Dieser verpflichtet Politiker darauf, dem Wohl des deutschen Volkes zu dienen, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden. In der Präambel des Grundsatzprogramms wird also unterstellt, dass unsere politischen Amtsträger dies nicht tun. Schließlich würde die AfD sonst den Staat nicht wieder in den Dienst der Bürger stellen müssen.

Folgt man der Unterstellung, dass eine politische Klasse in der beschriebenen Weise existiert, hätte sie sich demnach des Meineids schuldig gemacht. Die Betonung des Amtseides soll insinuieren, dass die politische Klasse kriminell ist. Meineid ist nach § 154 Strafgesetzbuch eine Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr geahndet wird – in schweren Fällen mit bis zu fünf Jahren. Tatsächlich aber ist der Amtseid nicht strafbewährt.

Demzufolge ist die „politische Klasse“ eine organisierte Bande, die ihre politischen Ämter missbraucht und zum Zwecke ihres Gewinn- und Machtstrebens planmäßig Straftaten begeht, und die einzeln (Meineid) und gemeinsam (heranzuziehen wären noch die Vorwürfe des Hochverrats, des Betrugs und der Untreue) auf unbestimmte Dauer arbeitsteilig zusammenwirkt, nämlich unter Verwendung geschäftsähnlicher Strukturen (Parteien) und unter Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz und Wirtschaft.

Die Mitglieder der AfD eint also die Ansicht, dass sie es nicht mit politischen Gegnern oder politischen Feinden in einer Demokratie zu tun haben. Die AfD sieht eine kriminelle Bande am Werk, die das Land systematisch ausbeutet und nach Oligarchenart regiert. Folgerichtig dämonisieren AfD-Funktionäre wie Alexander Gauland oder Björn Höcke die Bundeskanzlerin auch als Diktatorin. Wer sich diese Sicht zu Eigen macht, beschreibt einen Staatsnotstand und beruft sich im Grunde auf das Widerstandsrecht.

Die AfD gründet ihre Existenz auf dieser hysterischen Weltsicht und arbeitet an einer entsprechenden politischen Praxis, wie im zweiten Schritt der Beweisführung deutlich wird. Die AfD strebt nämlich keine parlamentarischen Mehrheiten an, um unser Land vom angeblichen Kartell des Verbrechens zu befreien. An keiner Stelle im ersten Kapitel des Programms, das den Titel „Demokratie und Grundwerte“ trägt, findet sich ein Hinweis darauf, dass die AfD parlamentarische Mehrheiten erringen will. Sie entwickelt darin eine ganz andere Praxis. Die AfD sieht sich als Werkzeug des Staatsvolkes der Bundesrepublik, das allein den von ihr beschriebenen illegitimen Zustand beenden kann. Um Unheil von Deutschland abzuwenden, will die AfD dem Staatsvolk sehr viel Macht verleihen: Dem Schweizer Vorbild folgend will die Partei hierzulande Volksentscheide einführen – von Einzelgesetzen bis hin zu Änderungen der Verfassung. Was in der Schweiz erlaubt ist, kann in Deutschland nur rechtens sein.

In Wirklichkeit würde sich die Volksabstimmung nach Schweizer Vorbild – das ist der dritte Beweisschritt – nur schlecht in unsere Verfassung einfügen. Das politische System der Schweiz ist auf Konkordanz ausgelegt, das unsrige auf Konkurrenz. Der Unterschied ist fundamental: In der Schweiz wirken alle Parteien an der Regierung mit, es gibt sozusagen keine Opposition in Parlamenten und Räten. Unsere Verfassung hingegen ermöglicht einer parlamentarischen Mehrheit, Herrschaft auf Zeit auszuüben. Die parlamentarische Opposition hat als Minderheit starke Rechte, das stärkste Recht aber haben die Wähler. Sie können mit jeder Wahl neue Mehrheiten in den Parlamenten und Räten schaffen.

Das Korrektiv in der Konkordanzdemokratie ist hingegen die Volksabstimmung, die tatsächlich auch die Verfassung zum Gegenstand haben kann. Die Opposition in der Schweiz ist also das Volk – wenn das Volk dies für erforderlich hält. Da die Konkordanz eben etwas ganz anderes als die Konkurrenz ist, gibt es auch kein Schweizer Vorbild. Wer die Schweiz als Vorbild heranzieht, meint also etwas gänzlich anderes, will es aber nicht offen aussprechen.

Der Treibstoff der AfD heißt Erregung

Da in der AfD Staatsrechtler wie Alexander Gauland an führender Stelle wirken, muss hier von Absicht und keinesfalls von Schludrigkeit ausgegangen werden. Das Volk soll die illegitime Herrschaft des politischen Establishments überwinden – in einer beliebig zu verlängernden Kette von Erregungsabstimmungen: gegen den Euro, gegen Flüchtlinge, gegen die Rundfunkgebühren, für Schießbefehle, gegen den Genderwahn …

Die Sache ist nicht trivial. Wer sich auf die Schweiz beruft, um zu begründen, dass der deutschen Demokratie ein wesentliches Element fehlt, will eine andere Republik, als jene, die das Grundgesetz vorgibt, aber sicher nicht das Schweizer Konkordanzmodell. Die aus der Hysterie über die Aufnahme von einer Million Flüchtlinge wiedergeborene Partei ist um ihrer Existenz willen auf die Fortschreibung dieser Hysterie angewiesen. Wenn immer neue Volksabstimmungen unser Land in den Zustand ständiger und höchster Erregung versetzen, würden die politischen Verhältnisse zum Tanzen und die „politische Klasse“ zum Sturz gebracht. Die AfD ist eine Bewegungspartei.

Spricht allein die AfD für »das Volk«?

Deswegen ist in einem vierten Schritt jener Absatz aus dem Grundsatzprogramm heranzuziehen, in dem die AfD über ihr Verständnis von Parteien Auskunft gibt: „Die Allmacht der Parteien und deren Ausbeutung des Staates gefährden unsere Demokratie.“ Und über Abgeordnete und Gemeinderäte heißt es: „ … ihre Loyalität gilt zuerst der politischen Partei, der sie angehören. Von ihr erhalten sie ihre Wahlchancen und ihre Wahl sichert typischerweise ihren Lebensunterhalt. Mit dieser Abhängigkeit von der Partei geht die Entfremdung vom Wähler einher.“

Dieser unerhörte Vorwurf ist so alt wie Massenparteien – etwa hundert Jahre. Robert Michels, damals noch Sozialdemokrat, legte 1911 seine Studie Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie vor. Der Lokalist Michels entwickelte darin das „eherne Gesetz der Oligarchie“. Lokalisten waren Anhänger eines direktdemokratischen und antizentralistischen Politikmodells. Das passte freilich nicht zu einer Partei wie der SPD, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits mehrere hunderttausend Mitglieder zählte. Eine Partei dieser Größe war auf einen Apparat, eine Organisation angewiesen. Michels Gesetz besagt indes: „Die Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden.“ Die Organisation werde vom Mittel zum Zweck und schließlich zum Selbstzweck. Massenmedien, die den Herrschenden ermöglichen, die direkte Kommunikation mit den Wählern zu vermeiden, würden dabei helfen.

Die AfD ist, wie wir wissen, natürlich ganz anders. Ihre Führungseliten ringen niemals um die Macht, sie sind frei von Intrige und immer ganz nah beim Volk, wenn sie in den Parlamenten sitzen. Sie dienen Deutschland jeden Tag, an dem sie sich über die Massenmedien, auch „Lügenpresse“ genannt, gegenseitig mit Vernichtung drohen.

Der Parteienkritiker Michels trat 1928 der Partei der faschistischen Bewegung Italiens bei. Im Duce meinte der Soziologe den Führer einer Bewegung zu erkennen, die das Ideal vom selbstlosen Menschen verwirklichen wolle.

Dies soll nicht heißen, dass Michels’ Vita die Entwicklung der AfD aufgrund vergleichbarer Irrtümer in der Politikanalyse vorzeichnet. Aber die hysterische Kritik an der demokratischen Verfassungswirklichkeit, verbunden mit dem Versprechen, die einzige Alternative zu sein, ist und wird kein demokratisches Projekt.

Welches Attribut hat die Partei verdient? Die AfD beschreibt die Verfassungswirklichkeit als illegitim, beherrscht von organisierten Kriminellen. Mit ihrem steten Verweis auf das Schweizer Vorbild lenkt sie von ihrer politischen Praxis – der Bewegung – ab. Als Partei lehnt sie Parteien offen ab. Was also ist die AfD? Dem stellvertretenden Parteivorsitzenden Alexander Gauland zufolge sieht sich die AfD in der Tradition der Sieger von Wien über das türkische Eroberungsheer von 1683: „Die AfD ist die letzte evolutionäre Chance, dieses Land wieder zu verändern.“ Was aber geschieht, um Himmels Willen, wenn der Evolutionär Gauland „vor der Geschichte versagt“, wie er das nennt? Wenn also die Verbrecher in Parlamenten, Räten und Parteien sich weiter meineidig gegen das deutsche Volk verschwören? Eine nationale Revolution? Diese hieße im feinen Salon-Jargon der AfD sicher „Erhebung“.

Fazit: Die Frage, ob es sich bei der AfD um eine rechtspopulistische Partei handelt, beantwortet die AfD im Grundsatzprogramm selbst. Es ist voll Heilserwartung und Vorhersehung. Die AfD maßt sich an, für „das Volk“ zu sprechen. Das Attribut „rechtspopulistisch“ ist eine Verniedlichung ihrer hysterischen Radikalität.

Der Text basiert auf einer Rede, die der Autor am 23. Juli 2016 vor dem Olof-Palme-Freundeskreis in Berlin gehalten hat.

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