Helden des Rückzugs

Ein Sammelband über die bewaffneten Kräfte der DDR in der Wendezeit verdeutlicht, wie Entscheidungen bei Polizei und Grenztruppen die friedliche Revolution damals ermöglicht haben

Es begann mit der Entscheidung Ungarns, die Grenzanlagen zu Österreich abzubauen und damit den Eisernen Vorhang ein kleines Stück zu öffnen. Wir erinnern uns an die DDR-Flüchtlinge in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland und an die unvollendete Ansprache von Außenminister Genscher am Abend des 30. September 1989. Das letzte Wort, das man noch verstehen konnte, bevor unbeschreiblicher Jubel losbrach, lautete: „Ausreise“.

Am 7. Oktober feierte die DDR mit großem Pomp, aber schon fast unter Notstandsbedingungen, ihr 40-jähriges Bestehen. Zwei Tage später folgte die unvergessene Montagsdemonstration vom 9. Oktober in Leipzig: 70 000 Demonstranten, die nicht mehr zu stoppen waren – der klare Wendepunkt der friedlichen Revolution.

Am 9. November schließlich der Fall der Mauer. Nichts von alledem musste so kommen. Daher ist die Frage berechtigt: „Was wäre gewesen, wenn …?“ Wie wäre unsere Geschichte weitergegangen, wenn einer dieser Tage anders verlaufen wäre?

Das Massaker von Peking als Mahnung

Wäre das Geschehen wie in Peking 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens abgelaufen, würde die Welt heute sicherlich anders aussehen: Damals trafen Panzer auf Demonstranten. Tausende Tote waren zu beklagen.

Ein neuer Sammelband über die Rolle der bewaffneten Kräfte in der DDR während der Wendezeit macht deutlich, dass es auch in diesen Organen zahlreiche Menschen gab, die in schwierigen Situationen Entscheidungen trafen, die letztlich mit ausschlaggebend dafür waren, dass wir heute von einer „friedlichen Revolution“ sprechen können. Es wurde nicht geschossen wie in Peking. Panzer fuhren nicht auf.

Ohne Vorgaben seitens ihrer vorgesetzten Dienststellen, waren die Kommandanten der Grenzübergangsstellen am Abend des 9. November auf sich allein gestellt. Trotz der Brisanz der Lage und ungeachtet der am nächsten Tag zu erwartenden Konsequenzen entschieden sie sich dafür, dem Bürgerdruck nachzugeben und die Grenze zu öffnen.

In seinen Erinnerungen bringt der Chef der Grenztruppen der DDR, Klaus-Dieter Baumgarten, diese Wendesituation so auf den Punkt: „Damit hatten wir die Initiative verloren.“ Der Satz gab dem Sammelband seinen ausdrucksstarken Titel.

Dieser erscheint als 23. Band der renommierten Reihe Militärgeschichte der DDR. Das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr wird damit seinem Auftrag gerecht, die deutsche Militärgeschichte mit Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert zu erforschen und der öffentlichen Debatte zugänglich zu machen.

Wie kam es zum friedlichen Verlauf?

Wenn wir uns die Größenordnung der bewaffneten Kräfte der DDR vor Augen halten, verstärkt dies in der Rückschau die Erleichterung darüber, dass die Revolution weitestgehend unblutig blieb. Eine halbe Million DDR-Bürger stand Ende der achtziger Jahre potenziell unter Waffen. Theoretisch war es der Staatsmacht möglich, jegliche unerwünschte Opposition im Land zu unterdrücken. Die Beiträge dieses Buches kreisen daher um die zentrale Frage: Wie kam es, dass die Revolution von 89 trotzdem relativ friedlich verlief?

Der Historiker und Oberstleutnant Heiner Bröckermann arbeitet im ersten Beitrag des Sammelbandes heraus, dass sich die DDR-Führung Ende der achtziger Jahre nicht mehr nur mit dem ideologischen Gegner im Westen, sondern auch mit den Reformbestrebungen im eigenen Bündnis auseinandersetzen musste - von Danzig über Budapest bis Moskau.

Honeckers SED stand der Politik Gorbatschows - neues Denken, Glasnost und Perestroika - kritisch gegenüber. Da sich die Sowjetunion gemäß der so genannten Sinatra-Doktrin aus den inneren Angelegenheiten ihrer Warschauer-Pakt-Verbündeten zunehmend heraushielt, musste die DDR-Führung mit der anrollenden Konterrevolution – wie sie es sah – allein fertig werden. Sie versuchte, die Demonstranten mit dem chinesischen Gewaltszenario vom Platz des Himmlischen Friedens einzuschüchtern und brachte die bewaffneten Kräfte einschließlich der NVA und der „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ gegen die Demokratiebewegung in Stellung.

NVA-Einsatz im Inland

Im Vorfeld der Feiern zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 hatte Honecker die Aktivierung der geheimen Führungsstruktur der Bezirke und Kreise der DDR für den Kriegsfall befohlen. Der Einsatz der NVA wäre also möglich gewesen.

An diesen Umstand knüpft der Beitrag von Rüdiger Wenzke an. Wenzke, langjähriger Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Instituts der DDR, wurde 1990 vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, dem heutigen Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, übernommen und ist dort als Wissenschaftlicher Direktor tätig.

Er berichtet, dass im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR innerhalb der militärischen Führung bereits Stimmen laut wurden, denen zufolge die Armee nicht mit Waffengewalt gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden solle. Die Diskussion führte schließlich zur Bildung von speziellen NVA-„Hundertschaften“. Damit konnte gewährleistet werden, dass die Truppe nicht unmittelbar nach Innen eingesetzt wurde. Andererseits standen damit aber eben zusätzliche Kräfte zur Verfügung.

Zum Einsatz kamen die Hundertschaften im Wesentlichen in Dresden, wo sie den Hauptbahnhof absichern sollten, während die Züge aus Prag hindurchfuhren; sowie in Ost-Berlin zur Absicherung der Feierlichkeiten des Republikgeburtstages. Ausgestattet waren diese Einheiten mit Schlagstöcken und Schutzschilden, aber nicht mit Schusswaffen, denn am 6. Oktober hatte der Verteidigungsminister Keßler das Mitführen von Waffen verboten.

Lähmende Verantwortung

Wenzkes Darstellung der Reaktionen innerhalb der Grenztruppen auf die Ereignisse vom 9. November zeigt beispielhaft, wie gelähmt die Verantwortlichen im ersten Augenblick waren. Der Chef der Grenztruppen stellte hierzu fest: „Wir hatten die Grenzer im Stich gelassen. Kein Befehl, keine Weisung, nichts, womit wir Ihnen Halt oder Orientierung gegeben hätten.“

An der innerdeutschen Grenze brach das Grenzregime in den Folgetagen regelrecht zusammen: eine Million Ausreisen, eine Million Einreisen täglich! Befehle und Weisungen aufgehoben, Sperrzonen geöffnet, der Einsatz von Scheinwerfern und Diensthunden eingeschränkt.

Der dritte Beitrag des Journalisten und Historikers Daniel Niemetz geht auf die Volkspolizei-Bereitschaften und die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ ein. Die ungefähr 11 000 Mann starken VP-Bereitschaften waren aufgrund der Handlungsunfähigkeit der DDR-Regierung am 17. Juni 1953 aufgestellt worden und militärähnlich strukturiert - einschließlich Wehrpflichtiger.

Ursprünglich gegründet, um die sozialistische Ordnung zu schützen, verlagerte sich der Aufgabenschwerpunkt der Kampfgruppen während des Kalten Krieges hin zur Landesverteidigung.

Wie bei den Volkspolizei-Bereitschaften wurden die Kampfgruppen mit ihren 200 000 Kämpfern in den beiden Jahren vor dem Fall der Mauer allerdings wieder stärker auf den inneren Einsatz ausgerichtet. Niemetz beschreibt, dass ab Anfang 1989 dazu ausgebildet wurde, gegen Menschenansammlungen vorzugehen.

Widerstand in den eigenen Reihen

Bemerkenswert ist, dass dies bei den Angehörigen der Kampfgruppen, die immerhin zu 70 Prozent Mitglieder der SED waren, heftige Reaktionen und Diskussionen auslöste. Am Beispiel des Bezirks Leipzig zeigt Niemetz, dass sich besonders jüngere Kämpfer dagegen sträubten, als „Knüppelgarde“ mit Schlagstöcken gegen die eigenen Kollegen und Nachbarn vorzugehen. In zahlreichen Bezirken kam es zu Austritten aus den Kampfgruppen.

Seit Mai 1989 – nachdem die Demonstrationen im Westfernsehen gezeigt worden waren - wurden Angehörige der Volkspolizei-Bereitschaften bei den Montags¬demonstrationen in Leipzig eingesetzt. Das massive Aufgebot an Sicherheitskräften zog allerdings erst Recht Aufmerksamkeit auf sich. Je mehr die Sicherheitsorgane Präsenz zeigten, desto größer wurde auch die Zahl der Demonstrationsteilnehmer.

Ab dem 2. Oktober 1989 kamen bei den VP-Bereitschaften auch Helme, Schilde und Schlagstöcke zum Einsatz. Innerhalb der Sicherheitskräfte wuchsen jedoch die Zweifel an der Verhältnismäßigkeit und Sinnhaftigkeit ihres Einsatzes.

Überforderte Einsatzkräfte

Am Abend des 4. Oktober 1989 sollten die Züge mit den Flüchtlingen aus der Prager Botschaft über Dresden in die Bundesrepublik fahren. Die Sicherheitskräfte wurden von der Zahl der Demonstranten und deren Gewaltbereitschaft völlig überrascht, denn die Einsatzkräfte waren deutlich in der Minderzahl und für einen solchen Einsatz nicht ausgebildet.

Anders verhielt es sich in Ost-Berlin, wo die Lage zunächst eher ruhig blieb. Denn dort waren Journalisten aus aller Welt versammelt, die natürlich über alles andere als über Gewaltakte der 15 000 Einsatzkräfte berichten sollten.

Dies änderte sich, als sich eine Gruppe von 300 Demonstranten vom Alexanderplatz in Richtung Palast der Republik bewegte. Die Gruppe wuchs rasch auf 5 000 Menschen an. Der Zug wurde in Richtung Prenzlauer Berg abgedrängt, wo Stasi und Volkspolizei massiv gegen die Bürger vorgingen.

Unter dem Eindruck dieser Ereignisse fand am 9. Oktober 1989 die nächste Montags¬demonstration in Leipzig statt. Noch am Tag zuvor forderte der Innenminister alle Chefs der Volkspolizei auf, ein „geschlossenes Auftreten der feindlich-negativen Kräfte“ durch konsequentes und rechtzeitiges Einschreiten „zu verhindern bzw. konsequent zu beseitigen“. In diesem Sinne sollten in Leipzig 800 Volkspolizisten von 600 Kämpfern der Kampfgruppen und 1 300 Bereitschaftspolizisten unterstützt werden.

„Die oder wir“

Bezeichnend ist, dass mehr als 40 Prozent der Angehörigen der Kampfgruppen erst gar nicht zum Einsatz erschienen oder ihr Kommen sogar ausdrücklich verweigerten – obwohl sie von ihren Vorgesetzten beschworen wurden, die Front zu halten: „Genossen, ab heute ist Klassenkampf. Die Situation entspricht dem 17. Juni 53“, mahnte ein Polizeiführer. „Heute entscheidet es sich – entweder die oder wir.“

Mit den über 70 000 Teilnehmern der Montagsdemonstration wurden alle Erwartungen der Sicherheitskräfte übertroffen. Vermutlich war dies neben der Friedfertigkeit der Demonstranten ausschlaggebend dafür, dass der Abend gewaltfrei verlaufen sollte.

Fünf Minuten bevor die Gruppen am 9. Oktober aufeinander trafen, heißt es um 18.35 Uhr im Einsatzprotokoll: „Nach Bestätigung wird befohlen, keine aktiven Handlungen gegenüber Demonstranten zu unternehmen. ... An alle Einsatzkräfte ist der Befehl zu erteilen, dass der Übergang zur Eigensicherung einzuleiten ist!“

Das Ende der Gewaltoption

Hinter diesem Satz steht im Protokoll ein Ausrufezeichen. Dieses Ausrufezeichen markiert vielleicht das Ende einer Option, die glücklicherweise nie Wirklichkeit geworden ist. Und den Anfang vom Ende eines Regimes, das sich 40 Jahre lang nur durch die Drohung mit Gewalt aufrechterhalten ließ.

Es ist bemerkenswert, mit welcher Erleichterung auch die Einsatzkräfte die Klarstellung dieser Befehle aufnahmen. Niemetz führt hierfür in seinem Beitrag zahlreiche bewegende Beispiele an.

Der letzte Beitrag des Buches von Matthias Uhl vom Deutschen Historischen Institut Moskau beschreibt zunächst die Entwicklung der Roten Armee in der DDR und zeigt, welchen Stärkeschwankungen die hier stationierten Truppen unterlagen. Auf dem Höhepunkt der Nachrüstungsdebatte umfasste die sowjetische Westgruppe in der DDR 400 000 Mann, ausgestattet mit 7 000 Kampfpanzern, 5 000 Artilleriegeschützen, 700 Kampfflugzeugen und 220 Boden-Boden-Raketensystemen. Der Personal- und Technikbestand lag nahe 100 Prozent, die Munitions- und Treibstoffvorräte reichten für 90 Gefechtstage. Die Alarmierungszeiten betrugen wenige Minuten. Keine Frage, was dies bei einem Angriff bedeutet hätte.

Aber mit Gorbatschow änderte sich alles. Uhl zitiert Quellen, denen zufolge der vollständige Abzug der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte aus der DDR bis 1995 geplant gewesen sei. Gorbatschow wollte den Rüstungswettlauf begrenzen, da er die Militärausgaben senken musste, um seine Perestroika verwirklichen zu können.

Der politischen Führung der Sowjetunion lagen seit Mitte der achtziger Jahre Erkenntnisse darüber vor, dass die wirtschaftlichen Probleme der DDR bis zum Ende des Jahrzehnts zu deren Zusammenbruch führen könnten. Gleichzeitig distanzierte sich die SED-Führung hartnäckig von den Reformen in der Sowjetunion. Studien des KGB legten nahe, dass der Status quo in den Ostblockstaaten nicht mehr aufrechtzuhalten war. Kühl wies Moskau die SED bereits im Sommer 1989 darauf hin, sie könne im Fall einer Aufstandsbewegung nicht mit dem Eingreifen der sowjetischen Truppen rechnen. Diese Haltung bekräftigte Gorbatschow bei seinem Geburtstagsbesuch in der DDR Anfang Oktober 1989. Die Weigerung der Sowjetunion, das SED-Regime wie am 17. Juni 1953 militärisch zu unterstützen, war eine zentrale Voraussetzung dafür, dass der Herbst 1989 und der Zusammenbruch der DDR friedlich verliefen. Die Geschichte hätte einen anderen Verlauf genommen, hätten Gorbatschow und viele andere, unbekannte „Helden des Rückzugs“ (Hans-Magnus Enzensberger) andere Entscheidungen getroffen.

Rüdiger Wenzke (Hrsg.), Damit hatten wir die Initiative verloren: Zur Rolle der bewaffneten Kräfte in der DDR 1989/90, Berlin: Ch. Links Verlag 2014, 272 Seiten, 29,90 Euro

(Diese Rezension ist am 21. Mai 2015 als Online-Spezial-Beitrag der Berliner Republik erschienen.)