Glücklich schrumpfen?

Warum gerade die schrumpfende Gesellschaft eine erneuerte Gerechtigkeitspolitik braucht

„Geld allein macht nicht glücklich“ – was der Volksmund seit Jahrhunderten weiß, hat neuerdings auch die moderne wissenschaftliche „Glücksforschung“ entdeckt und auf überzeugende Weise nachgewiesen. Vergleichende empirische Untersuchungen belegen, dass die Menschen in den westlichen Gesellschaften heute tatsächlich nicht glücklicher oder zufriedener sind als vor 50 Jahren – dabei haben sich im selben Zeitraum das Realeinkommen und der Lebensstandard verdoppelt.

„Wir haben heute mehr zu essen, mehr Kleider im Schrank, fahren mehr Autos, leben in komfortableren Wohnungen, unternehmen häufiger und längere Urlaubsreisen ins Ausland, arbeiten weniger und unter weitaus besseren Bedingungen. Vor allem genießen wir eine bessere Gesundheit und haben eine höhere Lebenserwartung. Dennoch sind wir nicht glücklicher! Trotz aller Fortschritte und trotz aller Anstrengungen von Regierungen, Lehrern, Ärzten und Unternehmern: Das Glück hat sich nicht vermehrt.“ Das schreibt der britische Wirtschaftswissenschaftler Richard Layard, der auch als Berater der Labour Party gearbeitet hat, in seinem höchst anregenden neuen Buch Die glückliche Gesellschaft: Kurswechsel für Politik und Wirtschaft.1

Die Erkenntnis des Volksmundes lässt sich heute mit harten Daten belegen und nachweisen, denn Glück ist tatsächlich messbar geworden. Richard Layard erklärt es in einfachen Worten so: „Glück ist, wenn wir uns gut fühlen, und Elend bedeutet, dass wir uns schlecht fühlen. In jedem Moment unseres Lebens fühlen wir uns himmlisch, halbtot oder irgendwo dazwischen. Diese Zustände kann man heute definieren, sei es durch Befragungen oder durch die Messung von Hirnströmungen.“ Mithilfe dieser Ergebnisse kann die Glücksforschung feststellen, welche Menschen glücklich sind und welche nicht. Sie kann auch feststellen, wie sich einzelne Länder im Hinblick auf die Zufriedenheit ihrer Bewohner unterscheiden: Es gibt Gesellschaften, in denen die Menschen deutlich glücklicher sind als in anderen. Und die Glücksforschung kann sogar erklären, warum sich Menschen glücklich oder unglücklich fühlen, warum sie ihr Leben so empfinden, wie sie es empfinden. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse formuliert Richard Layard seine zentrale These: „Der Individualismus hat den Menschen bestenfalls das Ideal der Selbstverwirklichung zu bieten. Doch diese neue Religion hat versagt. Sie hat die Menschen nicht glücklicher gemacht, im Gegenteil, sie setzt jeden unter Druck, möglichst viel und möglichst nur das Beste für sich selbst zu ergattern. Wenn wir aber wirklich glücklich leben wollen, dann brauchen wir ein gemeinsames Ziel, ein gemeinsames Gut oder Gemeinwohl, zu dem wir alle unseren Beitrag leisten können.“

Warum es noch schwieriger wird

Hat Richard Layard nicht im Grundsatz völlig Recht? Und wenn er Recht hätte, was würde dann aus seinen Überlegungen folgen? Was würde aus ihnen folgen zum einen für unsere Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und die Frage, wie wir diesem Leitbild politisch näher kommen? Und zum anderen: Welche Konsequenzen hätte Layards These besonders im Hinblick auf die Art und Weise, wie wir in Deutschland das Ziel der „inneren Einheit“ unseres Landes doch noch verwirklichen können, das zwar seit 1990 wieder vereinigt, aber ökonomisch, sozial und emotional in mancher Hinsicht bis heute nicht wirklich vereint ist? Schließlich wissen wir bereits heute, dass die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen, die der Osten und der Westen unseres Landes in den kommenden Jahrzehnten gemeinsam bewältigen müssen, in ihren Dimensionen noch bei Weitem über das hinausgehen werden, was wir in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten erlebt haben.

Warum wird es noch schwieriger? Es ist vor allem das besonders komplizierte Mischungsverhältnis von demografischer Krise einerseits sowie Globalisierung und zunehmend wissensintensiver Wirtschaft andererseits, aus dem sich die problematische Grundkonstellation der Zukunft ergibt. Wir müssen uns klar machen: Die bereits heute schwerwiegenden Finanzierungsprobleme unserer sozialen Sicherungssysteme haben bislang nur begrenzt demografische Ursachen – sie werden allerdings in dem Maße immer schwieriger in den Griff zu bekommen sein, wie sich in den kommenden Jahren das Zahlenverhältnis von erwerbstätiger und nichterwerbstätiger Bevölkerung zugunsten der Nichterwerbstätigen verschiebt. Hinzu kommt, dass die unweigerlich bevorstehende demografische Herausforderung die deutsche Gesellschaft ausgerechnet in einer Situation trifft, in der sie sich ohnehin bereits schwer tut, mit den veränderten Bedingungen von Globalisierung und Wissensgesellschaft zurechtzukommen.

Grundsätzlich ist unsere Gesellschaft zu hohen Erneuerungsleistungen im Stande. Das haben wir in Deutschland in den vergangenen 15 Jahren im Prozess der Vereinigung von Ost und West eindrucksvoll bewiesen – vor allem, aber durchaus nicht nur die Menschen in den neuen Bundesländern. Unser Land ist buchstäblich das einzige auf der Welt, das in der jüngeren Vergangenheit das Zusammenwachsen zweier so völlig unterschiedlicher Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen zu bewältigen hatte. Auf den Erfahrungen dieser Zeit im Umgang mit Prozessen des Umbruchs, des Wandels und der Erneuerung können wir selbstbewusst aufbauen. Zugleich aber wissen wir, dass in Zukunft umfangreiche zusätzliche Veränderungen auf uns zukommen: Der Anpassungsdruck durch Globalisierung, Demografie und wissensintensives Wirtschaften erhöht sich weiter, nur als erneuerungsfreudige Gesellschaft wird Deutschland im internationalen Wettbewerb mithalten können. Zugleich aber verringern sich – und zwar gerade auch aufgrund des demografischen Wandels – die Anpassungspotenziale unserer Gesellschaft, sofern wir nicht energisch gegensteuern. Unser Land wird Schrumpfungsprozesse im Inneren und die dauernde Anpassung an die sich weiter rasch verändernden äußeren Rahmenbedingungen zugleich bewältigen müssen. Das hat es in dieser Kombination in den vergangenen, durch die Prozesse des Wachstums von Bevölkerung und Wirtschaft gekennzeichneten Jahrzehnten noch niemals gegeben.

Schrumpfen war nicht vorgesehen

Unter den Gesichtspunkten der Gerechtigkeitspolitik und der sozialen Einheit Deutschlands liegt genau hier die zentrale Schwierigkeit – vielleicht ist sie aus ostdeutscher Perspektive nur besonders deutlich wahrnehmbar. In den vergangenen Jahrzehnten sind Sozialstaat und soziale Gerechtigkeit in Deutschland üblicherweise vor allem materiell begründet und gewährleistet worden. Durchaus zu Recht, denn ohne finanzielle Absicherung gegen die Wechselfälle des Lebens sind individuelle Freiheit, staatsbürgerliche Gleichheit und soziale Gerechtigkeit tatsächlich nicht vorstellbar. Die Ideen des Sozialstaates und der sozialen Marktwirtschaft haben in genau diesen Prinzipien ihre Wurzeln. Denn das Leitbild des Sozialstaates beschreibt ein Gemeinwesen, das auf Freiheit, auf rechtlicher Gleichheit, auf Marktwirtschaft sowie auf der demokratischen und sozialstaatlichen Solidarität seiner Bürger beruht. Und politisch verwirklicht wird dieses Leitbild in dem Maße, wie es einem Staat gelingt, Freiheit, Mitbestimmung und die Beteiligung aller an den gemeinsamen Angelegenheiten des Gemeinwesens zu ermöglichen.

Wir erleben aber heute, dass dieses Modell beträchtlichen neuen Herausforderungen ausgesetzt ist. Eine dieser Herausforderungen stellen zweifellos die harten ideologischen Gegner des Sozialstaates dar, die dessen Grundidee aus prinzipiellen Gründen ablehnen. Aber das ist nicht das Hauptproblem, denn von einem „neoliberalen Mainstream“ in der deutschen Gesellschaft kann in Deutschland heute – anders als oftmals unterstellt – bei Licht betrachtet überhaupt nicht die Rede sein. Grundsätzliche Sozialstaatsfeindschaft war und ist hierzulande weder im Osten noch im Westen mehrheitsfähig. Im Gegenteil erfreuen sich, wie Untersuchungen, Umfragen und Alltagserfahrung immer wieder zeigen, die Grundidee und die Prinzipien des Sozialstaates ungebrochener Beliebtheit und Zustimmung.

Was den Sozialstaat heute tatsächlich in Schwierigkeiten bringt, sind daher in Wirklichkeit weniger seine erklärten ideologischen Feinde als die zunehmende Erosion seiner Voraussetzungen: die Tatsache nämlich, dass er – jedenfalls in seiner hergebrachten Form – zunehmend an objektive finanzielle und demografische Grenzen stößt. „Die zentrale Herausforderung moderner Gesellschaften durch die Bevölkerungsschrumpfung besteht darin, dass Schrumpfungsprozesse in ihnen sozusagen strukturell nicht vorgesehen sind, sondern dass bisher alle Probleme durch Wachstum gelöst wurden“, schreibt der renommierte Bielefelder Sozialstaatsexperte Franz-Xaver Kaufmann in seinem Buch Schrumpfende Gesellschaft: Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen.2 Dieser Weg der expansiven Problemlösung durch kontinuierliches Wachstum der Wirtschaft, der Bevölkerung, der staatlichen Haushalte und der Sozialbudgets ist uns nun offenbar auf Dauer verbaut. Wir müssen tatsächlich auf vielen Gebieten lernen, aus weniger mehr zu machen.

Menschen inmitten des Wandels

Um die Dimension der Herausforderung einmal am Beispiel des Landeshaushalts von Brandenburg zu veranschaulichen: In meinem Bundesland werden das kontinuierliche Abschmelzen des Solidarpakts II zur Förderung des Aufbau Ost sowie weitere (auch demografische) Faktoren dazu führen, dass sich das Haushaltsvolumen des Landes von heute 10 Milliarden Euro bis auf etwa 7,5 Milliarden Euro im Jahr 2020 reduziert – ein Rückgang der verfügbaren Mittel um ein Viertel innerhalb von 15 Jahren. Nicht anders sieht es in den anderen ostdeutschen Bundesländern aus. Klar ist bereits heute, dass es einen Solidarpakt III für Ostdeutschland nicht geben wird. Deshalb werden wir dieses drastische „Haushaltsschrumpfen“ politisch zu organisieren und aktiv zu gestalten haben. Gelingt uns dies nicht, wird in Brandenburg schon in naher Zukunft buchstäblich keine Politik mehr stattfinden. Dies umreißt, knapp skizziert, die haushaltspolitische Aufgabe, vor der Brandenburg und die anderen ostdeutschen Bundesländer stehen.

Zugleich werden sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten gerade vor Ostdeutschland – aber eben keineswegs nur vor Ostdeutschland – demografische Herausforderungen auftürmen, für die sich in der Vergangenheit keine Beispiele finden. Bereits heute leben die Menschen inmitten des dramatischen Wandels. Abwanderung und zunehmender Wohnungsleerstand, die Schließung von Schulen, Bibliotheken und Schwimmbädern, ländliche Regionen mit immer weniger jungen Menschen und Dörfer ohne Kinder – das alles ist in vielen Regionen Ostdeutschlands bereits heute Wirklichkeit. Aber um ein bloß ostdeutsches Problem handelt es sich hierbei nicht: „Die Mitte Deutschlands entleert sich“, heißt es in der aktuellen Studie Deutschland 2020 des Berlin-Instituts für Weltbevölkerung und globale Entwicklung. „Von Sachsen über Thüringen bis ins Ruhrgebiet zieht sich eine regelrechte Schneise der Entvölkerung quer durch die Republik.“3 Mit anderen Worten: Was heute schon im Osten geschieht, steht auch im Westen mit voller Wucht bevor.

Jedoch verläuft die demografische Entwicklung nicht linear und ausschließlich abschüssig, sondern differenziert und widersprüchlich. Auch das lässt sich am Beispiel des Landes Brandenburg demonstrieren. Während sich ländliche Räume entleeren, entstehen in Deutschland und Europa zugleich moderne neue Ballungsräume: verdichtete Boomregionen mit hoher internationaler Vernetzung. Sie werden in den kommenden Jahren immer heftiger um die rapide zurückgehende Zahl qualifizierter inländischer Arbeitskräfte konkurrieren. Vor allem Baden-Württemberg und Bayern sind in Deutschland heute die Gewinner der enormen innerdeutschen Wanderung. Aber auch das brandenburgische Umland von Berlin gilt einschlägigen Untersuchungen zufolge als eine der zukunftsträchtigsten Regionen Deutschlands. Für die kommenden Jahrzehnte werden dieser Metropolregion beträchtliche weitere Bevölkerungszuwächse vorausgesagt. So intensiv wie kein zweites Bundesland erlebt Brandenburg daher die gegenläufigen Prozesse von Bevölkerungsschrumpfung und Bevölkerungswachstum zugleich. Dass diese Entwicklungen in den einzelnen Regionen des Landes Hoffnungen und Ängste in höchst unterschiedlichen Mischungsverhältnissen auslösen, ist nur zu begreiflich. Während die einen zu Recht neue Chancen erkennen und ergreifen, fürchten sich andere nicht ohne Grund davor, in ländlichen Gegenden dauerhaft „abgehängt“ zu werden.

Warum schrumpfen nicht scheitern bedeuten muss

Gerade langfristige demografische Prozesse lassen sich per Definition nicht kurzerhand „umdrehen“. Aber muss das Schrumpfen immer im Scheitern münden? Meine Antwort lautet: Nicht unbedingt! Auf uns selbst kommt es an. Sehr viel, womöglich alles wird davon abhängen, welche Schlüsse wir aus den beschriebenen Entwicklungen ziehen, für welche Haltung und welches Handeln wir uns den neuartigen Herausforderungen gegenüber entscheiden. Welche Ziele wollen wir eigentlich verfolgen? Und wie?

Unschwer voraussagen lässt sich zunächst, dass es uns ganz sicher nicht leicht fallen wird, die Schrumpfungsprozesse der kommenden Jahrzehnte zu organisieren und menschengerecht zu gestalten: Die Bevölkerungsentwicklung der Vergangenheit verlief nun einmal anders, und so fehlt es uns ganz einfach an Erfahrungen. Franz-Xaver Kaufmann entwirft vor diesem Hintergrund ein düsteres Szenario – besonders auch im Hinblick auf das Ost-West-Verhältnis innerhalb der deutschen Gesellschaft: „Während das Bevölkerungswachstum zu stimulierenden Ungleichheiten führt, scheint ein Bevölkerungsrückgang in Verbindung mit der Verschärfung sozialstaatlicher Verteilungskonflikte der Verschärfung sozialer Ungleichheit und der Verfestigung sozialer Gegensätze Vorschub zu leisten. Dabei ist weniger an unmittelbare Generationenkonflikte denn an regionale und soziale Ungleichheiten und Konflikte zu denken. Was sich heute erst ansatzweise im Verhältnis von Ost- und Westdeutschland zeigt, kann im Fortgang der demografischen Ausdünnung des Ostens dramatische Formen annehmen.“
Niemand kann heute mit Sicherheit sagen, dass es zu solch einer Entwicklung in Deutschland nicht kommen kann. Was wir wissen, ist dagegen, dass solch eine Entwicklung auf keinen Fall eintreten darf. Dafür mit Erfolg alles zu tun – das wäre eine zeitgemäße neue Gerechtigkeitspolitik unter den Bedingungen von Globalisierung und demografischer Schrumpfung unserer Gesellschaft. Umso dringender ist solch eine Politik angesichts der eingangs erwähnten Ergebnisse der neueren Glücksforschung. Diese Ergebnisse sind einerseits ernüchternd, weil sie darauf hindeuten, dass überwiegend auf materiellem Zuwachs basierende und auf weiteren Zuwachs abzielende wirtschafts- und sozialpolitische Strategien gravierende Defizite aufweisen: Alle diese Zuwächse haben die Menschen in der Vergangenheit eben nicht zufriedener gemacht. Andererseits aber geben diese Ergebnisse der Glücksforschung im Umkehrschluss auch Anlass zur Hoffnung: Wenn es so ist, dass Glück und Zufriedenheit der Menschen ohnehin nicht unbedingt von erreichten Besitzständen und materiellen Zuwächsen abhängen, warum sollten sich dann nicht neue Wege beschreiten lassen, um eine lebenswerte, Zufriedenheit und Zusammenhalt ermöglichende Gesellschaft selbst unter Bedingungen des Schrumpfens politisch zu organisieren?

Materielle Absicherung ist nicht genug

Anschauung bietet nicht zuletzt die bisherige Funktionsweise des Sozialstaats. Zwar ist der traditionelle, überwiegend beitragsfinanzierte deutsche Sozialstaat heute im internationalen Vergleich in finanzieller Hinsicht noch immer außergewöhnlich großzügig – nur wer sich nicht gut in Europa und der Welt auskennt, kann das bestreiten. Dennoch ist festzustellen, dass unser Sozialstaat in seiner bisherigen Form zur Annäherung an das, was Richard Layard „glückliche Gesellschaft“ nennt, offenbar nur noch wenig beitragen kann. Materielle Absicherung ist wichtig, aber sie ist eben niemals genug. Wer – beispielsweise – langfristig arbeitslos wird, dem wäre selbst mit einem unbefristeten Arbeitslosengeld in der vollen Höhe seines bisherigen Gehalts auf die Dauer nicht wirklich gedient. Denn Arbeitslosigkeit macht nicht vor allem dadurch unglücklich, dass sie die betroffenen Menschen um ihr früheres Einkommen bringt – das ganz sicher auch. Den weitaus größeren Schaden richtet langfristige Arbeitslosigkeit aber dadurch an, dass sie Menschen um ihren Platz in der Gesellschaft bringt; dass sie Freundschaften, Bekanntschaften und das Familienleben der Betroffenen in Mitleidenschaft zieht; dass sie schleichend Qualifikationen der Menschen entwertet und irgendwann auch ihre Initiative erlahmen lässt; dass sie Selbstbewusstsein, Lebenssinn und Zukunftsoptimismus zersetzt. Geld allein macht nicht glücklich – diese Erkenntnis bleibt richtig. Aber wenn das so ist, dann gilt der Satz erst recht für das Arbeitslosengeld oder für andere finanzielle Lohnersatzleistungen des Sozialstaates: Alle diese Mittel sind richtig und notwendig. Sie helfen den betroffenen Menschen, finanziell recht und schlecht über die Runden zu kommen. Doch neue Perspektiven, neue Hoffnung, neuen Lebenssinn und den Weg zurück zu aktiver Beteiligung am Leben der sozialen Gemeinschaft eröffnen sie in viel zu geringem Umfang.

„Die Politik eines Staates sollte danach beurteilt werden, inwieweit sie Glück mehrt und Leid mindert“, schreibt Richard Layard. „Auch unser persönliches Verhalten sollte das größtmögliche Glück aller zum Ziel haben.“ Schon deshalb tun wir gut daran, uns über die Frage der Gerechtigkeit und ihre Bedingungen neue Gedanken zu machen. Meine nicht zuletzt aus den ostdeutschen Erfahrungen der vergangenen 15 Jahre gewonnene These lautet: Soziale Gerechtigkeit unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts ist vor allem eine Frage der Zugehörigkeit, des Mitmachens, der aktiven Beteiligung der Menschen an den Angelegenheiten ihres Gemeinwesens. Klaus von Dohnanyi hat unlängst aus der Perspektive des 1928 geborenen Westdeutschen noch einmal auf genau dieses Problem hingewiesen: „Man muss sich die Lage in Ostdeutschland vor Augen führen. Für uns konnte es damals in der Nachkriegszeit nur besser werden. Für viele in der ehemaligen DDR ist es schwieriger geworden. Nicht schlechter, denn die Freiheit ist gewonnen, und auch der Lebensstandard ist eigentlich besser. Aber das Gefühl, gebraucht zu werden und ein Teil des Ganzen zu sein, haben wir den Menschen in Ostdeutschland nicht geben können.“4

Gebraucht zu werden – genau das ist das Entscheidende. Denn gebraucht zu werden schafft Lebenssinn, Zufriedenheit, sozialen Zusammenhang und durchaus auch das Empfinden von Glück. Jeder kennt das aus der eigenen Erfahrung: Man packt gerne mit an, man hilft sich gegenseitig, man nimmt sich Zeit füreinander, man tut sich mit anderen für gemeinsame Zwecke zusammen. Und man empfindet Freude dabei, selbst wenn die zu bewältigenden Aufgaben für sich genommen weder angenehm noch gar einträglich sind – ganz einfach weil es schön ist, gebraucht zu werden. Es ist das gemeinschaftliche Zupacken selbst, das uns Befriedigung verschafft. Überhaupt nur in dem Maße, wie sich Menschen als gemeinschaftlich handelnde Akteure wahrnehmen, wird unsere Gesellschaft daher auch die unweigerlich noch bevorstehenden schwierigen Prozesse der Anpassung, des Umbaus und auch des Schrumpfens bewältigen können. Wo Bürgerinnen und Bürger handfest erleben, dass sie selbst es sind, die ihr eigenes Gemeinwesen gestalten, da wenden sie sich auch dann nicht verbittert ab, wenn es schwierig wird. Und schwierig wird es mit Sicherheit. Nur müssen schwierige Zeiten so gesehen eben keineswegs automatisch trostlose, deprimierende und unglückliche Zeiten sein. Sie sind es für diejenigen nicht, die sich entschlossen daran machen, die erkannten Probleme in den Griff zu bekommen. Schon deshalb werden wir daran arbeiten müssen, in Deutschland eine neue Grundhaltung des Zupackens zu entwickeln. Zupackende Menschen sind die zufriedeneren, glücklicheren Menschen.

Was die Menschen zermürbt und die Gesellschaft zerrüttet

Sozial gerecht ist so gesehen alles, was den Menschen hilft und ermöglicht, in allen denkbaren Dimensionen als vollwertige Bürgerinnen und Bürger aktiv am Leben ihrer Gesellschaft mitzuwirken. Nichts ist dagegen so schädlich und zermürbend für den einzelnen Menschen wie der Ausschluss aus den vielfältigen Beziehungen und Aktivitäten, die das gesellschaftliche Leben ausmachen. Und nichts zehrt auf die Dauer so sehr am inneren Zusammenhalt und zugleich an der Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft insgesamt wie das Herausrutschen ganzer Gruppen aus ihren Bezügen. Körperlich dabei zu sein und doch nicht so richtig dazuzugehören – das ist die größte soziale Ungerechtigkeit unserer Zeit.

Bei dem Exklusion genannten Phänomen des Ausschlusses aus den Zusammenhängen der Gesellschaft geht es immer auch um Geld – genauer: um fehlendes Geld. Wem es an materiellen Ressourcen mangelt, der kann sich Zugehörigkeit umso weniger kaufen. Aber Geld ist nicht alles, und auch mit noch so viel Geld würden sich entscheidende Voraussetzungen einer vollwertigen Mitgliedschaft in der Gesellschaft heute weniger denn je erwerben lassen. Nicht so sehr der Versuch, Nachteile durch höhere finanzielle Zuweisungen auszugleichen, verspricht die Lösung für das Problem der Exklusion von Menschen aus der Gesellschaft. Erforderlich ist vielmehr die harte und geduldige Arbeit daran, dass möglichst alle in einem ganz umfassenden Sinne dazugehören können. Das gilt für jeden Menschen individuell, es gilt für Gruppen von Menschen, es gilt für Regionen, und es gilt für ganze Nationen.

Für eine Politik der systematischen Nachwuchssicherung

Zeitgemäße Sozialpolitik muss, wie Franz-Xaver Kaufmann zu Recht fordert, vor allem eine Politik der systematischen „Nachwuchssicherung“ sein. Neben einer Familienpolitik, die gezielt dazu beiträgt, dass in Deutschland wieder deutlich mehr Kinder geboren werden und die vorhandenen Kinderwünsche der Menschen in Erfüllung gehen, ist die nachhaltigste Sozialpolitik heute eine erfolgreiche Bildungspolitik. Ziel dieser Politik muss es sein, eine Perspektive sozialen Aufstiegs und gesellschaftlichen Zusammenhalts zugleich zu ermöglichen. Es muss uns in Deutschland unbedingt von Jahr zu Jahr besser gelingen, alle Kinder und Jugendlichen mit handfesten Lebenschancen auszustatten – Lebenschancen in Form von hervorragender Bildung und Ausbildung. Wir werden deshalb alles in Bewegung setzen müssen, um gute und zeitgemäße Bildung für alle zu garantieren – gerade in den zunehmend peripheren Regionen unseres Landes. Kein einziges Kind, kein einziger Jugendlicher darf mehr zurückgelassen werden. Das wird sicherlich nicht heute oder morgen zu erreichen sein. Als Orientierungsmarke zeitgemäßer Gerechtigkeitspolitik ist es aber völlig unabdingbar. Die wirkliche Zukunft unseres Landes entsteht weitaus mehr in den Köpfen unserer Kinder und Enkel als aus Beton und Umgehungsstraßen. Nur so schaffen wir außerdem die Voraussetzungen dafür, dass Deutschland in Zukunft im internationalen Wettbewerb bestehen kann und wir in unserem Land wettbewerbsfähige, zukunftssichere und gut bezahlte Arbeitsplätze haben werden. Denn so viel ist klar: Wir brauchen eine immer modernere Wirtschaft, um den Wohlstand in Deutschland und damit auch die finanzielle Grundlage für unseren Sozialstaat zu sichern.

Kann die schrumpfende Gesellschaft eine glückliche Gesellschaft sein? Wie sich Zusammenhalt und gesellschaftliche Integration, Bildung und Lebenschancen für alle unter den radikal veränderten Bedingungen demografischer Schrumpfung und wirtschaftlicher Globalisierung nach menschlichem Maß organisieren lassen – das wird in der Tat zur zentralen Frage demokratischer Politik. Völlig neue Verhältnisse erfordern völlig neue Ideen. Mein persönliches Ziel für die kommenden Jahre ist, dass das Land Brandenburg auf dem Weg in die demografische Zukunftsfähigkeit zum Vorbild und Vorreiter in Deutschland wird. Das Ziel ist ehrgeizig, der Weg wird beschwerlich. Doch gar nicht so nicht selten liegt das größte Glück darin, schwierige Aufgaben beherzt anzupacken. Und genau das sollten wir deshalb tun.

Anmerkungen
1 Richard Layard, Die glückliche Gesellschaft: Kurswechsel für Politik und Wirtschaft, Frankfurt am Main/New York 2005.
2 Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft: Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, Frankfurt am Main 2005.
3 Stefan Kröhnert, Nienke van Olst und Reiner Klingholz, Deutschland 2020: Die demografische Zukunft der Nation, Berlin 2004.
4 Klaus von Dohnanyi, in: Stefan Aust, Claus Richter und Gabor Steingart (Hrsg.), Der Fall Deutschland: Abstieg eines Superstars, München 2005.

Der hier abgedruckte Text erschien im August 2005 in Heft 27 der Zeitschrift "perspektive 21". Wir danken der Redaktion für die Genehmigung zum Nachdruck.

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