Globale Politik für die unterste Milliarde



Auf der Welt gibt es 50 bis 60 arme Länder mit insgesamt rund einer Milliarde Einwohnern, an denen das beispiellose globale Wachstum seit den sechziger Jahren vorbeigegangen ist. Infolgedessen haben diese Gesellschaften den Anschluss an den Rest der Menschheit verloren. Dabei klafft nicht nur eine riesige Lücke zwischen dieser „untersten Milliarde“ und der begünstigten obersten Milliarde, die in den entwickelten Ländern lebt. Auch der Einkommensabstand zum Durchschnittsbürger aus den vier Milliarden in der Mitte hat sich verfünffacht. Das Zurückfallen der untersten Milliarde wieder umzukehren ist die entscheidende Herausforderung unserer Zeit: Im Prozess des sozialen Zusammenwachsens der Weltgesellschaft würden die andauernden wirtschaftlichen Unterschiede sonst einen unkontrollierbaren Druck erzeugen.

Um den rückständigen Ländern bei ihrem Aufholprozess zu helfen, sind dauerhafte Anstrengungen vieler Staaten nötig. Auch in dieser wichtigen Hinsicht hat sich die Welt verändert: Während die Dritte Welt von fünf Milliarden auf heute eine Milliarde Menschen geschrumpft ist, ist parallel dazu die Gruppe der Länder gewachsen, die zur Hilfeleistung fähig sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand die zentrale entwicklungspolitische Herausforderung im Wiederaufbau Europas und Japans. Damals waren die Vereinigten Staaten buchstäblich das einzige Land, das zur Hilfe im Stande war. Erst nachdem sich Europa und Japan wieder erholt hatten, konnte die Last des Helfens auf die Schultern der OECD-Staaten verteilt werden. Als zentrale Frage galt fortan, wie die reiche oberste Milliarde den übrigen fünf Milliarden Menschen auf der Erde helfen könne. Es wird Zeit, dass wir diese Art der Problemwahrnehmung hinter uns lassen. Es muss begriffen werden, dass nunmehr auch die Länder mit mittleren Einkommen – einschließlich der sich rasant entwickelnden riesigen Volkswirtschaften Indien und China – zur Hilfe verpflichtet sein sollten. Diese Länder besitzen die dafür nötigen Erfahrungen, Ressourcen und auch die Legitimation, was die Wirksamkeit der Entwicklungshilfe massiv erhöhen kann.

Natürlich ist Entwicklung zu allererst etwas, was die Gesellschaften und ihre Regierungen selbst anpacken müssen. In allen Ländern der untersten Milliarde kämpfen Menschen um die Verbesserung der Verhältnisse. Dennoch spielt die internationale Gemeinschaft eine wichtige Rolle: Indem wir Entwicklung unterstützen, können wir diese Prozesse der inneren Erneuerung verstärken und die Chancen auf Wohlstand erhöhen. Hier könnte die internationale Gemeinschaft tatsächlich noch viel mehr unternehmen als bisher. Doch in den vergangenen Jahren ist die aktive Förderung von Entwicklung größtenteils zum bloßen Beistand in Notfällen zusammengeschrumpft. Zwar ist Nothilfe im Allgemeinen nützlich, doch sie ist weder notwendig noch hinreichend, um echte Entwicklung in Gang zu bringen. Andere politische Instrumente sind häufig wirksamer und jedenfalls sinnvolle Ergänzungen bloßer Entwicklungshilfe.

Wie umfassend die Bandbreite von Maßnahmen ist, die wichtig sind, um Entwicklung zu unterstützen, machten die amerikanischen Anstrengungen beim Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich. Dies war der einzige Fall in der Geschichte, in dem der Förderung von Entwicklung oberste Priorität eingeräumt wurde. Natürlich verfolgten die Vereinigten Staaten als Bestandteil ihrer Strategie auch ein Entwicklungshilfeprogramm im engeren Sinne: den Marshallplan. Doch dieser wurde von drei weiteren politischen Maßnahmen ergänzt. Erstens krempelten die Vereinigten Staaten ihre Handelspolitik vollständig um: Sie ersetzten ihren Vorkriegsprotektionismus durch die Öffnung der Märkte und institutionalisierten mit der Gründung des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens GATT eine neue Handelspolitik. Zweitens vollzog Amerika eine komplette sicherheitspolitische Kehrtwende: Nach dem Isolationismus der Vorkriegsära gingen die Amerikaner nun große militärische Verpflichtungen gegenüber Europa ein, die vier Jahrzehnte lang Bestand haben sollten. Drittens korrigierten die USA ihre Haltung auch in Fragen der nationalen Souveränität: Vor dem Krieg hatten sie für internationale Organisationen noch nichts übriggehabt und sich beispielsweise geweigert, dem Völkerbund beizutreten. Jetzt betrieben die Vereinigten Staaten die Gründung der Vereinten Nationen, der OECD sowie des Internationalen Währungsfonds und förderten auch den Entstehungsprozess der Europäischen Gemeinschaft.

Handel, Sicherheit und governance – dies bleiben die wichtigsten Politikfelder zur Unterstützung von Entwicklungshilfe. Dabei müssen Maßnahmen, die der untersten Milliarde helfen sollen, ihren Rückstand aufzuholen, natürlich anders zugeschnitten werden als jene, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Wiederaufbau Europas ermöglichten. In diesem Essay werde ich für jedes dieser Politikfelder einige konkrete Vorschläge machen.

Good Governance für die unterste Milliarde. Der globale Rohstoffboom, den wir derzeit erleben, führt in vielen, wenn auch nicht in allen Gesellschaften der untersten Milliarde zu enormen Einnahmezuwächsen. Diese Finanztransfers stellen die gegenwärtige Entwicklungshilfe (und jegliche denkbare Erhöhung von Entwicklungshilfe) bei weitem in den Schatten. Jedoch ist zu bedenken, dass der Vorgänger des aktuellen Ressourcenbooms in den siebziger Jahren vielerorts schlecht verwaltet wurde: Den meisten dieser Gesellschaften ging es hinterher nicht besser als zuvor.

Aktuelle Forschungsergebnisse bestätigen diesen Eindruck. Anhand weltweiter Daten aus der Zeit zwischen 1963 und 2003 haben Paul Collier und Benedikt Goderis den Zusammenhang zwischen Warenpreisen und dem Anstieg der Warenexporte analysiert.(1) Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Volkswirtschaften in den ersten paar Jahren nach einem Anstieg der Exportpreise zwar signifikant schneller wachsen. Aber nach rund 20 Jahren stehen die meisten Ökonomien schlechter da, als es ihnen gegangen wäre, wenn die Exportpreise gar nicht erst gestiegen wären. Während die erste Wachstumsphase in allen Ländern eintritt, sind die darauf folgenden Perioden des Niedergangs (oder der positiven Entwicklung) abhängig von der jeweiligen Qualität der wirtschaftspolitischen Steuerung.

Entscheidend ist gutes Regieren und Regulieren

Oberhalb einer bestimmten Mindestqualität der Wirtschaftspolitik sind die langfristigen Auswirkungen gesteigerter Rohstoffexporte positiv. Norwegen oder Australien sind dafür Beispiele. Exemplarisch für die Erfahrungen von Ländern mit unterentwickelter wirtschaftspolitischer Steuerung stehen dagegen Nigeria und die Demokratische Republik Kongo. Ungefähr genau dazwischen befand sich Portugal Mitte der achtziger Jahre. Eine zentrale Herausforderung für Länder mit niedrigem Einkommen, die Rohstoffe exportieren, besteht daher darin, ihre Regierungs- und Regulierungsstandards so schnell wie möglich auf ein Niveau oberhalb der erforderlichen Mindestqualität zu bringen. Sollte sich die Geschichte der siebziger Jahre wiederholen, könnte die unterste Milliarde die größte Gelegenheit zu wirklich transformativer Entwicklung verpassen, die sie jemals besaß.

Nun ist wirtschaftspolitische governance ein unscharfer Begriff, der für sich genommen kaum als Leitmarke geeignet ist, um den Rohstoffboom angemessen zu managen. Drei Schritte entscheiden darüber, ob Rohstoffexporte dauerhaftes Wachstum nach sich ziehen.(2) Erstens muss ein angemessener Teil der Einnahmen von der jeweiligen Regierung einbehalten werden. Zweitens sollte ein angemessener Teil der Einnahmen gespart und nicht verbraucht werden. Und drittens sollte ein angemessener Teil dieser Ersparnisse von der Regierung in die Wirtschaft investiert werden.
Die Höhe der Einnahmen der Regierung hängt ganz besonders davon ab, zu welchen Bedingungen Förder- oder Schürfrechte verkauft und wie die Unternehmensgewinne besteuert werden. Auf beiden Gebieten sind in der Vergangenheit große Fehler gemacht worden. Beim Verkauf von Förderrechten sehen sich Regierungen mit drei Problemen konfrontiert: So gibt es beträchtliche Spielräume für Korruption; zwischen den Regierungen und den Unternehmen sind die Informationen asymmetrisch verteilt; und oft bleiben unvermeidbare Unsicherheiten hinsichtlich der langfristigen Sicherheit eingeräumter Rechte bestehen. Wahrscheinlich lassen sich diese Schwierigkeiten am besten dadurch umgehen, dass Regierungen Förderrechte auf international anerkannten Auktionen verkaufen, wobei sie den größere Teil ihrer Einnahmen nicht durch den Verkauf der Rechte selbst, sondern durch zukünftige Steuern erzielen.

Regierungen sollten ihren eigenen Bürgern verantwortlich sein

Die Besteuerung von Unternehmensgewinnen haben verschiedene Länder bisher höchst unterschiedlich gehandhabt. Im Jahr 2006 nahm die Demokratische Republik Kongo ganze 86.000 Dollar an Abgaben auf die Förderung von Rohstoffen ein – und dies bei Exporten in Höhe von mehreren hundert Millionen Dollar. Sambia wiederum hat vom gegenwärtigen Kupferboom nur geringfügig profitiert. Da bei der Rohstoffförderung zumeist Pachten gezahlt und nicht Gewinne besteuert werden, lautet eine einfache Regel, dass die Pachten überproportional zum Weltmarktpreis des jeweiligen Rohstoffs steigen sollten.

Wie viel Geld aus den Rohstoffeinnahmen idealerweise gespart werden sollte, hängt neben dem Weltmarktpreis in erster Linie davon ab, wie erschöpft die betreffenden Vorkommen bereits sind. Derzeit ergeben sich die Unterschiede zwischen Sparquoten verschiedener Länder eher aus kurzfristigen politischen Überlegungen. Als Ngozi Nkonjo-Iweala im Jahr 2003 Finanzministerin von Nigeria wurde, musste sie feststellen, dass die Sparquote aus den Öleinnahmen buchstäblich negativ war.

Einige finanzschwache Regierungen finden das norwegische Modell eines Staatsfonds für nationale Finanzanlagen attraktiv. Doch anders als Norwegen sind diese Länder hinsichtlich ihrer Investitionen in die öffentliche Daseinsvorsorge und Infrastruktur chronisch unterausgestattet. Deshalb wäre es besser, sie würden einen großen Teil ihrer Ersparnisse im Inland investieren, sofern dies in effektiver Weise erfolgt. Effektives Investieren bedeutet, dass die betreffenden Investitionen sowohl Schutz vor Korruption brauchen als auch ökonomischen Sachverstand bei den Genehmigungsverfahren für Projekte.

Während des Booms der siebziger Jahre wurden auf allen diesen drei Gebieten für gewöhnlich falsche Entscheidungen getroffen. Wie kann die internationale Gemeinschaft also die Bemühungen um eine bessere wirtschaftspolitische Steuerung (governance) des Rohstoffbooms in den Ländern der untersten Milliarde unterstützen, ohne deren Souveränität zu beschränken? Früher versuchten die internationalen Finanzinstitutionen, die Länder durch „Konditionalitäten“ zu einer bestimmten Politik zu zwingen. Diese Versuche waren meiner Ansicht nach fehlgeleitet. Indem versucht wurde, Regierungen durch den Druck der Geberländer zu bestimmten Maßnahmen zu zwingen, wurden Verantwortlichkeiten verwischt. Klipp und klar gilt: Regierungen sollten ihren eigenen Bürgern gegenüber verantwortlich sein. Mit einer Rechenschaftspflicht gegenüber Geldgebern ist das unvereinbar. Außerdem wäre ein Konditionalitätsansatz heutzutage auch unwirksam: Die Rohstoffe exportierenden Länder benötigen überhaupt keine hohen Finanzhilfen, so dass die Geldgeber gar kein Druckmittel besitzen.

Eine bessere Möglichkeit der Einflussnahme sind freiwillig akzeptierte internationale Standards und Codes. Hier hat die britische Regierung mit ihrer Extractive Industries Transparency Initiative (EITI) Pionierarbeit geleistet, die sehr schnell Erfolge zeitigte. Ein freiwilliger Code funktioniert, indem er einen gemeinsamen Fokus und Sammelpunkt für reformwillige Akteure bietet, die ihre Energien sonst vielleicht auf Rivalitäten oder weniger wichtige Themen verschwenden würden. Er stellt Regierungen, die üblicherweise dem Druck vieler konkurrierender Kräfte ausgesetzt sind, hilfreiche Informationen zur Verfügung. Nigerianische Reformer haben sich die EITI sehr schnell zu Eigen gemacht und eine „nigerianische EITI“ eingeführt. Die Initiative ist zweifellos ein guter Anfang, aber damit ist es nicht getan: Ein transparentes Berichtswesen bietet allein noch keine Garantie für vernünftige politische Entscheidungen.

Den Rohstoffboom für wirkliche Entwicklung nutzen

Den Rohstoffboom so zu nutzen, dass er wirkliche Entwicklung hervorbringt, ist die mit Abstand wichtigste Aufgabe, vor der die Volkswirtschaften der untersten Milliarde heute stehen. Freiwillige internationale Standards und Codes für zentrale Entscheidungen wären die logische Weiterentwicklung der britischen EITI-Bemühungen. Sie würden gut ankommen: In Afrika haben bereits fünf Regierungen sowie die African Development Bank starkes Interesse daran signalisiert, ebenso wie die Weltbank und verschiedene internationale Nicht-Regierungsorganisationen.

Sicherheit für die unterste Milliarde. Großbritannien hat entscheidend dabei mitgeholfen, dass 2005 die Peace-Building Commission der Vereinten Nationen gegründet werden konnte. Sie bietet die Möglichkeit, fragile Post-Konflikt-Situationen zu verbessern. Nach der jüngsten Welle von Friedensregelungen gibt es viele solche Situationen.

Ich habe kürzlich 66 Post-Konflikt-Situationen analysiert, um herauszufinden, auf welche Weise das Risiko einer Rückkehr der Gewalt gesenkt werden kann.(3) Ein das Risiko eindeutig reduzierendes Politikdesign ließ sich jedoch nicht finden: Demokratie und Wahlen scheinen die Gefahren sogar eher zu vergrößern als zu verringern. Zwar können die Risiken deutlich reduziert werden, wenn ein wirtschaftlicher Aufschwung eintritt – etwa als Folge umfangreicher Hilfszahlungen und aktiver Wirtschaftsreformen. Doch der Zeithorizont für die Wirkung solcher Maßnahmen beträgt ungefähr ein Jahrzehnt. Das einzig funktionierende Instrument, um die Risiken zu minimieren, ist Friedenssicherung (peacekeeping). Dieses Instrument halten wir zudem für hochgradig kosteneffektiv.(4)

Dagegen scheinen hohe Militärausgaben der jeweiligen Regierung in einer Post-Konflikt-Situation einen erneuten Krieg geradezu heraufzubeschwören. Somit haben wir es mit einer dreifachen Interdependenz zu tun: eine längere Friedenssicherung unter dem Dach des UN-Sicherheitsrats; verlängerte Entwicklungshilfe von Seiten der Geberländer; und gründliche Wirtschaftsreformen sowie Maßnahmen zur gesellschaftlichen Inklusion und Versöhnung von Seiten der Regierung. Alle drei Akteure hängen voneinander ab: Ohne Friedenssicherung ist die wirtschaftliche Erholung schwieriger, und die Regierung verlässt sich auf ihre eigene Armee; ohne wirtschaftliche Erholung gibt es keine wirkliche Exit-Strategie für die Friedenstruppen; ohne Reformen und auf Versöhnung abzielendes Regieren wiederum würden die internationalen Anstrengungen wahrscheinlich ins Leere laufen. Nützlich wäre es, wenn die Peace-Building Commission die Erwartungen aller drei Parteien formulieren und die gegenseitigen Verpflichtungen in ein nicht bindendes internationales Abkommen gießen könnte – ein Ansatz, der auf einer allgemeineren Ebene zum ersten Mal in Monterrey erprobt wurde.

Nach dem jüngsten Desaster in Kenia ist die internationale Gemeinschaft aufgefordert, Verhaltensregeln für den korrekten Ablauf von Wahlen aufzustellen, die wirkungsvoll und zugleich akzeptabel sind. Klar ist: Drohungen und Sanktionen von Geberländern sind keine wirksamen Antworten und würden überdies unzumutbare Diskriminierung bedeuten. So hat die kenianische Regierung immerhin Wahlen abhalten lassen – viele andere Regimes haben dies nicht getan.

Ein erster Schritt wäre es, Klarheit darüber zu schaffen, auf welcher Grundlage für unterschiedliche Länder unterschiedliche Standards gelten können. Das geht jedoch nur, wenn sich die jeweiligen Regierungen freiwillig zu bestimmten demokratischen Grundstandards verpflichten. Beispielsweise könnte eine Kerngruppe aus etablierten Demokratien – einschließlich Indien – eine freiwillige Charta erarbeiten, die Mindestanforderungen an Wahlen enthält und sich an existierenden Verfahren der Wahlbeobachtung orientiert. Ein möglicher Anreiz für Regierungen, die Bindung an eine solche Charta einzugehen, bestünde dann, wenn die Erstunterzeichner sich verpflichten würden, ihre Möglichkeiten zu nutzen, um die Mitgliedsstaaten vor Militärputschen zu schützen. Staatsstreiche sind in Afrika endemisch und stellen für die meisten Regierungen das größte Risiko dar, ihre Macht einzubüßen. Die Einführung von Demokratie hat dieses Risiko nicht signifikant verringert.(5)

Hätte es eine solche Charta im Jahr 2002 bereits gegeben, so hätte der kenianische Staatspräsident Mwai Kibaki sie vermutlich bereits vor seinem damaligen Wahlsieg unterzeichnet. Während des Wahlkampfes hätte er dies als nützliche Strategie betrachtet. Wäre diese Selbstverpflichtung vorausgegangen, so hätte dies wahrscheinlich seine Kalkulation bei den Wahlen im Jahr 2007 radikal verändert. Hätten die Wahlbeobachter nämlich erklärt, dass die Regeln der Charta ernsthaft verletzt würden, hätte dies die Aufkündigung des international garantierten Schutzes vor einem Staatsstreich bedeutet (denn die internationale Gemeinschaft geriete nur sehr ungern in die peinliche Situation, eine Regierung mit militärischen Mitteln wieder einzusetzen, die soeben eine Wahl gefälscht hat). Dies wiederum hätte das Risiko eines Staatsstreiches erst recht erhöht, weshalb es Präsident Kibaki von vornherein vermieden hätte, die Charta zu brechen.(6)

Afrikas Küstenstädte könnten Drehscheiben des Industrieexports sein

Keineswegs würde eine freiwillige Charta für sich genommen die nationalstaatliche Souveränität einschränken: Regierungen könnten frei entscheiden, ob sie unterschreiben oder nicht, ohne dass – finanziell oder anderweitig – Druck auf sie ausgeübt wird. Auf der anderen Seite ist es durchaus normal, demokratischen Regierungen Schutz im Falle von Staatsstreichen zu versprechen. Hier würden Sicherheitsgarantien festgeschrieben, die ohnehin erstrebenswert sind. Dadurch, dass explizite Verpflichtungen übernommen werden – wie es Großbritannien bereits im Fall von Sierra Leone tut –, würde die Charta die Zahl unrechtmäßiger Putsche stark reduzieren. Zugleich würden solche Sicherheitsgarantien für die Amtsinhaber den Anreiz deutlich erhöhen, Wahlen nach befriedigenden Standards abzuhalten.

Handel für die unterste Milliarde. Die Doha-Runde ist seit Langem blockiert, ihre Zukunftsaussichten sind trübe. Doch nur weil die vage Aussicht auf einen Durchbruch weiter besteht, sollten darüber nicht die Bemühungen eingestellt werden, der untersten Milliarde mit einfachen Mitteln neue Chancen zu verschaffen.

Bis heute ist es Afrika und finanzschwachen Volkswirtschaften in anderen Teilen der Welt nicht gelungen, auf den globalen Märkten für arbeitsintensive Produkte Fuß zu fassen. Wie Chinas Wachstum beweist, wäre dies der sicherste Weg, um schnell Arbeitsplätze zu schaffen. Besonders Afrika hat mit einer Jobkrise zu kämpfen. Weniger als ein Zehntel seiner Erwerbsbevölkerung geht einer formalen Arbeit nach, die Bevölkerung wächst rasant, und Afrikas Landwirtschaft, deren Produktivität sogar heute noch sinkt, ist vom Klimawandel bedroht.

Die Küstenstädte Afrikas besitzen das Potenzial, Drehscheiben für industriell gefertigte Exporte zu werden. Sie liegen in geografisch günstigem Verhältnis zu den Märkten in Europa und Afrika, und angesichts der steigenden Löhne in Asien könnten sich exportierende Unternehmen dort ansiedeln. Doch ebenso wie andere Volkswirtschaften, die den Zug der industriellen Globalisierung mit Industrieerzeugnissen verpasst haben, steht Afrika vor der Schwierigkeit, dass in China heute bereits eine Zusammenballung exportierender Unternehmen existiert. Solch eine regionale Konzentration von Betrieben hält die Kosten niedrig: Zum Beispiel werden 60 Prozent aller weltweit produzierten Knöpfe in einer einzigen chinesischen Stadt hergestellt. Länder, denen es an solchen Clustern mangelt, können selbst dann nicht in Märkte eindringen, wenn ihre politischen Bedingungen stimmen und eine ausreichende Infrastruktur existiert; kein Unternehmen will das erste sein, das umsiedelt. Allerdings könnte die Handelspolitik der OECD den Kickstart liefern, der die Entstehung von Clustern in Gang setzt: Was die betreffenden Länder brauchen, ist ein zeitweise privilegierter Zugang zu den Märkten der OECD-Staaten. Ihr Angebot umfasst vorwiegend einfache Erzeugnisse, auf die die OECD-Länder derzeit immer noch beträchtliche Zölle erheben. Die mit Abstand wichtigsten Exportprodukte sind Textilien.

Die Kategorie Least Developed Nations muss neu definiert werden

Die Vereinigten Staaten gewähren solch einen privilegierten Zugang bereits durch den Africa Growth and Opportunities Act (AGOA). Die EU hat ein ähnliches Abkommen namens Everything But Arms (EBA), das jedoch nicht funktioniert, weil es weit restriktivere Herkunftsbestimmungen enthält und Länder wie Kenia und Ghana ausschließt, die eigentlich die besten Voraussetzungen dafür mitbringen, sich auf den internationalen Märkten zu behaupten. Die AGOA hat die afrikanischen Kleidungsexporte in den vergangenen fünf Jahren um das Siebenfache ansteigen lassen. Im gleichen Zeitraum blieb EBA vollkommen unwirksam. Auch Kanada und Japan haben weiter gehende Programme.

Gebraucht wird deshalb ein gemeinsamer, OECD-weiter Plan, der sich an der erfolgreichen AGOA der Vereinigten Staaten orientiert. Ein solcher Plan wäre auch für die Welthandelsorganisation eher akzeptabel als die derzeitige Fülle verschiedener Modelle. Wie die AGOA könnte er eine Sunset-Klausel enthalten, also ein festgelegtes Ablaufdatum. Wichtig wäre es, die Vergünstigungen auf diejenigen Staaten zu beschränken, die bisher keine bedeutsamen industriell gefertigten Exporte aufweisen. Denn Länder, die schon heute über Export-Cluster verfügen, würden die Neuzugänge aus dem Wettbewerb drängen und so den gesamten Gewinn für sich verbuchen. Das Kriterium gegenwärtig fehlender Industrieausfuhren ermöglicht zugleich eine zeitgemäße Neudefinition des Begriffs Least Developed Countries (LDC), also der am wenigsten entwickelten Länder. Anhand dieser Kategorie entscheidet die Welthandelsorganisation über Anspruchsberechtigungen. Die derzeit gültige Definition von LDC ist antiquiert und nicht genug auf diejenigen Staaten ausgerichtet, die für begrenzte Zeit privilegierte Marktzugänge benötigen.

Solch ein handelspolitisches Zugeständnis würde den Rohstoffboom angemessen ergänzen. Es würde denjenigen Staaten am meisten nutzen, die keine wertvollen Rohstoffe exportieren und daher auch nicht an der „Holländischen Krankheit“ leiden. Damit wäre dies eine sinnvolle Initiative der G8-Staaten, die Interessengruppen innerhalb ihrer Gesellschaften nicht bedrohen würde. Der größte Verlierer wäre China, doch die Verluste wären angesichts des derzeitigen chinesischen Wachstums marginal.

Diese insgesamt vier Vorschläge kommen als Paket daher, sie können aber auch häppchenweise eingeführt werden. Jeder Vorschlag bezieht sich auf eines der großen Probleme, vor denen die Gesellschaften der untersten Milliarde stehen: Freiwillige internationale Standards zur Steuerung des Rohstoffbooms können helfen, die größte Chance zu nutzen, die viele dieser Länder jemals hatten. Beim Vorschlag eines Post-Konflikt-Abkommens geht es darum, die zerbrechlichen Verhältnisse in den ärmsten und hoffnungslosesten Regionen der Welt zu stabilisieren. Eine Charta über das Verhalten bei Wahlen wäre die angemessene Reaktion auf die katastrophalen Vorkommnisse in Kenia und Zimbabwe in der allerjüngsten Zeit. Handelspolitische Zugeständnisse schließlich würden das Streben Afrikas nach Industrialisierung befördern und die Bitternis des Lissabonner EU-Afrika-Gipfels vom vorigen Dezember überwinden helfen.

Aus dem Englischen von Michael Miebach

Paul Collier hat diesen Beitrag für die Progressive Governance Conference in London (April 2008) verfasst. Wir danken dem Policy Network London und seinem Direktor, Dr. Olaf Cramme, für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.

Anmerkungen
1 Paul Collier und Benedikt Goderis, Prospects for commodity exporters: hunky dory or Humpty Dumpty?, in: World Economics (2007).
2 Vgl. für eine ausführlichere Darstellung dieser politischen Entscheidungen Paul Collier, Die unterste Milliarde: Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann, München 2008. Ein weitergehendes Papier dazu, zusammen mit Tony Venables und Michael Spence, ist in Arbeit.
3 Paul Collier, Anke Hoeffler und Mans Söderbom, Post-conflict risks, in: Journal of Peace Research (2008).
4 Die Weiterentwicklung der Friedenssicherung hin zu längerfristigen Garantien (so wie es Großbritannien unlängst in Sierra Leone praktiziert hat und Frankreich schon seit längerer Zeit) – scheint ein kosteneffektives und unaufdringliches Mittel zu sein, um Sicherheit aufrechtzuerhalten. Die informelle französische Garantie, die für das frankophone Afrika über viele Jahre bestand, scheint das Risiko größerer Gewaltausbrüche um drei Viertel gesenkt zu haben. Vgl. Paul Collier, Anke Hoeffler und Dominic Rohner, Beyond greed and grievance: feasibility and civil war, in: Oxford Economic Papers (2008).
5 Paul Collier und Anke Hoeffler analysieren mehrere Hundert Staatsstreiche. Sie stellen fest, dass Staaten zwar durch wirtschaftliche Entwicklung sicherer werden, die Existenz demokratischer Verhältnisse das Risiko jedoch nicht reduziert. Vgl. Paul Collier und Anke Hoeffler, Coup risk and military spending, Oxford, Centre for the Study of African Economies (2007).
6 Angeblich hat der senegalesische Präsident im Jahr 2000 seine Wahlniederlage aufgrund eines drohenden Staatsstreichs akzeptiert – einer der sehr wenigen Fälle dieser Art in Afrika.

Weiterführende Literatur
Paul Collier, Laws and Codes for addressing the resource curse, in: Yale Journal of Law and Human Rights (2008)
Paul Collier und Tony Venables, Rethinking trade preferences: how Africa can diversify its exports, in: The World Economy (2007)

zurück zur Ausgabe