Für einen starken Staat

Die neue Lage bringt bislang verborgene Schichten staatlicher Desorganisation zum Vorschein, die in der Ära des Neoliberalismus entstanden sind. Wir sollten die Flüchtlingskrise zum Ausgangspunkt einer grundlegenden Instandsetzung unserer öffentlichen Ordnung machen

Was bedeutet der extreme Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland für die Sicherheitslage? Diese Frage darf kein Tabu sein. Denn es wäre zwar falsch, plumpe Vorurteile oder puren Ausländerhass zu berechtigten Sorgen aufzuwerten. Genauso falsch wäre es aber, vorhandene Sorgen pauschal als Ausländerhass abzustempeln oder reale Beobachtungen zu Vorurteilen herabzustufen. Entscheidend ist: Wir dürfen nicht dramatisieren, aber wir dürfen auch nicht die Augen verschließen. So funktioniert sozialdemokratische Innenpolitik: ohne hysterische Schwarzmalerei, aber auch ohne die rosarote Brille. Die Behörden haben die Entwicklungen deshalb genau auf dem Radar. Das Lagebild in Niedersachsen beispielsweise wurde um die Kategorie „Flüchtlinge“ erweitert. So bleiben wir immer auf der Höhe des Geschehens, auch um darstellen zu können, dass Vorurteile eben Vorurteile sind und Tatsachen eben Tatsachen.

Was ist tatsächlich dran an den Vorwürfen, wie sie etwa im Umfeld der rechtslastigen Demonstrationen von Dresden und Erfurt kolportiert werden, islamistische Terroristen könnten auch über die Flüchtlingsbewegungen zu uns kommen?

Die Behörden gehen entsprechenden Verdachtsfällen natürlich konsequent nach. Zehn Fälle waren es, in denen das Bundeskriminalamt (BKA) Ende Oktober den Verdacht prüfte, „ob jemand an Kriegsverbrechen im Ausland beteiligt war oder Mitglied einer terroristischen Vereinigung ist“, zudem lagen weitere Hinweise vor. Natürlich wäre es mehr als verantwortungslos, entsprechenden Vermutungen nicht nachzugehen. Genauso verantwortungslos ist es aber, jetzt Millionen von Muslimen oder gar die Flüchtlinge in Sippenhaft für die verheerenden Anschläge von Paris zu nehmen, wie es Teile der CSU getan haben. Ich halte das für unanständig!

Es grenzt an Chuzpe, wenn jetzt konservative europäische Politiker die grauenhaften Anschläge nutzen, um ihre – ohnehin vorgesehene – politische Agenda zu verfolgen und die eigene Passivität bei der Flüchtlingsaufnahme zu rechtfertigen. Wer so vorgeht, erklärt Flüchtlinge implizit zum Sicherheitsrisiko. Das aber ist absurd, falsch und ungerecht. Denn viele Flüchtlinge sind ja gerade vor dem Terror geflohen, der sich in Paris in seiner ganzen Abscheulichkeit gezeigt hat. Unsere Antwort ist deshalb: Ja zur Wachsamkeit, Ja zum Hinsehen, Ja zur Vorbeugung. Aber wir sagen auch deutlich: Nein zu jeglichem Generalverdacht, der Flüchtlinge in die Nähe von Terroristen rückt!

Die Gefahr der islamistischen Ideologie ist nicht erst seit Paris bekannt. Bei uns in Niedersachsen gilt daher der Grundsatz: Wehret den Anfängen! Polizei und Verfassungsschutz schulen die Mitarbeiter in unseren Erstaufnahmeeinrichtungen und Ausländerbehörden, damit sie radikale Tendenzen erkennen können, ebenso wie etwaige Anwerbungsversuche von deutschen Salafisten. Die meisten Syrer und Iraker wissen allerdings schon sehr genau, wie gefährlich Salafisten sein können. Sie haben sich ja gerade erst in Sicherheit gebracht vor den Mördern des Daesh (dem so genannten Islamischen Staat), der auch von deutschen Salafisten unterstützt wird. Für sie gibt es also kaum eine Motivation, sich in Deutschland ausgerechnet dieser Terrorvereinigung anzuschließen. Sie sind hierher gekommen, weil sie wissen, was sie an der Demokratie haben. Das ist nicht selbstverständlich, denn diese Einsicht ist nicht einmal bei allen Deutschen vorhanden. Das zeigt uns die beschämende Zahl von rund 600 Angriffen auf Asylunterkünfte, die das BKA in diesem Jahr allein bis Oktober beobachtet hat. Auch Rechtsextreme müssen wir deshalb in den Blick nehmen, wenn wir über die sicherheitspolitischen Herausforderungen in der Flüchtlingspolitik sprechen.

Niemand verlässt für 4,75 Euro seine Heimat

Denn es gibt eben nicht nur das viele Licht, das durch die ehrenamtlichen Helfer in den Flüchtlingsinitiativen gespendet wird, sondern leider auch deutliche Schattenseiten. Diese gibt es vor allem dort, wo die Stimmung angespannt ist. So haben wir in einigen Flüchtlingsunterkünften tatsächlich verstärkt körperliche Auseinandersetzungen beobachtet. In solchen Fällen müssen wir deutlich machen, dass Gewalt keinen Platz bei uns hat. Wir müssen aber auch verstehen, wie schwierig es ist, wenn tausende, teils traumatisierte Menschen aus verschiedenen Kulturen auf engstem Raum zusammenleben. Oft können sie dort nicht mehr tun als abzuwarten, wie es für sie weitergeht. Und sollte es doch einmal Provokateure geben, kann sich die Stimmung schnell aufheizen. Doch diese Art von Menschen gibt es überall, nicht nur unter Flüchtlingen.

Genauso ist es bei anderen Kriminalitätsfeldern. Während die Flüchtlingszahlen stark steigen, nimmt die Kriminalität laut BKA nicht im gleichen Ausmaß zu. Im Raum Lüneburg zum Beispiel, wo sehr viele Asylbewerber untergebracht sind, war bei Ladendiebstählen überhaupt kein nennenswerter Anstieg erkennbar. Die Zahl solcher Delikte sei sogar „auffallend gering“, teilten die Behörden mit. Das alles heißt nicht, dass es überhaupt keine Kriminalität unter Flüchtlingen gibt. Aber ein Schuh wird erst so draus: Mit einem Anstieg der allgemeinen Bevölkerung gibt es auch mehr Kriminalitätsfälle.

Es ist eine statistische Tatsache, dass junge Männer am ehesten zu Kriminalität neigen. Und eben diese Gruppe ist wiederum in vielen Unterkünften stark vertreten. Insoweit haben wir unter den Flüchtlingen zwar in der Tat auch Menschen, die Diebstähle begehen oder begangen haben. Das dürfen wir nicht negieren, aber daraus auch nicht ableiten, dass Flüchtlinge ein generelles Risiko für Hab und Gut bedeuten würden.

Wenig hilfreich erscheint es in diesem Kontext übrigens, ihre ohnehin schwierige Lage zusätzlich zu prekarisieren. Asylsuchende bekommen heute einen Betrag von bis zu 143 Euro monatlich, um ihren persönlichen Bedarf zu decken. Dieses so genannte Taschengeld wird maximal einen Monat im Voraus ausgezahlt. Pro Tag sind das also rund 4,75 Euro. Wie sinnvoll ist es, den Flüchtlingen dieses Geld zu streichen und stattdessen nur noch Sachleistungen auszuhändigen? Dabei geht es keineswegs darum, Delikte welcher Art auch immer zu rechtfertigen. Aber der Punkt ist: Schafft eine solche Maßnahme nicht tatsächlich mehr Probleme, als sie löst? Niemand verlässt für 4,75 Euro am Tag seine Heimat und nimmt den mühevollen, teils gefährlichen Weg nach Deutschland auf sich. Das sollte selbst dem letzten Kritiker einleuchten, der gebetsmühlenartig den Verdacht des „Sozialmissbrauchs“ beschwört.

Aus den bekannten politischen Lagern kommt deshalb regelmäßig der Ruf nach dem angeblichen Heilmittel, dem Sachleistungsprinzip, das nachgewiesenermaßen vor allem zu mehr Bürokratie führt. Denn Sachleistungen müssen eingekauft, vorgehalten und ausgegeben werden. Auch Gutscheine müssen mit dem Handel abgestimmt und anschließend über die Sozialstellen abgerechnet werden. Alles überflüssige Arbeit, die unsere Ämter zusätzlich schultern müssen, die niemandem weiter hilft und sich auch nicht eignet, die Zugangszahlen spürbar zu reduzieren. Eine solche Symbolpolitik für die konservative Klientel kann deshalb teurer werden, als viele denken. Die Lage ist schon heute angespannt genug – sowohl bei den Mitarbeitern in den Behörden, als auch in den Flüchtlingsunterkünften selbst.

Was nicht funktioniert, muss repariert werden

Es gibt sie also, die Herausforderungen für die Sicherheitslage durch den Flüchtlingszuzug, und sie haben viele Gesichter. Unsere Aufgabe ist es, uns mit jedem dieser Phänomene entschlossen auseinanderzusetzen und mit ihnen fertig zu werden. Das kann aber nur ein starker Staat schaffen. Leider rächt sich hier der neoliberale Zeitgeist des „Gesundsparens“, der nach dem Millennium durch die Republik gezogen ist. So etwa bei der Bundespolizei: Jahrelang wurde hier Personal eingespart, das haben die Innenminister der Länder immer wieder kritisiert. Im Ergebnis sind wir heute praktisch nicht einmal in der Lage, unsere Grenzen wirksam zu sichern. Ein anderer Fall ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Das Amt schiebt mehr als 300 000 Asylanträge unbearbeitet vor sich her, zum Teil noch aus den Vorjahren. Die Bleibeperspektiven vieler Menschen sind damit völlig unklar. Das wiederum hemmt ihre langfristige Integration.

Die aktuelle Lage fördert nach und nach verborgene Schichten staatlicher Desorganisation zu Tage, die wir auch dem lange grassierenden Neoliberalismus zu verdanken haben. Die Bürger erwarten aber zu Recht, dass der Staat seine Aufgaben ordentlich erfüllt. Was nicht funktioniert, muss deshalb zügig, konsequent und bemerkbar abgestellt werden. Das geht schon los mit einer erfolgreichen Registrierung der zahlreichen Flüchtlinge. Bis dato funktioniert sie nicht zufriedenstellend. Auch deshalb habe ich mich in den Berliner Spitzengesprächen nachdrücklich für die neuen Aufnahmeverfahren eingesetzt. Dadurch werden wir spürbar mehr Ordnung und mehr Übersicht in die Flüchtlingsbewegungen bekommen. Nur der Flüchtling, der sich zukünftig registrieren und seine Identität überprüfen lässt, kann Asyl beantragen und Unterstützung bekommen. Dazu brauchen wir nicht das populistische Getöse, das zuletzt vor allem aus dem Süden der Republik zu vernehmen war. Es genügt das ebenso pragmatische wie simple Prinzip: Wer Schutz benötigt, der bekommt ihn bei uns auch. Man darf aber erwarten, dass die Person sich dafür einbringt, ehrlich ist und sich dem Verfahren unterordnet, dass wir für die Gewährung dieses Schutzes vorsehen.

Wenn es also heißt, „wir schaffen das“, dann muss auch klar sein: Wir schaffen das nur mit einem starken, entschlossenen Staat. Für das nötige gesellschaftliche Verständnis kann dabei nur sorgen, wer sich den vorhandenen Fragen vorurteilsfrei stellt und klare Antworten gibt. Das ist der beste Weg, um den geistigen Brandstiftern das Wasser abzugraben.

zurück zur Ausgabe