Für einen modernen Multikulturalismus

Warum das Konzept der "Integration" in Deutschland gescheitert ist

Eine der dringendsten und schwierigsten Herausforderungen für die EU-Mitgliedsstaaten besteht heute zweifellos darin, Einwanderer und deren Nachkommen erfolgreich zu integrieren. In Deutschland vergeht derzeit kaum eine Woche ohne integrationspolitisch bedeutsame Ereignisse – etwa der erste nationale Integrationsgipfel im Juni 2006, die vereitelten Anschläge im Stuttgarter Hauptbahnhof, für die vermutlich islamistische Terroristen verantwortlich waren, oder die fortgesetzte Debatte über muslimische Frauen und Kopftücher.

Dabei ist die Integrationsdebatte nicht neu. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat das Thema europäische Regierungen und politische Kommentatoren immer wieder beschäftigt, auch wenn der Fokus der Diskussionen sich verschoben hat. Denn im Großen und Ganzen weisen inzwischen Einwanderer und Ausländer in vielen Staaten der EU auffällige sozioökonomische Defizite auf. Im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung verfügen sie oft über einen niedrigeren Bildungsstand, wohnen schlechter und teurer und verdienen weniger Geld für vergleichbare Arbeit; ferner haben besonders arbeitslose Einwanderer häufig geringere Kenntnisse der jeweiligen Landessprache. Natürlich hängen viele dieser Faktoren zusammen. Der bezeichnendste Indikator ist jedoch die Arbeitslosigkeit: Sie liegt unter Einwanderern und Ausländern im Allgemeinen mindestens doppelt so hoch wie unter Einheimischen und Inländern.

Viele Mitgliedsstaaten der EU befinden sich deshalb zu Beginn des 21. Jahrhunderts in ähnlicher Lage: Ein beträchtlicher – und wachsender – Teil ihrer Bevölkerungen ist sozioökonomisch marginalisiert. Diese Entwicklung bereitet ernsthafte Sorgen – und sie wirft die wichtige Frage nach dem Ursprung dieser Defizite auf. Zugespitzt formuliert gehen die Meinungen darüber auseinander, ob die Einwanderer „unwillig“, ja sogar „unfähig“ zur Integration sind, oder ob die Mehrheitsgesellschaft es einfach versäumt hat, ihre neuen Mitglieder als Gleiche zu behandeln.

Natürlich ist das Thema Integration aufgrund des islamistischen Terrorismus auf europäischem Boden noch dringlicher geworden. Die Anschläge auf Züge in Madrid im Jahr 2004, auch die von vermeintlich gut integrierten Muslimen begangenen Selbstmordattentate in London 2005 oder die Tatsache, dass einige der Terroristen des 11. September 2001 zuvor in Deutschland gelebt hatten – alle diese Umstände haben, berechtigt oder nicht, die Scheinwerfer auf die großen muslimischen Minderheiten in Europa gerichtet. Zwar lehnt die übergroße Mehrheit der Muslime in Europa terroristische Akte ab. Dennoch besteht die Angst, dass mangelhafte Integration zu einer Radikalisierung potenzieller Unterstützer des Terrorismus beitragen könnte. Das Schreckgespenst des Terrorismus hat deshalb die Lage beträchtlich zugespitzt.

Nicht nur Deutschland ist mit solchen Herausforderungen konfrontiert. Auch Frankreich, Großbritannien und die Niederlande, um nur drei weitere Länder zu nennen, schlagen sich mit dem Problem der Integration herum. Doch angesichts der besonderen Zusammensetzung seiner ausländischen Bevölkerung ist die deutsche Reaktion auf diese Frage von besonderer Relevanz: Erstens lebt in Deutschland die mit Abstand größte Einwandererbevölkerung in der Europäischen Union. Rund 6,7 Millionen Ausländer führte das Ausländerzentralregister im Jahr 2005 – mehr als acht Prozent der Gesamtbevölkerung. Laut Mikrozensus 2005 hat sogar fast jeder fünfte Einwohner Deutschlands einen Migrationshintergrund. Zweitens leben in Deutschland um die 40 Prozent aller „Drittstaatenangehörigen“ in der Europäischen Union, darunter 1,8 Millionen Türken. Drittstaatenangehörige fallen unter das Zuwanderungs- und Aufenthaltsrecht, das für Bürger aus Staaten der EU zum großen Teil nicht mehr gilt. Drittens sind Deutschlands Ausländer sehr sesshaft: Mehr als 20 Prozent von ihnen sind in Deutschland geboren, mehr als die Hälfte lebt bereits länger als zehn Jahre im Land, mehr als ein Drittel sogar schon länger als zwanzig Jahre. Seit der Wiedervereinigung ist die durchschnittliche Aufenthaltsdauer konstant angestiegen und beträgt heute fast 17 Jahre.

Die spezifische Situation der Einwanderer und Ausländer in Deutschland ist durch einen weiteren Faktor gekennzeichnet: Im Unterschied zu anderen europäischen Staaten wie Frankreich oder den Niederlanden war es in Deutschland immer schwer, die Staatsbürgerschaft zu erlangen. Bis zur Verabschiedung des neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes im Jahr 2000 galt bei der Staatsbürgerschaft für Neugeborene ausschließlich das ius sanguinis. Mit dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht wurde eine – allerdings nur unter bestimmten Bedingungen erhältliche – Form des ius soli eingeführt.

Wenngleich das neue Gesetz eindeutig einen großen Schritt nach vorn darstellte, blieb die Wirkung des ius soli aus zwei Gründen begrenzt: Zum einen findet es wegen der strikten Bedingungen auf nur knapp die Hälfte aller in Deutschland geborenen Kinder ausländischer Eltern Anwendung. Zum anderen ist – aufgrund eines politischen Kompromisses aus dem Jahr 1999 – jede auf das ius soli zurückgehende deutsche Staatsbürgerschaft zunächst nur vorübergehend. Sie wird wieder aberkannt, wenn der Betreffende seine andere Staatsbürgerschaft bis zum Alter von 23 Jahren nicht abgegeben hat. Das neue Staatsbürgerschaftsgesetz führte anfangs zu einer Einbürgerungswelle, doch inzwischen hat die Nachfrage nach dem deutschen Pass stark nachgelassen. Im Jahr 2005 wurden weniger Menschen eingebürgert als 1999, unmittelbar vor der Einführung des neuen Gesetzes – obwohl die Zahl derer weiter wächst, die lange genug in Deutschland leben, um sich einbürgern lassen zu können.

Integration durch Assimilation? Das hat nicht funktioniert

Dieses Problem sollte nicht unterschätzt werden. Der Erwerb der Staatsbürgerschaft ist zwar kein Allheilmittel für Integrationsdefizite, doch nur der deutsche Pass schafft absolute Aufenthaltssicherheit, freien Zugang zu Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst sowie das volle Wahlrecht. In diesem Sinne hat der Erwerb der Staatsbürgerschaft zweifellos eine integrative Funktion. Ferner kann die langfristige Ausgrenzung eines großen Teils der Bevölkerung Legitimationsprobleme mit sich bringen – ein Punkt, den die schwarz-gelbe Bundesregierung schon 1984 ausdrücklich als Herausforderung für die Zukunft identifizierte.

Deshalb ist Integration ein leidiges Thema und Treibstoff für endlose Stunden politischer Diskussion. Jedoch verrutschen in dieser Debatte immer mehr die Maßstäbe. Das betrifft besonders den makropolitischen Diskurs, der politische Entscheidungen prägen kann, der vor allem aber das allgemeine politische Klima des Landes beeinflusst, in dem Einwanderer und Ausländer leben. Die vielen Initiativen und Projekte auf der lokalen Ebene sind von dieser Kritik ausdrücklich ausgenommen, viele von ihnen erzielen exzellente Ergebnisse, vollkommen unabhängig von der übergeordneten öffentlichen Debatte. Auch die vielen Unternehmer unter den Einwanderern, die ihre Firmen oft ohne fremde Hilfe und entgegen aller Erwartungen aufbauen, haben mit diesem Problem nichts zu tun.

Trotzdem deutet die offensichtliche Marginalisierung von Einwanderern und Ausländern in Deutschland darauf hin, dass das makropolitische Konzept der „Integration“ gescheitert ist. Die Gründe dafür liegen in dem Konzept selbst und darin, wie es in Deutschland interpretiert wurde. Das lässt sich veranschaulichen, wenn man sich „Integration“ als eine Methode zur gesellschaftlichen „Inklusion“ vorstellt. Integration bedeutet üblicherweise, dass sich die Einwanderer und die einheimische Bevölkerung auf gemeinsame politische Grundwerte einigen und die kulturellen Identitäten der anderen akzeptieren. Integration befindet sich auf einer Skala zwischen „Assimilation“ und „Multikulturalismus“. Assimilation verlangt, dass sich die Einwanderer den Werten und Normen der einheimischen Bevölkerung vollkommen anpassen, während Multikulturalismus auf die gleiche Anerkennung und den gleichen Status aller Kulturen in der Gesellschaft hinausläuft.

Die deutsche Integrationsdebatte der vergangenen 30 Jahren zielte im Wesentlichen auf Assimilation. Natürlich wurde der Begriff Assimilation – diskreditiert durch den Nationalsozialismus – fast nie benutzt. Aber im Laufe der Zeit wurde immer stärker die Pflicht der Einwanderer betont, sich in Deutschland an die existierenden Normen anzupassen. Diese Auffassung spiegelt sich zum Beispiel in den Einbürgerungsrichtlinien aus dem Jahr 1977 wider. Sie war zudem die herrschende Meinung unter den Mitgliedern der schwarz-gelben Bundesregierung von 1982 bis 1998: „Einbürgerung steht nicht am Anfang, sondern am Ende erfolgreicher Integration“, brachte es der damalige Innenminister Manfred Kanther 1995 in einem Interview auf den Punkt. Auch die aufgeregten Diskussionen über die doppelte Staatsbürgerschaft (1999) und die Leitkultur (2000) waren von assimilatorischen Vorstellungen geprägt. Vielleicht nicht überraschend hatte Otto Schily besonders hohe Erwartungen an die Einwanderer. „Ich sage Ihnen ganz offen: Die beste Form der Integration ist die Assimilierung“, erklärte er der Süddeutschen Zeitung im Juni 2002.

Doch es geht um mehr als um Politiker, die Integration mit Assimilation verwechseln, was schließlich nicht nur in Deutschland passiert. Auch lassen sich Integrationsdefizite nicht einfach auf das Desinteresse von Einwanderern oder den latenten Rassismus der einheimischen Bevölkerung zurückführen. Vielmehr hat das Konzept der Integration selbst Schwachstellen, obwohl es auf den ersten Blick die pragmatische Lösung schlechthin für die gesellschaftliche Inklusion von Einwanderern zu sein scheint.

Die Heuchelei des Integrationsdiskurses

Letztlich verlangt erfolgreiche Integration eine klare Beschreibung dessen, was toleriert wird und was nicht. Aber solch ein Katalog lässt sich kaum zusammenstellen, denn dafür müsste die Frage beantwortet werden, wo hinein sich die Einwanderer integrieren sollen und wann dieser Prozess vollendet ist. Dies verlangt nach einer klaren und schlüssigen Definition der eigenen Gesellschaft, was wiederum einen Grad an Homogenität voraussetzt, den komplexe Gesellschaften wie Deutschland einfach nicht aufweisen – wobei sich die Einwanderer untereinander ebenfalls stark unterscheiden. So entsteht das Risiko, dass jedes negative Ereignis, an dem Einwanderer beteiligt sind, zum Streitpunkt gerät, der mit xenophoben Untertönen politisiert wird. Die ausschließlich reaktiven und üblicherweise negativen Reaktionen auf die Kopftücher muslimischer Frauen in europäischen Ländern sind hierfür ein gutes Beispiel.

Es gibt ein weiteres Problem: Bei allen an Einwanderer gerichteten Erwartungen, sich an nationale Identitäten anzupassen, besteht die Gefahr der Heuchelei. Das hat zum Beispiel die Debatte über Einbürgerungstests im Zuge der Landtagswahlen in Baden-Württemberg Anfang 2006 gezeigt. Dort schlug die CDU eine Art Gesinnungstest für Einwanderer vor, die den deutschen Pass beantragen. Auf diese Weise sollten die Behörden herausfinden, ob die Bewerber die Verfassungsordnung und die Werte des Landes akzeptieren. Doch die Fragen waren so grob, dass der Test lächerlich war. Kurz darauf entwickelte Hessen einen eigenen Fragebogen. Mit diesem sollte festgestellt werden, ob die Antragsteller genug Allgemeinwissen über Deutschland haben, um sich für die Staatsbürgerschaft zu qualifizieren.

Die Gefahr ist natürlich groß, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird. Nicht für alle Deutschen ist Homosexualität ein akzeptabler Lebensstil, wie es der Baden-Württemberger Test ursprünglich abfragen sollte; nicht alle Deutschen können drei deutsche Mittelgebirge nennen, wie es der hessische Fragebogen verlangte; und nicht jeder weiß, dass es sich bei dem Begriff Mittelgebirge um einen geologischen und keinen geografischen Terminus handelt. Noch deutlicher wird dieser double standard bei den Spätaussiedlern: Zwar weisen sie ähnliche sozioökonomische Integrationsdefizite auf wie andere Einwanderer, einen Test bestehen müssen sie aber nicht. Sie haben einen Rechtsanspruch auf den deutschen Pass.

Das vielleicht eklatanteste Beispiel für den double standard ist das Thema der Kopftücher muslimischer Frauen. Mehrere Bundesländer haben Gesetze erlassen, die Kopftücher im Klassenzimmer verbieten, aber christliche und jüdische Symbole wie Kruzifixe oder jüdische Schärpen ausdrücklich erlauben – obwohl Deutschland formal ein säkularer Staat ist. Ganz anders gingen die Franzosen vor: Das entsprechende französische Gesetz aus dem Jahr 2004 verbannt sämtliche religiösen Symbole aus staatliche Schulen und stimmt damit vollkommen mit dem republikanischen Prinzip der laicité überein. Die Konsistenz dieses Gesetzes schuf eine ganz andere Basis, von der aus die Franzosen den wütenden Reaktionen vieler Muslime begegnen konnten, die das Gesetz als einen Angriff auf ihre kulturelle Identität betrachteten.

Letzlich hat sich Integration als eine naive Vorstellung erwiesen. Das Konzept fußt auf idealisierten Vorstellungen von harmonischem Zusammenleben. Und es überdeckt die in ihm selbst angelegte Tatsache, dass hier in Wahrheit mit zweierlei Maß gemessen wird. Was aber sind die Alternativen?

In vieler Hinsicht ist Assimilation auf der makropolitischen Ebene das klarste und praktikabelste Konzept, um gesellschaftliche Inklusion zu erreichen. Assimilation verlangt von Einwanderern, ihre gesamte Identität abzugeben und jene der Mehrheitsgesellschaft anzunehmen. Jahrelang war dies in Frankreich das vorherrschende Inklusionsparadigma. Natürlich scheint der Spruch „When in Rome, do as the Romans do“ auf den ersten Blick einleuchtend. Auch deshalb haben in den vergangenen Jahren immer mehr assimilatorische Elemente ihren Weg in die Integrationspolitiken verschiedener Länder gefunden, in Deutschland etwa die Deutschkenntnisse, die für eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis vorzuweisen sind. Auch die Einführung von Einbürgerungstests in immer mehr Staaten gehört dazu.

Warum Assimilierungserwartungen alles noch schlimmer machen

Ganz abgesehen von der negativen historischen Konnotation im deutschen Kontext ist der Begriff nicht so einfach wie es scheint. Das Problem des double standard nämlich wird im Vergleich zur Integration sogar noch größer. Rein theoretisch ist im republikanischen Frankreich eine Diskriminierung seitens der staatlichen Behörden, die ja alle Staatsbürger gleich behandeln sollten, geradezu unvorstellbar. In der Praxis aber sieht es anders aus: Wie angespannt die Beziehungen sind zwischen Einwanderern sogar mit französischer Staatangehörigkeit und den Behörden – besonders der Polizei – , liegt offen zutage.

Assimilation bringt als Maßstab für gesellschaftliche Inklusion eine Menge weiterer Probleme mit sich, von denen viele – wenn auch weniger stark – ebenso die Integration betreffen. Wieder steht die Frage der Definition im Raum: Wo hinein sollen sich Einwanderer assimilieren? Auch über diese Frage gibt es wohl kaum einen gesellschaftlichen Konsens (wenngleich der französische Republikanismus eine einzigartige Ausnahme darstellt). Eine weitere Gefahr besteht darin, dass Assimilation zu Entfremdung führen kann, weil keinerlei Zugeständnisse in Bezug auf die Identitäten der Einwanderer gemacht werden. Die Folgen waren im Jahr 2005 in den Pariser banlieus zu besichtigen.

Wirklich problematisch aber wird es bei dem sensiblen Thema des Zwangs: Wie können wir von Einwanderern verlangen, bestimmte kulturelle Muster anzunehmen? Und welche realistischen Möglichkeiten der Sanktion gibt es? Erzwungene Assimilation, wie sie in der Vergangenheit auf verschiedene Weisen praktiziert wurde, ist politisch und ethisch nicht mehr vertretbar. Die Erfahrung mit den niederländischen Integrationsprogrammen etwa lehrt, dass effektive Sanktionen wie Bußgelder oder Leistungskürzungen kaum so zu verhängen sind, dass sie juristischer Prüfung standhalten. Die vielleicht größte Schwierigkeit liegt darin, dass die Ausweisung als ultimative Sanktion bei Assimilations- oder Integrationsversäumnissen den Regierungen bislang nicht zur Verfügung stand – aus guten Gründen. Denn von moralischen Bedenken einmal ganz abgesehen: Wie beweist man juristisch sauber, dass es jemand abgelehnt hat, sich zu integrieren, obwohl ihm dazu die Chance gegeben wurde?

In praktisch allen europäischen Ländern existiert in Bezug auf den Aufenthaltsstatus von Einwanderern eine Grauzone. Ausländer genießen die meisten der Bürgerrechte des freiheitlichen Rechtsstaates, wenn sie auch kein Wahlrecht besitzen und Einwanderungskontrollen unterworfen sind. Im Allgemeinen haben in den europäischen Ländern alle Einwohner unabhängig von ihrer Nationalität soziale Rechte wie das Recht auf Gesundheitsversorgung und Rente. Wenn sich Einwanderer also nicht den kulturellen Normen und Identitäten der Mehrheitsgesellschaft anpassen wollen, existieren für europäische Regierungen und Gesellschaften kaum Möglichkeiten, Druck auf sie auszuüben. Es ist ohne größere Probleme möglich, als Ausländer oder sogar eingebürgerter Einwanderer in Ländern wie Deutschland zu leben, ohne jegliche Anstrengungen zu unternehmen, sich in die deutsche Gesellschaft zu assimilieren.

Warum der Multikulturalismus in Deutschland einen schlechten Ruf hat

Dieser entscheidende Punkt hat in den meisten Fällen wenig zu tun mit einer expliziten Ablehnung der deutschen Gesellschaft, sondern damit, dass das alltägliche Leben in Westeuropa wenig aktive Identifikation mit dem Staat verlangt, in dem man sich aufhält. Gibt es also Methoden, die zur Anpassung zwingen und die zugleich politisch, moralisch und juristisch haltbar sind?

Vielleicht liegt die Antwort am anderen Ende des Spektrums der Inklusionsmodelle, im Multikulturalismus. Er erkennt die Identitäten der Einwanderer an und vermeidet so zwei Schwachstellen von Assimilation und Integration zugleich: zum einen Spannungen zwischen der einheimischen Bevölkerung mit ihren Anpassungserwartungen und der Einwandererbevölkerung, zum anderen die Undurchsetzbarkeit von Anpassungsforderungen. Nur hat der Multikulturalismus in Deutschland einen schlechten Ruf. Hierzulande wird das Konzept üblicherweise als hoffnungslos utopische Vision ethnischer und kultureller Harmonie betrachtet und oft mit der Linken der achtziger und neunziger Jahre in Verbindung gebracht.

Die Kritiker des Multikulturalismus führen häufig die Vereinigten Staaten als ein Beispiel einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft an, wo die Trennlinien nicht nur zwischen Afroamerikanern und Latinos verlaufen würden, sondern auch zwischen verschiedenen Gruppen weißer Einwanderer, etwa den Iren und den Italienern. Dieses Beispiel geht jedoch an der Sache vorbei, weil hier Multikulturalismus mit kulturellem Pluralismus verwechselt wird. Formal sind die Vereinigten Staaten nämlich überhaupt kein multikulturelles Land; übrigens auch Großbritannien nicht, obwohl dieses Bild in der britischen Populärkultur durchaus existiert. Der Multikulturalismus legt die Gleichheit aller kulturellen Selbstdefinitionen zugrunde. Mehr noch: Der Multikulturalismus toleriert nicht nur kulturelle Unterschiede, er begrüßt diese sogar. Und in formal multikulturellen Gesellschaften wie Kanada und Australien ist diese Grundannahme der Gleichheit unterschiedlicher Identitäten fester Bestandteil der Staatsräson.

Natürlich hat der Multikulturalismus auch seine schwierigen Seiten. Er neigt dazu, Gruppenidentitäten über individuelle Identitäten zu stellen. Zudem ist er in denjenigen Ländern sinnvoller, in denen es keine eindeutig dominierende kulturelle Gruppe gibt, etwa in den klassischen Einwanderungsländern Kanada und Australien. In den westeuropäischen Ländern lassen sich vorherrschende kulturelle Identitäten, wie verschwommen sie in der Realität auch sein mögen, leichter identifizieren.

Insgesamt stellt das Konzept der Integration keineswegs die ideale Methode zur gesellschaftlichen Inklusion dar. Sie ist vielmehr ein mühsamer Prozess, bei dem die Grenzen dessen, was Einwanderer und Einheimische tolerieren müssen, ständig neu definiert werden. Als „Makroparadigma“ für gesellschaftliche Inklusion erfordert das Konzept enorme gesellschaftliche und politische Energie. Darauf, dass dieser Kraftakt gelingen wird, sollte man sich angesichts der Bandbreite anderer wichtiger Themen, die in Deutschland um politische Aufmerksamkeit wetteifern, lieber nicht verlassen. Da Assimilation ohne die reale Möglichkeit von Sanktionen unmöglich durchzusetzen ist, scheint der formale Multikulturalismus – mit all seinen Problemen – tatsächlich die einzig realistische Alternative zu sein. Gewiss würde dieses Konzept ebenfalls enorme politische und gesellschaftliche Anstrengungen erfordern und auf eine groß angelegte Neudefinition dessen hinauslaufen, was große Teile der deutschen Bevölkerung als „Deutsch“ erachten. Auf lange Sicht wäre das jedoch einfacher, als durch die tückischen Stromschnellen der Integration zu navigieren.

Interessanterweise haben die fortdauernden Migrationsströme nach und in Europa die Bevölkerungsstruktur in einem Ausmaß verändert, das bisher nicht erkannt wurde. Laut Mikrozensus 2005 haben 68 Prozent der 15,3 Millionen Menschen mit Migrationserfahrung in Deutschland eine persönliche Migrationserfahrung. Demnach sind fast alle dieser 10,4 Millionen Menschen im Ausland geboren. Mit rund 13 Prozent übertrifft der Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung in Deutschland damit den Anteil dieser Gruppe in Großbritannien (8,3 Prozent im Jahr 2001) und in den Vereinigten Staaten (11,7 Prozent im Jahr 2003). Und er liegt nicht allzu weit hinter dem kanadischen Niveau von 18,4 Prozent (2001). Wenn dieser Trend anhält – der Bedarf an Einwanderung ist angesichts niedriger Geburtenraten und steigender Lebenserwartung unbestritten – könnte der formale Multikulturalismus schon aus demografischen Gründen zwingend notwendig werden.

Der Perspektivenwechsel als größte Herausforderung

Es gibt nur zwei Entwicklungen, die das Konzept der Integration als Modell für die gesellschaftliche Inklusion rehabilitieren könnten. Die erste wäre eine wachsende Wirtschaft. Deutschlands schleppendes Wirtschaftswachstum und der ökonomische Stillstand zwischen 2001 und 2003 haben die Einwanderer überproportional hart getroffen. Selbst bei einem nachhaltigen Aufschwung würde es lange dauern, bis die substanziellen und symbolischen Aspekte des deutschen Integrationsdilemmas gelöst wären. Die zweite Entwicklung ist das neue Gleichbehandlungsgesetz. Jahrzehntelang besaßen Einwanderer in Deutschland keine effektiven juristischen Mittel gegen häufig niedrigschwellige, aber dennoch allgegenwärtige Diskriminierungen. Das hat sich nun – zumindest formal – geändert. Die Effektivität des Gesetzes wird allerdings davon abhängen, in welchem Geiste es Anwendung findet: Wird das Problem eher aus der Position des Einwanderers oder aus der Position des Staates betrachtet? Für Deutschland stellt dieser Perspektivenwechsel wahrscheinlich die größte Herausforderung dar.

Aus dem Englischen von Michael Miebach.

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