Für eine neue Politik der Inklusion

Der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist in Deutschland weit höher als anderswo in Europa. Um sie wieder in Arbeit und Gesellschaft zu integrieren, müssen auch bei uns deutlich mehr einfache, lokal gebundene Dienstleistungsjobs geschaffen werden

Gleich 35 unterschiedliche Landes-Programme zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit listet die Drucksache 15/3254 des Schleswig-Holsteinischen Landtages 2002 auf. Gleichzeitig stellt der Bericht fest, dass die Arbeitslosigkeit seit 2001 wieder steige. Inzwischen ist sie noch weiter gestiegen, in ganz Deutschland – wie auch die Anzahl der Programme, Maßnahmen und Modelle des Bundes, der Länder und der Kommunen. Niemand führt eine deutschlandweite Statistik, aber es müssen – 16 mal 35, plus, plus, plus – Hunderte sein. An öffentlichen Massenarbeitslosigkeits-Begleitaktivitäten herrscht also kein Mangel, nicht erst seit Hartz I bis IV. Dem Chef der zur Bundesagentur umetikettierten Bundesanstalt für Arbeit wird das alles beinah schon zu viel: Kombilöhne zum Beispiel, sagt er, existierten doch de facto längst. In seinem Reich der fünf Millionen registrierten Arbeitslosen gibt es fast nichts, was es nicht gibt.

Die Sache so zu sehen, ist natürlich ungerecht. Wie hoch wäre die schlimme Zahl aus Nürnberg wohl ohne staatliche Arbeitsmarktpolitik? Wie hoffnungslos wäre die individuelle Lage Betroffener ohne Aussicht auf einen Programmplatz? Und selbst wenn der Effekt gering wäre, könnte man doch nicht einfach nichts tun.

Einfache Arbeit für einfache Menschen

Doch das Ergebnis all der Maßnahme-Kreativität aus 25 Jahren Bekämpfung der Arbeitslosigkeit lässt sich auch beim besten Willen nur als ungenügend bezeichnen. Bei weiter wachsender Wirtschaft, mal schwächer, mal stärker, bei sich überschlagenden Weltmarkt-Rekorden der deutschen Export-Industrie bleibt die Quote der arbeitslosen Menschen inakzeptabel hoch. Normale Wachstumsraten und normale Arbeitsmarktpolitik helfen offenbar kaum. Kontinuierlich wird überall rationalisiert. Auch die öffentlichen Arbeitgeber, arm geworden durch hoffnungsvolle Steuerentlastungen zugunsten der Konjunktur, reduzieren ihr Personal, verschlechtern die Tarifbedingungen, verlängern die Arbeitszeiten, kürzen bei den Gehältern. Im großen Stil verdrängt die nur noch betriebswirtschaftlich, nur noch kurzfristig orientierte Ökonomie Ältere aus dem Arbeitsleben und vernichtet noch um des geringsten Vorteils willen einfache Arbeit, die von einfachen Menschen geleistet werden kann. Zum Überfluss unserer Wohlstandsgesellschaft sollen viele Ältere und Geringqualifizierte nichts mehr beitragen. Sie sind überflüssig. Aber noch da.

Wenn der Mainstream leise murmelt

Offenbar haben sich alle Beteiligten so gut daran gewöhnt, so überaus leidlich damit eingerichtet, dass eben leider gar nichts wirklich hilft – dass sie weiter das Mantra des liberalen Mainstream des letzten Vierteljahrhunderts vor sich hin murmeln, sobald sie glauben, dass eine tiefgründig-philosophische Legitimation der Erfolglosigkeit gefragt ist: „Der Staat richtet keine Arbeitsplätze ein, Politik schafft keine Jobs, Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt!“ Wo, wann, von wem wären diese mutig-kämpferisch daherkommenden Allerwelts-Plattheiten je offen in Frage gestellt worden? Der Staat selbst ist zuständig für Arbeit (und nicht nur für Arbeitsmarktpolitik) – ein Tabu.

Vielleicht lohnt es sich, bevor wir Trost in der 36., 37. und 38. Landesprogramm-Modellmaßnahme suchen, dieses Tabu – Politik schafft keine Jobs – wenigstens einmal gründlich durchzuschütteln. Politik kann nicht nur versuchen, die erwünschte Arbeitsplatzvermehrung indirekt über die Steuerung von Rahmenbedingungen zu erwirken. Politik kann auch viele Dinge direkt regeln: zum Beispiel Personalschlüssel für Pflegeeinrichtungen und eine solidarische Sozialversicherung zu deren Finanzierung, zum Beispiel den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, Bundesgeld für die Unter-Dreijährigen-Betreuung und für Ganztagsschulen mit Mittagstisch, zum Beispiel die überwiegend steuerfinanzierte Beschäftigung einer Viertelmillion behinderter Menschen in gemeinnützigen Werkstätten und Integrationsfirmen. Hier wird gesellschaftlich wertvolle, politisch gewollte, bezahlte Arbeit verrichtet, zum Teil im öffentlichen Sektor, zum Teil privatwirtschaftlich und marktförmig organisiert. Das Dogma der säuberlichen Trennung von Staat und Ökonomie widerspricht schon jetzt den Tatsachen – und ist nicht klug.

Nischen für die Langzeitarbeitslosen

Um nicht in erster Linie Mitnahme-, Park- oder Strohfeuereffekte zu erzielen, sondern die Arbeitslosigkeit substanziell zu reduzieren, sind verbindliche Regelungen (plus Geld) besser als Anreize zur Freiwilligkeit (mit Geld). Dazu zwei Vorschläge:

Erstens sollte jedes Unternehmen wie auch jede Behörde verpflichtet werden, den eigenen Betrieb darauf hin zu untersuchen, welche Arbeit, die nicht sehr produktiv, nicht sehr profitabel und nicht sehr anspruchsvoll ist, dennoch nützlich für alltägliche Abläufe und die Entlastung der eigentlich mit Wichtigerem beschäftigten Kolleginnen und Kollegen sein könnte. Vielleicht wurde gerade solche Arbeit in den letzten Jahren wegrationalisiert oder den Höherqualifizierten mit aufgebürdet. Der Betriebs- oder Personalrat könnte bei der Identifizierung solcher Beschäftigungs-„Nischen“ besonders gut helfen. Es geht darum, die Lücke zwischen zu 100 Prozent produktiver Arbeit und absolut unproduktiver Nicht-Arbeit zu schließen. Diese betrieblichen Nischen-Jobs geringer Produktivität könnten geeignet sein für die dauerhafte Beschäftigung des harten Kerns der Langzeitarbeitslosen: für diejenigen, die gering qualifiziert sind, die sehr lange arbeitslos waren, und die auch wegen individueller Hemmnisse (psychische Belastung, Lebenskrisen, Krankheit, Sucht, funktionaler Analphabetismus, Burnout etc.) auf lange Sicht mit einiger Sicherheit nicht in den ersten Arbeitsmarkt vermittelbar sind.

Eine Million anstrengende Kollegen

Dieser Status, den das Arbeitsamt feststellen muss, ist ausschlaggebend. Die Zahl, um die es geht, dürfte in der Größenordnung von einer Million liegen. Auch diese Menschen dürfen von einer mobilen, dynamischen Weltmarktgesellschaft nicht zurückgelassen werden. Eine Million auf 34 Millionen abhängig Beschäftigte sollte verkraftbar sein. In deren Belegschaften sind die Schwerstvermittelbaren zu integrieren. Das heißt: ein möglicherweise etwas umständlicher, vielleicht ein bisschen anstrengender neuer Kollege auf 34 andere, die da schon arbeiten – das muss gehen. Die Entlohnung wird über den kumulierten ALG-II-Bezügen liegen und zum größten Teil aus Steuermitteln aufgebracht. So entsteht ein niedrig bezahlter unbefristeter Vollzeit-Arbeitsplatz für eine fest umrissene Personengruppe aus der Gesamtheit der etwa 2,5 Millionen Langzeitarbeitslosen. Der Staatszuschuss ist dauerhaft und fest, nicht degressiv. Findet der Beschäftigte eine besser bezahlte Stelle im ersten Arbeitsmarkt, wird sein Nischen-Platz frei und kann neu besetzt werden.

Zweitens sollte jedes Unternehmen wie auch jede Behörde verpflichtet werden, den eigenen Betrieb darauf hin zu untersuchen, welche Arbeitsplätze besonders für ältere Arbeitnehmer ab 55 geeignet sind. Auf diese Arbeitsplätze – vielleicht ist es jeder fünfte, vielleicht mehr – sollten dann bei Freiwerden vor allem ältere Arbeitnehmer aus der eigenen Belegschaft versetzt werden, bei Neueinstellungen sollten ältere Bewerber hier Vorrang vor jüngeren haben. Wenn dies auf dem Wege freiwilliger Selbstbindung (also über Betriebsvereinbarungen beziehungsweise Tarifverträge) nicht zu einer signifikanten Erhöhung der Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmer führt, können auf gesetzlichem Wege verbindliche Quoten eingeführt werden.

Inklusion durch Beschäftigung

Beide Vorschläge beziehen die Arbeitgeber in die Lösung der hartnäckigsten Arbeitsmarktprobleme mit ein. Statt „Politik schafft keine Jobs“ könnte das Mantra einer neuen Beschäftigungspolitik lauten: „Eigentum verpflichtet“.

Natürlich sind beide Vorschläge nicht die Patentlösung für alle Arbeitslosengeld-II-Empfänger in Deutschland. Es gibt andere Ansätze, die für besondere Zielgruppen sozialdemokratischer Inklusionspolitik vielleicht noch hilfreicher sind. Um welche Menschen müssen wir uns hierbei in besonderer Weise kümmern? Unser Augenmerk, sagen Fachleute, sollte sich vor allem richten auf:´

  • Bildungsabstinenzler, die sich in der Schule bereits sehr früh aus unterschiedlichen Gründen (oft aufgrund wirtschaftlicher und sozialer Benachteiligung des Herkunftsmilieus) als Verlierer fühlen, Distanzen aufbauen, sich verweigern und ohne Schulabschluss bleiben. Bildungsdefizite bedingen einen Mangel an Verständnis über „die Dinge um sie herum“ – mit unvermeidlich individuellen und gesellschaftlichen Folgen. Deshalb kommt lebensweltorientierter und lebenspraktischer Bildungsarbeit eine große Bedeutung zu.
  • Psychisch belastete und gehandicapte Personen, die nicht als „Menschen mit Behinderungen“ durch das differenzierte Sozialleistungs- und Unterstützungssystem der Eingliederungshilfe gefördert werden. Menschen, die vielfach aufgrund kritischer Lebensereignisse (Gewalterfahrungen, dramatische Trennungsbiografien) eine eher depressiv erscheinende Distanziertheit im Verhalten zeigen. Sie fühlen sich als Verlierer und Betrogene, die bei der Verteilung von Chancen und Angeboten das Nachsehen haben. In einem geschützten Rahmen muss ihnen die Möglichkeit einer entlohnten, gesellschaftlich sinnvollen Arbeit eröffnet werden.
  • „Abgestürzte“, oftmals allein lebende Menschen, die Lebenskrisen nicht erfolgreich überwunden haben. Alkoholabhängige, zum Teil verwahrlost erscheinende Männer (und wenige Frauen), die etwa auch auf öffentlichen Plätzen angetroffen werden. Hierbei spielt der Missbrauch von Suchtmitteln oft eine erhebliche Rolle. Im Rahmen von gezielten Wohn- und Arbeitsprojekten sowie durch intensive (Sucht-)Beratung müssen Reintegrationsschritte unternommen werden.

Frühaussteiger und Prüfungsneurotiker

  • Burnout-geschädigte Frühaussteiger aus dem Arbeitsleben und ältere Geringqualifizierte. Warum kann und soll nicht zum Beispiel der 50-Jährige, der dem Stressdruck etwa im Schulbetrieb oder im Pflegebereich nicht mehr gewachsen ist, andere gesellschaftlich sinnvolle und notwendige Aufgaben übernehmen? Das gilt für die Privatwirtschaft wie für den öffentlichen Dienst.
  • Ausbildungs- und Studienabbrecher, Langzeitstudierende und „Nichteinsteiger“ – etwa Prüfungsneurotiker oder auch „Examinierte mit Starthemmungen“, die in der Berufswelt und auf dem Arbeitsmarkt nicht ankommen. Hier müssen Ausbildungs- und Studienstätten erheblich stärker als bisher in die Verantwortung genommen werden und sich bei der Vernetzung und Verzahnung zwischen Ausbildung und Praxis verpflichtend einbringen.
  • Ver- und überschuldete Menschen, die inzwischen zu einer großen Gruppe benachteiligter Menschen gehören. Mindestens 40 Prozent der Grundsicherungsbezieher (ALG II) bewegen sich an der Grenze zur Überschuldung und haben kaum einen Ausweg aus der Schuldenfalle. Damit verbunden ist oftmals ein schleichender Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben, begleitet von der Hilflosigkeit, sich alltäglichen Problemen zu stellen. Ein verantwortlicher Umgang bei der Kreditvergabe ist unabdingbare Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Problemlösung. Darüber hinaus ist es erforderlich, die Schuldner- und Insolvenzberatung als festen Bestandteil der Beratung im Rahmen des SGB II zu etablieren.

Das Drama der Ein-Eltern-Familien

  • Funktionale Analphabeten, die zwar in der Schule Lesen und Schreiben erlernt haben, aber dennoch tatsächlich nicht in der Lage sind, Sinn entnehmend zu lesen oder selbst einen Brief zu schreiben. Diese Menschen sind kaum über die herkömmlichen Wege zu erreichen und dadurch oftmals von elementaren Informationen abgeschnitten. Besonders betroffen sind Einwanderer, die weder in der Muttersprache noch in der deutschen Sprache ausreichende Kenntnisse erworben haben. Hier können Alphabetisierungs-Kampagnen und gezielte Sprachkurse dazu beitragen, die Benachteiligung zu überwinden.
  • Ein-Eltern-Familien, die manchmal unter Überlastung zusammenzubrechen drohen. Und dies gerade nicht, weil sie persönliche Handicaps haben. Ihr Problem ist ein strukturelles Phänomen unserer Gesellschaft. Sie haben heute auf dem Arbeitsmarkt trotz aller Bemühungen vielfach zu wenige Chancen. Wenn es nicht gelingt, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser als bisher miteinander zu verknüpfen, auch die besonderen Bedürfnisse dieser Personengruppe im Erwerbsleben zu berücksichtigen, werden besonders Mütter und Väter mit geringen beruflichen Qualifikationen langfristig vom Arbeitsmarkt abgeschnitten. Ein Leben ohne Erwerbsarbeit und mit staatlicher Alimentation ist die Folge. Dies ist weder im Interesse der Betroffenen, noch der Gesellschaft. Hier können Arbeitsprojekte im sozialen Dienstleistungsbereich (unter anderem Kinderbetreuung) helfen, die wohnortnah entwickelt und sozialräumlich ausgerichtet werden.

Wie es die Erfolgreichen in Europa machen

Eine neue Politik der Großen Koalition kann dafür sorgen, dass mit neuen Instrumenten erheblich mehr Arbeitsmöglichkeiten für all jene entstehen, die zu schnell für zu lange Zeit aus dem Arbeitsprozess herausfallen. Dass dies möglich ist, zeigt der Blick auf manche unserer Nachbarn in Europa, bei denen das Beschäftigungsniveau über unserem (und die Arbeitslosenquote unter der unseren) liegt. Schweden, Dänemark, die Schweiz oder die Niederlande haben ihre Beschäftigungserfolge gerade in solchen Bereichen erzielt, die nicht dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind.

Auch in Deutschland müssen neue Arbeitsplätze vor allem im Bereich der einfachen, lokal gebundenen Dienstleistungen entstehen. Wo möglich mit privatem Kapital, wo nötig mit Hilfe der öffentlichen Hand, gegebenenfalls auch dauerhaft bezuschusst für bestimmte exakt zu definierende Personengruppen. Dies ist ein wichtiger Baustein einer neuen Politik für die Schwachen, einer Politik der Inklusion.

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