Für eine neue Kultur des Fortschritts

Die Gewerkschaften waren in der Vergangenheit eine treibende Kraft des Fortschritts - sie müssen es auch in Zukunft sein.

Gewerkschaften werden in unserer Zeit – wie viele etablierte Institutionen und Verbände – kaum mehr mit der Idee des Fortschritts in Verbindung gebracht. Seit dem Beginn der Industrialisierung bis hinein in die siebziger Jahre waren es aber gerade die Gewerkschaften, die einen umfassenden Fortschrittsbegriff prägten. Gerade weil wir auch weiterhin die Zukunft fortschrittlich gestalten wollen, macht es Sinn, sich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung zu befassen.

Wann auch immer heute, gleich in welcher Umgebung und bei welcher Gelegenheit, über die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Deutschland räsoniert wird, stets beginnen oder enden die Debatten mit dem Begriff der sozialen Marktwirtschaft. Gemeint ist damit keineswegs nur eine Beschreibung des Wirtschaftssystems – also etwa des sozial regulierten Kapitalismus. Die soziale Marktwirtschaft ist aber eben kein „Ismus“, sondern eher ein sowohl gesellschafts- wie wirtschaftspolitisches Leitbild und vor allem: gelebte Praxis. Wie genau das Leitbild zu beschreiben sei, daran scheiden sich die Geister. Manche halten es eher mit Ludwig Erhard, der meinte „der Markt an sich“ sei sozial, weil dieser Markt, vereinfacht ausgedrückt, die Produktion nach den Wünschen der Verbraucher steuere, das Sozialprodukt gemäß der wirtschaftlichen Leistung des Einzelnen verteile, die Produktivität steigere und dadurch höhere Reallöhne ermögliche. Das setzt voraus, dass es keinerlei Vermachtungen in einer Marktwirtschaft gibt: Gemeint sind nicht nur die von Erhard bitter bekämpften privaten Marktmonopole, sondern auch ungleiche gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, die der kühnen Idee nach der Verteilung des Sozialproduktes nach der wirtschaftlichen Leistung an den Einzelnen doch sehr grundsätzlich im Wege standen und stehen.

Wir sind der Meinung, dass nachhaltige soziale Marktwirtschaft in der Tat ein gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Leitbild unserer Tage sein kann. Vorausgesetzt, sie wird nicht im starren Sinne einer ökonomischen Schule oder Lehre verstanden, sondern als lebendiger Teil unserer Kultur. Einer Kultur, die fordert, dass eine Gesellschaft notwendigerweise wirtschaftlich leistungsfähig sein muss, wenn sie über sich selbst hinausweisende Ziele verfolgen können will. Diese Ziele haben sich in den sechs Jahrzehnten, die die Bundesrepublik Deutschland nun besteht, immer wieder gewandelt. Aber wir sehen, welche Ausdehnung demokratischer und sozialer Politik in einer Zeit möglich war, in der die Leistungskraft der deutschen Wirtschaft hochgradig dynamisch war – Zeiten der Stagnation oder des kriechenden Wachstums waren immer auch Zeiten, in der der soziale Fortschritt nicht leicht auszumachen war.

Wenn man es nicht mit Ludwig Erhard, sondern mit dem zweiten Begründer der sozialen Marktwirtschaft, dem Ökonomen Alfred Müller-Armack hält, dann kommt man einem realitätsbezogenen Leitbild schon näher. Dieser nannte die soziale Marktwirtschaft einen dritten Weg zwischen Marktradikalismus und staatlicher Planwirtschaft. In seiner 1947 erschienenen Schrift Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft setzte Müller-Armack der Marktwirtschaft die Konzeption einer „bewusst gesteuerten, und zwar sozial gesteuerten Marktwirtschaft“ entgegen. Im Ergebnis kam es dann so. Aber nur im Ergebnis. Denn um die ökonomische Vormachtstellung der Arbeitgeber auszugleichen und soziale Steuerung überhaupt zu ermöglichen, mussten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter intensiv für die Einführung von Tarifautonomie, für Mitbestimmung in Betrieben und Unternehmen und für die soziale Sicherung der abhängig Beschäftigten werben und kämpfen. Dass das Tarifvertragsgesetz nach langwierigen Verhandlungen am Ende einstimmig verabschiedet wurde, lag ohne Zweifel daran, dass die damals existierenden Arbeitgeberverbände gemeinsam mit dem DGB und seinen Mitgliedsgewerkschaften im Widerspruch zur alliierten Arbeitsverwaltung für ein vom Staat unabhängiges Tarifvertragswesen gekämpft hatten. Aber schon für das Montan-Mitbestimmungsgesetz für den Bergbau und die Stahlindustrie mussten die damalige Industriegewerkschaft Bergbau Energie und die Industriegewerkschaft Metall 1951 zum Mittel des Streiks greifen. Ein riskantes Unterfangen. Erst drei Jahre zuvor war der Streik vom 12. November 1948, zu dem der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften ihre Mitglieder gegen eine befürchtete Restauration der Wirtschaftsordnung aufgerufen hatten, trotz einer Beteiligung von mindestens sieben Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Sande verlaufen.

Der Ausstand von mehreren Hunderttausend Beschäftigten im Bergbau und der Stahlindustrie hingegen brachte Bewegung in das bis dahin verhandlungsunwillige Arbeitgeberlager und das konservative Kabinett. Kanzler Adenauer machte das Montanmitbestimmungs-Gesetz zur Chefsache und überwand so heftigste Widerstände in den eigenen Reihen. Am Ende stimmten nur 50 Abgeordnete des Deutschen Bundestages gegen das Montanmitbestimmungs-Gesetz.

Reine Lohnmaschinen wollten die Gewerkschaften nicht sein

Schon ein Jahr später aber mussten die Gewerkschaften – nach einer Kampagne für eine deutliche Ausweitung der Mitbestimmung in Betrieben und allen Unternehmen – eine Niederlage verkraften. „Die Gewerkschaften in Deutschland fanden sich in einer Welt wieder, die so gar nicht ihren Vorstellungen von Konsequenzen aus dem Zweiten Weltkrieg entsprach – ausgesperrt aus den Zentren wirtschaftlicher Macht, verwiesen allein auf die Kraft ihrer Organisation und mit dem Tarifvertrag im Zentrum ihrer Gestaltungsmöglichkeiten, den sie sich doch nur als Hilfsmittel am Rande vorstellen wollten“, schreibt Müller-Armack.

Fortan stand die Tarifpolitik im Mittelpunkt der Gewerkschaftspraxis. Dabei ging es um einen gerechten Anteil an den im Schnitt achtprozentigen Zuwächsen des Bruttoinlandsproduktes. Westdeutschland war eine Volkswirtschaft mit einer nachholenden Entwicklung. Durch die Einbindung in das westliche, vom Marshall-Plan gefestigte Wirtschaftsgebiet konnten sich die Unternehmen neue Absatzmärkte zügig erschließen, und das hatte nicht nur kräftige Wachstumsraten zum Ergebnis. Die deutsche Wirtschaft steuerte tatsächlich auf Vollbeschäftigung zu, was Gewerkschaften einen beachtlichen Verteilungsspielraum eröffnete. 1955 lag die gesamte Industrieproduktion um rund 14 Prozent über der des Vorjahres.

Ein Fortschritt, den die Arbeitgeber freilich selten gewillt waren zu gewähren. Bei Auseinandersetzungen um Lohn und Gehalt, aber auch um Qualität der Arbeit, sahen sich die Belegschaften oft mit hartem Widerstand, häufig auch mit Aussperrungen konfrontiert. Die Gewerkschaften wollten sich aber nicht auf ihre Rolle als reine Lohnmaschinen reduzieren lassen. Weil sich politisch mit dem Kabinett Adenauer und später mit der Regierung Erhard nur wenig bewegen ließ, baute sich aus Sicht der Gewerkschaften und der zahlreicher werdenden organisierten Arbeitnehmerschaft ein enormer Reformstau auf. Er umfasste nach wie vor die Mitbestimmung. Die Notwendigkeit besserer Bildung auch für Kinder aus Arbeitnehmerfamilien rückte immer mehr ins Zentrum gewerkschaftlicher Forderungen. Der Produktivitätsfortschritt erforderte von den Beschäftigten immer mehr Wissen und Fähigkeiten. Also war die gewerkschaftliche Politik durch ein Engagement für den Wissensaufbau von Industriestrukturen und Produktionswachstum gekennzeichnet. Und die Arbeitszeitpolitik geriet ins Blickfeld der Gewerkschaften. Das Plakat des DGB zum 1. Mai 19561, auf dem ein kleiner Junge einfordert: „Samstags gehört Vati mir“ hat sich in das Gedächtnis unserer Gesellschaft eingeschrieben. Die Gewerkschaften nahmen die in die Zukunft gerichtete Stimmung ihrer Zeit auf, reflektierten die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Sie forderten „Frieden, Freiheit und Fortschritt“.

Die Gewerkschaften dachten wirtschaftlichen Wandel und technologischen Fortschritt zusammen und leiteten daraus eine Idee von sozialem und gesellschaftlichem Fortschritt ab. In einem „Automation und technischer Fortschritt in der Bundesrepublik“ überschriebenen Beitrag im März 1965 hieß es: „Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat sich stattdessen für eine andere Form der Arbeitszeitverkürzung entschieden. Er fordert die Einführung der zehnjährigen Pflichtschulzeit, die stufenweise Verringerung der Altersgrenze in der Rentenversicherung und längeren Urlaub. Arbeitnehmer sollen mindestens vier Wochen, die über 35-Jährigen fünf und die über 50-Jährigen sechs Wochen Urlaub erhalten.“

Die Wahrnehmung von veränderten Ansprüchen der Beschäftigten, neuen Möglichkeiten zur Gestaltung der Arbeit in einer dynamischen Wirtschaft, neuen Herausforderungen für die Gewerkschaften fanden 1963 ihren Niederschlag in einem neuen Grundsatzprogramm des DGB. Es befreite die Gewerkschaften von der Fesselung an eine aus der Zeit fallende Arbeiterklasse2 und machte sie zu einem Gestalter im aufbrechenden Westdeutschland. Mit einem Mal stand der DGB nicht mehr in Opposition zur politischen Mehrheit seiner Zeit, sondern trieb in Fragen der Sozialpolitik, der Bildungspolitik, der Arbeitszeitpolitik, aber auch der Friedenspolitik eine Bewegung für ein modernes Deutschland an. „Es war ein großes Verdienst der Gewerkschaften, die politische Artikulation von Unterschichten ermöglicht und gebündelt zu haben“, bilanziert rückblickend der konservative Historiker Paul Nolte in seinem Buch Generation Reform. Der Reformstau, den die Gewerkschaften beschrieben, entsprach dem Reformstau, den die Menschen in ihrer Mehrheit in ihrem beruflichen und privaten Alltag wahrnahmen – und für dessen Auflösung, einschließlich einer Ausweitung der Mitbestimmung, es in einem hochentwickelten Zustand des Kapitalismus auch ökonomisch gute Gründe gab.

Der konkrete Nutzen fortschrittlicher Politik

Die Entwicklung neuer Sichtweisen, die Fähigkeit, neue Forderungen mit dem Beharren auf grundsätzlichen Forderungen zu verbinden, zahlte sich in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts für die Gewerkschaften und die Arbeitnehmerschaft aus. Die Ausweitung der paritätischen Mitbestimmung, die Humanisierung der Arbeit, die stärkere Teilhabe an der Wertschöpfung, weitere Schritte zur Verkürzung der Arbeitszeit – ob durch längeren Urlaub oder Verkürzungen der Wochenarbeitszeit – waren das Ergebnis einer von SPD und FDP mitgetragenen Politik, die den technologischen und wirtschaftlichen Fortschritt aufnahm. Einer Politik also, der die Menschen in ihrer Mehrheit folgen wollten, weil sie den konkreten Nutzen für ihr Leben klar erkannten. Die industrielle Arbeiterschaft, befreit von der Lohntüte und ausgestattet mit Gehaltskonto, Lebensversicherung und Bausparvertrag, machte sich laut Paul Nolte „das bürgerliche Werte-, Verhaltens- und Kulturmodell als Leitbild zu eigen und propagierte es in ihrer eigenen Avantgarde, der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung.“

Aus dieser Kraft heraus leisteten die Gewerkschaften entscheidende gesellschaftspolitische Beiträge. Ihrem Engagement ist es etwa zu verdanken, dass Einwanderer der ersten Generation und auch häufig ihre Familien über die Arbeitswelt und die Gewerkschaften Anschluss an ihre neue Heimat in Deutschland fanden. Sicher war das Bemühen um die Zuwanderer nicht ganz ohne organisationspolitisches Eigeninteresse entstanden – wilde Streiks Ende der sechziger Jahre, etwa bei den Ford-Werken in Köln, gingen sehr stark auf die Initiative ausländischer Beschäftigter zurück.

Ende der siebziger Jahre, spätestens seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, gerieten die Gewerkschaften in einer ganz neuen ökonomischen Lage unter Druck: In der Industrie eilte aufgrund der technologischen Entwicklung und der Digitalisierung die Produktivität dem Branchenwachstum davon. Das Ergebnis war das neue Phänomen Massen- und Dauerarbeitslosigkeit und eine in der Bundesrepublik bis dahin nicht gekannte Perspektivlosigkeit junger Menschen.

Von 1970 bis 2008 stieg die industrielle Produktion um mehr als das Vierfache, die Zahl der Beschäftigten im produzierenden Gewerbe halbierte sich annähernd. Beispielsweise konnte die chemische Industrie in ihren Kernbereichen die Produktivität enorm steigern. Gleichzeitig veränderte sich die Basis des industriellen Wirtschaftens zusehends – und mit dem Fall der Mauer, dem Ende der Blockkonfrontation beschleunigte sich die Internationalisierung zunächst der Absatzmärkte und dieser Entwicklung folgend auch der Produktion und der Eigentümerstrukturen. Die Globalisierung des Welthandels und die immer tiefere ökonomische Integration Europas sicherten Deutschland und seiner starken Industrie Arbeit und Wertschöpfung, die auf geschlossenen Märkten nicht mehr möglich gewesen wären.

Für eine neue Ära des Fortschritts fehlten die Konzepte


Das wurde von den Gewerkschaften wahrgenommen – aber unterschiedlich, bisweilen schleppend reflektiert. Was zur Folge hatte, dass ein an sich notwendiges Angebot an die Gesellschaft, wie den neuen Entwicklungen zu begegnen wäre, nicht erfolgte. Viele Gewerkschafter betonten vor allem seit Ende des vergangenen Jahrhunderts immer deutlicher die Schutzaufgabe, die jede Gewerkschaft ganz ohne Zweifel wahrnehmen muss. Die IG BCE beziehungsweise ihre Vorgängerorganisationen dagegen hatten eine spezifische Kultur entwickelt, in der Industrie- und Tarifpolitik miteinander verzahnt, und industriepolitische Handlungsspielräume in der Tarifpolitik mit berücksichtigt wurden. (Das bedeutet keineswegs, dass die Entwicklung von Löhnen oder Arbeitsbedingungen in irgendeiner Weise der allgemeinen Entwicklung im produzierenden Gewerbe hinterher hinken würden.)

Auch weil keine aus der Gesellschaft oder den Gewerkschaften herausgewachsene Konzeption für eine neue Ära des Fortschritts bereitlagen, kam es zu unzureichenden Beschlüssen und Handlungsweisen, um diesen grundlegenden Veränderungen der Zeit zu begegnen. Der Aufbau einer weiteren Rentenversicherungssäule ohne Arbeitgeberbeiträge war eine zur Notwendigkeit gewordene, weil passive Reaktion auf den Kostendruck, der vom Wettbewerb der Standorte um Betriebe ausging. Die weitreichende Neuordnung der Arbeitslosenversicherung, der Ausbau des Marktes für Arbeitsverleiher waren schmerzhafte Instrumente, um gesamtwirtschaftlich gesehen die Produktivität zu senken und mehr Beschäftigung, wenn auch im Niedriglohnsektor – entstehen zu lassen – keine Rahmenbedingungen, die die Gestaltungsmacht von Gewerkschaften stärkte und die sich im Nachhinein als wenig erfolgreich und deshalb mindestens als korrekturbedürftig erwiesen haben.

Vollends geriet die Auseinandersetzung zu einem blockierenden Grabenkampf, nachdem einige Arbeitgeber- und Industrieverbände den Konsens zur gemeinsamen Gestaltung dieser Umbrüche versuchten aufzugeben. Ein nötiges Bündnis für Arbeit wurde blockiert. Es wurde der Versuch unternommen, die gewerkschaftlichen Reformerfolge der siebziger und achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts schnell zurückzudrängen.

Andere malen den Fortschritt in Grau – wir wollen eine reichere Zukunft gestalten

Vor fünf Jahren noch war Deutschland nicht bereit für Reformen, mit deren Hilfe die zweite Moderne auch menschlich und sozial hätte gestaltet werden können. Es ist schon eine Ironie der Geschichte, dass es erst einer Weltwirtschaftskrise bedurfte, um die Ideologie der Marktgläubigen und ihre Vormachtstellung im gesellschaftlichen und politischen Meinungsstreit um die bestmögliche Entwicklung nicht nur in Deutschland, sondern weltweit zu brechen. Bemerkenswert ist auch: In dieser Krise ist unser Land nicht etwa in einen neuen Verteilungskampf versunken. Es herrscht im Gegenteil ein Klima der Vernunft und Kooperation vor, in dem sich Arbeitgeber, Gewerkschaften und Parteien um Gemeinsamkeiten bemühten, statt ständig in der Versuchung zu leben, zum Nachteil des jeweils anderen die Verhältnisse im Grundsatz und zum eigenen Vorteil zu kippen. Insbesondere die industriellen Beziehungen sind stabilisiert. Ob das ein Zufall der Geschichte bleibt, oder ob aus dieser Situation eine neue Kultur des Fortschritts entstehen kann, liegt in der Hand der politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt auch der gewerkschaftlichen Eliten.

Wenn wir den Frauen und Männern, die sich derzeit in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Gewerkschaften ehrlich machen, folgen, dann können wir alle gemeinsam zu dem Schluss kommen, dass unsere Basis schwindet. Kirchen, Gewerkschaften, Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände, Parteien und Verbände leiden unter dem Schwund an Mitgliedern, und das heißt: Die eigene Kraft zur Gestaltung erodiert. Wir alle haben uns daran gewöhnt, in Kategorien des Rückzugs, des Abbaus, des Schwundes zu denken. Wer aber beständig das Weniger denkt, dem fehlt irgendwann – noch nicht heute und jetzt – die Kraft, das Kommende zu denken und zu gestalten. Das aber ist der Kern gewerkschaftlichen Denkens: Stark sind wir nicht, wenn wir die Übel der Gegenwart beklagen und Abwehrkämpfe führen, sondern mit den Menschen in die Zukunft gehen und diese gestalten. In dem, was wird, was neu ist, steckt eine bisweilen unfassbare Kraft.

Andere mögen den Fortschritt in Grau malen – wir sind der Meinung: Gerade den Gewerkschaften kommt eine besondere Rolle und eine herausgehobene Verantwortung in einem Versuch zu, eine reichere Zukunft zu gestalten – reicher an Fantasie, an Kraft, an Wohlstand, an Ideen und Möglichkeiten. Gewerkschaften sind politische Organisationen, sie sind tief im Wirtschaftsgeschehen verankert, ihre vorwiegend
ehrenamtlichen Funktionäre engagieren sich vielfach auch im politischen und kirchlichen Raum, in vorpolitischen Organisationen oder auch Nichtregierungsorganisationen. Die Gewerkschaften sind mit dem Parlamentarismus verwoben, durch unsere Tarifpolitik und in der Mitbestimmung nehmen wir aber auch ohne staatliches Zutun Verantwortung wahr. Gewerkschaften können der Motor einer neuen Kultur des Fortschritts, einer nicht mehr für die Folgen blinden, sondern einer im besten Sinne nachhaltigen Fortschrittskultur werden.

Wir haben als IG BCE gute Erfahrungen gemacht, wenn es darum geht, Sozialpartnerschaft zu leben. Seit 1971 ist es in der Chemischen Industrie nicht mehr zu einem Arbeitskampf gekommen, weil wir mit den Arbeitgebern einen Modus gefunden haben, an der Sache orientiert und mit realistischem Blick die Arbeitswelt weiterzuentwickeln und den Anschluss der Beschäftigten an das Wachstum zu sichern. Wir haben diese in jahrzehntelanger Übung entstandene Kultur in den vergangenen Jahren nochmals erneuert. Im so genannten Wittenberg-Prozess ist es uns gelungen, mit haupt- aber vor allem ehrenamtlich Aktiven aus unserer Organisation wie aus dem Bundesarbeitgeberverband Chemie die Schnittmenge gemeinsamer Werte und Zielvorstellungen auf der Höhe unserer Zeit herauszuarbeiten. Nach dreißig Jahren erfolgreicher Sozialpartnerschaft haben wir einen Prozess gestartet, in dem wir uns unsere durch Ernsthaftigkeit, Sachkenntnis und Organisationsmacht geprägte Kultur zu Nutze gemacht haben, um wesentliche Zukunftsfragen zu diskutieren. Wir haben uns mit der Notwendigkeit und den Bedingungen von unternehmerischem Erfolg, Nachhaltigkeit und Guter Arbeit beschäftigt. Die vielen ehren- und hauptamtlichen Beteiligten auf beiden Seiten haben sich gegenseitig die Zielkonflikte zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften vor Augen geführt, so dass das Gemeinsame wie das Trennende für die künftige Zusammenarbeit offen liegt – eine außergewöhnlich gute Basis für künftige Verhandlungen.

Damit soll nicht gesagt sein, dass die Republik nun einen solchen Prozess kopieren könnte. Aber was uns in einem sicherlich besonderen und von günstigen Rahmenbedingungen geprägten Umfeld möglich ist, sind wir bereit, in umfassender Form einzubringen, wenn es darum geht, gemeinsam mit anderen eine Kultur des Fortschrittes zu beschreiben. «

Anmerkungen
1. Das Maiplakat 1956 war die gelungene Übersetzung einer noch recht gewerkschaftlich formulierten Mai-Parole aus dem Jahre 1955. Damals versammelte der DGB seine Anhänger noch unter dem Motto: „40 Stunden sind genug“.
2. Nüchtern stellte Otto Brenner in seinem Vortrag auf der 3. Automationskonferenz der IG Metall in Oberhausen 1968 fest: Die Arbeitswelt sei in eine Phase eingetreten, in der der „Bereich der Dienstleistungen zum umfangreichsten Sektor der Wirtschaft wird, und der menschliche Anteil an der Produktion sich zunehmend von der ausführenden Arbeit zur Vorbereitung, Lenkung und Überwachung der Produktion sowie in den Vertrieb verlagert“.



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