Freiwilligendienste - für alle Generationen

Sind in Deutschland genügend Menschen dazu bereit, regelmäßig einen Teil ihrer Freizeit einzubringen, damit die soziale Gesellschaft gelingt? Die bisherigen Projekte sprechen dafür - und müssen ausgeweitet werden

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Das stellt unser Grundgesetz so fest und manifestiert an dieser Stelle und in seiner Gesamtheit die Idee vom Sozialstaat. Das ist gut, und das ist wichtig. Denn der Sozialstaat ist einer der großen Fortschritte der Menschheitsgeschichte.

Diese Form organisierter Solidarität ist in der Ausprägung, die wir heute kennen, noch jung, aber längst unverzichtbarer Garant unserer sozialen Ordnung. Alle sind mit Rechten und Pflichten daran beteiligt. Ein regelhaft vereinbarter Interessenausgleich, der das menschenmögliche Maß an Sicherheit garantiert.

Der Sozialstaat in seiner berechenbaren Verlässlichkeit ist unentbehrlich, aber er lebt auch von der Fähigkeit und Bereitschaft der Menschen, unmittelbar füreinander einzutreten, sich zu helfen und sich helfen zu lassen. Das ist der eigentliche Kitt der Gesellschaft: Der familiäre, der nachbarschaftliche, der ehrenamtliche, der freiwillige und der hauptberufliche Dienst am Menschen. Menschen für Menschen.

Das ist eine feste Maxime unseres Zusammenlebens in der Gegenwart und trägt auch für die Zukunft, in der wir Konzepte für eine Gesellschaft zu finden haben, die sich demografisch tiefgreifend verändert und auch ihre Migrationsprobleme lösen muss. Und das in einem vereinten Europa, das seine soziale Ordnung sucht in einer globalisierten Welt.

Der Sozialstaat ist das Gegenteil von Gnade und Barmherzigkeit nach Lust und Laune. Er ist Ausdruck des Anspruchs auf Hilfe, die andererseits auch der Einzelne selbst anderen zu geben bereit sein muss. Der Sozialstaat braucht, wenn er gelingen soll, neben der nüchternen Risikokalkulation zwingend das Element der mitmenschlichen Empathie. Helfen und sich helfen lassen. Menschlichkeit leben, Freude daran haben, Hilfe zu bekommen und selbst zu helfen. Er braucht das menschliche und das subsidiäre Element.

Wenn man nach vorne blickt und sich fragt, wie die Gesellschaft aussehen könnte, in der wir leben wollen, in 10, 20 oder 50 Jahren, spielt dieses immanent Soziale neben dem verfassten Sozialstaat eine zentrale Rolle. Denn der Sozialstaat, so unverzichtbar er gesamtgesellschaftlich ist, ist in seiner Zielgenauigkeit und Wirkung auf den Einzelnen begrenzt. Anders: Er lässt Raum für persönliches, spontanes oder regelhaftes soziales Engagement. Ja, er ist sogar darauf angewiesen.

Vorsorge ist sinnvoll – und preiswerter

Jede Form des persönlichen sozialen Engagements ist so wichtig und so ehrenwert wie jede andere auch. Teilweise sind sie überlappend.

Soziales Engagement wirkt bei dringendem Bedarf und wo Not ist. Oft hilft es aber schon vorher, wenn es darum geht, den dringenden Bedarf und die Not erst gar nicht entstehen zu lassen. Diese Formen sind vorsorgend, und das ist sinnvoll. Denn wie beim Sozialstaat selbst, ist auch beim privaten sozialen Dienst vorbeugen leichter als heilen. Auch preiswerter.

Dienst aneinander im Familienverbund ist Tradition, bleibt selbstverständlich. Ist jedoch aufs Ganze gesehen weniger geworden, weil Familienverbünde sich gewandelt haben, schmaler und verstreuter geworden sind.

Der nachbarschaftliche Hilfsdienst war in dörflichen und kleinstädtischen Lebensweisen verbreiteter, als er dies in großen Städten sein kann. Aber er ist keineswegs obsolet und realisiert sich heutzutage häufiger als freundschaftlicher Hilfsdienst, weil die Mobilität es einfacher macht, räumliche Entfernungen schneller und öfter zu überwinden. Der Freund ersetzt den Nachbarn.

Ehrenamtlich engagiert sind Millionen Menschen, in unterschiedlichster Weise. In Organisationen und Verbänden, in kirchlichen und anderen gemeinnützigen Zusammenschlüssen, in ambulanter Weise und in stationären Einrichtungen, bei Vorschule und Bildung, Gesundheit und Pflege, bei Hospiz, bei Kultur, Sport und Freizeit, bei alten- und behindertengerechtem Wohnen, als Stadtteil- und Integrationsarbeit. Sie haben Dank und Respekt verdient und sind unentbehrlich.

Viele Ältere können und wollen noch

Es gibt viele ehrenamtlich tätige Ältere, die wollen und können noch. Wobei bisher im originär sozialen Bereich die Männer deutlich in der Unterzahl sind; aber das kann sich ja noch ändern. Die staatliche Unterstützung dieser ehrenamtlichen Arbeit haben wir über die Jahre und jetzt wieder verbessert. Eine wertgemäße Honorierung dieser gesellschaftlich wertvollen Arbeit ist aber nicht finanzierbar. Dass gesellschaftliches Engagement nötig ist und ein Ausdruck von Verantwortungsbewusstsein, ohne welches eine solidarische Gesellschaft nicht möglich wäre, ist andererseits offensichtlich. Solches Engagement muss deshalb auch förderlich sein für berufliche Karrieren.

Die meisten hauptberuflichen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind in den sozialstaatlichen Strukturen tätig. Sie sind den Menschen zugewandt, denen sie dienen, und sie sind professionell und ausdauernd in ihrem Einsatz. Das gilt für Erzieherinnen und Lehrer, für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, für Krankenpfleger und Ärztinnen, für Übungsleiter, Rettungssanitäterinnen und viele andere.

Das mitmenschliche Engagement dieser Aktiven im sozialen Alltag findet relativ wenig Erwähnung, wird als selbstverständliche Pflicht angesehen und in seiner grundlegenden Bedeutung für die Lebensqualität unserer Gesellschaft nicht selten unterschätzt. Der dauerhafte und unmittelbare Dienst von Menschen an anderen Menschen ist eine Herausforderung, denn er ist nicht selbstverständlich in einer säkularisierten Welt. Dass so viele ihn hauptberuflich so überzeugend leisten, ist auch ein gutes Zeichen dafür, dass die Idee der Solidarität in unserer Gesellschaft tief verankert ist.

Viele, die in den sozialen Diensten arbeiten, zeigen ein Engagement, das weit über ihre im Arbeitsvertrag festgelegten Pflichten und freiwillige Vereinbarungen hinausgeht.

Trotzdem gibt es – überwiegend jenseits der bekannten sozialstaatlichen Strukturen – Bedarfe und Nachfragen, die eine Antwort brauchen, also passende Angebote, die fachlich qualifiziert und kostenmäßig akzeptabel sind.

Deshalb ist die Idee der Freiwilligendienste für alle Generationen, gerne auch im Generationenverbund, von so großer Bedeutung. Die Frage ist, ob sich in einer insgesamt zeitreichen Gesellschaft ausreichend viele Menschen finden, die bereit sind, einen Teil ihrer persönlichen Freizeit einzubringen. Nicht nur spontan und gelegentlich, sondern regelhaft für andere Menschen, um so dazu beizutragen, dass die soziale Gesellschaft gelingt.

Die Freiwilligendienste haben sich bewährt

Das im Sommer 2005 von der damaligen Bundesregierung begonnene Experiment der generationenübergreifenden Freiwilligendienste – nachempfunden dem Freiwilligen Sozialen Jahr oder dem Ökologischen Jahr für junge Menschen – hat sich bewährt. In den rund 50 Projekten vor Ort – wenn man sich dort umsieht – ist der Erfolg mit Händen zu greifen. Das lässt nur eine Folgerung zu: Diese Arbeit muss fortgeführt und ausgebaut werden. (Nebenbei: Ein Freiwilliges Soziales Jahr zu einem obligatorischen Angebot zu machen, das jede Schülerin und jeden Schüler erreicht, wäre ein Stück Gesellschaftsreform, die gut in die Idee der sozialen Dienste generell passt.)

Ideenreich und einsatzbereit haben Frauen und Männer, Junge und Ältere mit schmalstem hauptamtlichen Gerüst Dinge in Bewegung gesetzt, die nicht wieder einschlafen dürfen: Patenschaften bei Schülerinnen und Schülern, Beratung für Einwandererfamilien, Unterstützung für Hilflose, Beratung von Ratlosen, Förderung der kreativen Kräfte bei Kindern, schulische Nachhilfe in schwierigen Situationen, Anleitung zur gesunden Ernährung, ambulante Hilfen für Alte, Gespräche am Krankenbett, aber auch Studententauschbörsen, bei denen Rasenmähen gegen Nachhilfeunterricht gehandelt werden kann. Und hundert Dinge mehr. Bei den Einsätzen geht es nicht nur um Hilfen für diejenigen, die an den Rand der Gesellschaft geraten sind oder in extreme Lebenssituationen. Es geht auch um alltägliche Leistungen, die aber jeder benötigt und zu denen fast jeder etwas beitragen kann.

Was der Staat alleine nicht schaffen kann

Jetzt geht es um Verbreiterung und Vertiefung dieses erfolgreichen Versuchs. Es ergibt wenig Sinn, das eine – gelungene – Modell durch das nächste – leicht variierte – zu ersetzen und die Mehrzahl der Beteiligten zu verunsichern und sie statt auf die angelaufene Arbeit wieder auf neue Strukturfragen zu fixieren. Das geschaffene „Zentrum für Bürgerschaftliches Engagement“ – so lassen sich die jetzt gewachsenen Projekte zutreffend betiteln – ist sinnvoll und muss fester Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens in jeder Stadt werden. Als Teil eines zeitgemäßen Gesamtkonzepts einer Gesellschaft, die auch Dienstleistungsgesellschaft ist und in der Dienst von Menschen für und an Menschen einen bedeutenden und hoch angesehenen Platz einnimmt. Übrigens auch am Arbeitsmarkt.

Ansätze und mehr gibt es dazu überall. Die moderne soziale Stadt und der moderne Sozialstaat kommen da ohne überhaupt nicht aus. Sie stärken sich selbst, wenn sie das persönliche Engagement von Menschen für Menschen stärken. Durch die richtigen Rahmenbedingungen und eine hohe Anerkennung und Wertschätzung für die sozialen Dienste. Auch in finanzieller Hinsicht ist dieses Engagement notwendig: Der Staat alleine könnte all die Arbeit, die ehrenamtlich und freiwillig erbracht wird, die all das schafft, was für eine solidarische Gesellschaft notwendig ist – Zusammenhalt und Anerkennung, Zuversicht und Mut – nicht alleine schultern. Das klar zu erkennen und zu sagen, ist unverzichtbar. Denn die Leistungsfähigkeit von Sozialstaat und die Funktionsfähigkeit von sozialer Gesellschaft sind auch eine finanzielle Herausforderung.

Zwei Dinge vor allem sind jetzt nötig: Zum einen muss das Mitte 2005 begonnene Modell, das planmäßig 2008 ausläuft, mit einer Übergangsfinanzierung so fortgeführt werden, dass nirgendwo Projekte kollabieren und später erst mühsam reaktiviert werden müssen. Zum anderen ist im Kontakt mit allen Verantwortlichen dazu beizutragen, dass die Freiwilligendienste aller Generationen in jeder Kommune zu einer Selbstverständlichkeit werden. Sozialverbände und Kirchen, Vereine und gesellschaftliche Organisationen sind dabei gefragt. Auch die Wirtschaft am Ort muss ihrer gesellschaftlichen Verantwortung genügen (was teilweise schon geschieht).

Experimentiert wurde ausreichend, und zwar erfolgreich. Jetzt geht es primär um die Verbreiterung der Linie weit über die Modellprojekte hinaus. Hier kann nun die Grundlage geschaffen werden für ein soziales Netzwerk, das fähig ist, orientierend, fördernd, helfend, anregend, vorsorgend, Mut machend eine zeitgemäße verlässliche Anlaufstelle und ein Inspirator zu sein für eine Gesellschaft, die voller Veränderungen ist. Und voller Chancen.

Mit dem Sprudelkasten in den zweiten Stock

Es ist nicht selten der Transport des 12 Kilo schweren Sprudelkastens in den zweiten Stock, der mit über die Frage entscheidet, ob die alleinstehende ältere Dame sich in ihrer Wohnung weiter wohlfühlen und ob sie dort wohnen bleiben kann. Freiwilligendienste unterscheiden sich dabei vom klassischen Ehrenamt. Für einen verbindlichen Zeitraum sichern die Freiwilligen zu, ein bestimmtes Stundenkontingent pro Woche abzuleisten. Das erlaubt vernünftige Planung und sichert Kontinuität. Und wird in einem Vertrag festgehalten.

Das entspricht auch dem Koalitionsvertrag: „Deshalb werden wir neben der Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements die generationenübergreifenden Freiwilligendienste als Programm ausbauen, das Einsatzfelder für die Freiwilligen aller Generationen unter anderem in Schulen, Familien, Stadtteilzentren, stationären Einrichtungen und Hospizen eröffnet.“

Ob dieses Modell flächendeckend gelingt, ob das Zusammenspiel von Hauptamtlichen, Ehrenamtlichen und – generationenübergreifend – Freiwilligen gelingt, entscheidet sich auch an der gegenseitigen Wertschätzung. Ohne das Einüben dieses Zusammenspiels wird es nicht funktionieren. Und das wiederum braucht eine Kultur der gegenseitigen Anerkennung.

Die Haushalte als Auftraggeber

Unabhängig davon wird forciert zu prüfen sein, wie Haushalte stärker als bisher als Auftraggeber wirken können – auch um den Wildwuchs an Schwarzarbeit zu reduzieren und ein gesellschaftlich akzeptiertes und finanzierbares Gesamtkonzept auszubauen. Formen von Sozialer Arbeit und auch von Kommunal-Kombi sind eine sinnvolle Komplettierung.

Und die Zuwanderung ist arbeitsmarktadäquat zu steuern; der Weg vom vermeintlichen Gastarbeiterland zum tatsächlichen Einwanderungsland muss konsequent gegangen werden. Auch mit einer systematischen Integrationspolitik für die, die schon legal hier sind.

In diesem Gesamtkonzept von – im weitesten Sinne – gesellschaftlicher Arbeit haben die Freiwilligendienste aller Generationen eine wichtige Funktion. Sie bringen Nachfrage und Angebot passgenau und menschengerecht zueinander. Sie sind Hilfe in der Not und begeisternde Anregung. Sie sind ökonomisch sinnvoll, und das ist wichtig für die finanzielle Stabilität unseres Sozialstaates. Sie bedeuten Lebensqualität für Nehmende und Gebende. Und sie sind wegweisend für unseren Sozialstaat, in dem sich zukünftig mehr denn je die Generationen füreinander interessieren und im Engagement in Verbindung miteinander gebracht werden sollten.

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