Fortschritt passiert nicht, Fortschritt muss man machen

Natürlich haben die Ostdeutschen ihre eigenen Erfahrungen gemacht. Doch inzwischen liegt der Mauerfall zwei Jahrzehnte zurück. Und die Folgen von Globalisierung und digitaler Revolution treffen den Osten und den Westen gleichermaßen

Die friedliche Revolution in der DDR und die deutsche Einheit liegen nun schon 20 Jahre zurück. In diesen zwei Jahrzehnten wurde nicht nur das politische und ökonomische System grundlegend umgebaut. Auch das gesamte soziale und kulturelle Leben hat sich tiefgreifend verändert. Jede ostdeutsche Biografie war davon nachhaltig betroffen. Auf den großen Kraftakt Aufbau Ost können wir stolz sein. Denn trotz aller Probleme, so mancher Fehlentscheidungen und sozialen Umbrüchen waren wir erfolgreich. Viele ostdeutsche Regionen sind inzwischen Inseln der Innovation.

Sicher: Noch immer haben wir in Ostdeutschland an teilungsbedingten Problemen zu arbeiten. Ein Beispiel dafür sind die vielen gebrochenen Erwerbsbiografien, die für viele Menschen Altersarmut bedeuten werden, wenn wir nicht gegensteuern. Und die strukturell hohe Arbeitslosigkeit stellt nach wie vor eine große Herausforderung für Politik in Ostdeutschland dar. Der Solidarpakt hilft uns dabei, aber er schmilzt in den kommenden Jahren spürbar ab und läuft 2019 endgültig aus.

Kinderarmut muss man überall bekämpfen

Inzwischen ist eine neue Generation herangewachsen, die mit dem Mauerfall nur noch Erlebnisse ihrer Eltern und Großeltern verbindet, eine Generation, für die offene Grenzen, parlamentarische Demokratie und soziale Marktwirtschaft Selbstverständlichkeiten sind. Und wir müssen feststellen, dass die bestimmenden politischen Herausforderungen im Osten jenen im Westen Deutschlands sehr ähnlich sind. Kinderarmut muss man überall bekämpfen, ob in Hoyerswerda oder Hamburg. Gute Schulen brauchen wir in Stralsund wie in Stuttgart. Und eine gesunde Umwelt braucht es in Bitterfeld wie in Braunschweig. Der sozialdemokratische Auftrag gilt überall: Wir wollen, dass die starken Schultern für die Schwachen einstehen, und den Schwachen geholfen wird, stark zu werden.

Wir wären gut beraten, das vor 20 Jahren formulierte Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West kritisch zu hinterfragen. Dies bedeutet natürlich nicht, sich mit den existierenden Verhältnissen abzufinden. Aber wer käme schon auf die Idee, die Lebensverhältnisse auf der schwäbischen Alb an die in Berlin anzugleichen? Und so mancher Kommunalpolitiker einer Ruhrgebietsstadt würde gerne die Lebensverhältnisse in seiner Stadt an die Dresdens anpassen. Deutschland ist verschieden: Ost und West, Nord und Süd, Stadt und Land. Überall finden wir unterschiedliche historische Bedingungen, die wir auch heute noch spüren. Wirtschaft, Kultur und Mentalität können vielfältig sein. Und das ist auch gut so.

Die „Angleichung“ ist eine konservative Illusion

Eine Reduktion ostdeutscher Politik auf die Forderung nach Angleichung der Lebensverhältnisse taugt immer weniger. Die soziale Wirklichkeit ist vielschichtiger und komplexer geworden. Natürlich haben wir Ostdeutschen unsere eigenen Erfahrungen und unsere spezifischen Herausforderungen zu bewältigen – dies ist aber in anderen Regionen unseres Landes auch so.

Auch aus einem weiteren Grund hadere ich mit dem Begriff der Angleichung der Lebensverhältnisse: Er suggeriert, dass wir eines Tages „fertig“ sind und dann alles in ruhigen Bahnen laufen wird. Dies ist aber eine konservative Illusion. Von den Folgen von Globalisierung und digitaler Revolution sind Ost und West gleichermaßen betroffen. Der damit einhergehende Wandel schafft viele Chancen, bringt aber auch Verwerfungen und tiefe Verunsicherung mit sich. Die große politische Baustelle der Zukunft wird daher sein, den Wandel in all seinen Dimensionen zu begreifen und die Entschlossenheit aufzubringen, ihn aktiv zu gestalten.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben den Anspruch, auf der Höhe der Zeit zu sein. Dazu müssen wir wieder neu lernen, die Fragen zu stellen und zu beantworten, die die Menschen wirklich bewegen. Wir dürfen aber keinem vermeintlichen Zeitgeist hinterherjagen. Wir müssen Haltung zeigen und um Mehrheiten ringen. Die Menschen müssen uns glauben, dass die SPD den Mut, die Kraft und die Kompetenz dafür aufbringt, den Wandel zum Wohle aller zu gestalten. Gelingt uns das, haben wir gute Chancen, in Abgrenzung zur politischen Konkurrenz Alleinstellungsmerkmale zu entwickeln und zum Meinungsführer zu werden. Denn die Union begnügt sich damit, den Wandel über sich ergehen zu lassen. Sie hebt die Hände und ergibt sich scheinbaren Sachzwängen. Die Linkspartei hingegen kämpft gegen Windmühlen, wenn sie sich darauf beschränkt, Abwehrschlachten zu führen und die Illusion schürt, mit nationalstaatlichen Konzepten des vergangenen Jahrhunderts zurück in die Zukunft gehen zu können. Beides ist im Kern konservativ und hat mit Gestaltungskraft nichts zu tun. Fortschritt kommt nicht von allein, er geschieht nicht einfach. Fortschritt muss man machen.

Wie aus Ideen Arbeitsplätze werden

Die Richtschnur progressiver Politik sollte sein, die Menschen dazu zu befähigen, ihr Leben selbstbewusst und selbstbestimmt gestalten zu können. Die Voraussetzung hierfür ist ein starker und aktiver Staat, der dies als Partner an ihrer Seite möglich macht. So verstanden sind wir die moderne Gerechtigkeitspartei, die Sicherheit im Wandel bietet und Fortschritt für alle Menschen verspricht. In drei Profilfeldern sollte die SPD Ideen entwickeln und schlüssige Antworten auf drängende Fragen unserer Zeit geben: starke Familien in der modernen Gesellschaft, Beschäftigung und Wachstum der Zukunft sowie neue Freiheit und mehr Demokratie.

Konkret geht es für starke Familien um die Leitfragen, wie wir Familienleben, Arbeitswelt und Ehrenamt in eine bessere Balance bringen, Kinderarmut bekämpfen und jedem Kind unabhängig von sozialer Herkunft und Wohnort die besten Lebenschancen – vor allem durch Bildung – eröffnen können. Für Beschäftigung und Wachstum der Zukunft müssen wir uns fragen, wie wir aus neuen Ideen zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen, nachhaltiges Wachsen ermöglichen und faire Bedingungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schaffen können. Und im Profilfeld neue Freiheit und mehr Demokratie werden wir Antworten darauf geben müssen, wie wir die neuen Freiheiten durch Globalisierung und digitale Revolution für alle nutzbar machen, Emanzipation weiter fördern und die Menschen zur aktiven Mitgestaltung der Gesellschaft befähigen können. «

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