Fluchtursachen bekämpfen - aber richtig

Wenn wir verhindern wollen, dass immer mehr Flüchtlinge nach Europa und Deutschland drängen, müssen wir mit aller Kraft auf die Prävention von Gewalt und humanitären Krisen setzen

Flucht und Migration sind bestimmende Themen unserer Zeit. Migrationsfeindliche Stimmungen und Versprechen haben sowohl zur Brexit-Entscheidung als auch zu Donald Trumps Wahlsieg maßgeblich beigetragen. Nach dem Höhepunkt der Flüchtlingszuwanderung in Deutschland in der zweiten Jahreshälfte 2015 wurde eine Forderung immer lauter: Es müssen die Ursachen massenhafter Flucht bekämpft werden. Nicht wenige sehen bei dieser Aufgabe vor allem die Entwicklungspolitik herausgefordert. Bereits 2014 hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unter dem CSU-Minister Gerd Müller die Sonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen – Flüchtlinge reintegrieren“ ins Leben gerufen. Aber was kann und sollte Entwicklungspolitik eigentlich genau tun bei der „Fluchtursachenbekämpfung“ – und was nicht?

Dass die Entwicklungspolitik im Fokus steht, ergibt bereits Sinn, wenn man nur betrachtet, welche Weltregionen und Länder vor allem von Flucht und Vertreibung betroffen sind. Bei einem Blick auf die Statistiken des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sticht sofort ins Auge, dass besonders die Entwicklungs- und Schwellenländer Afrikas, Asiens und auch teilweise Lateinamerikas von der globalen Flüchtlingskrise betroffen sind. Dabei stammen nicht nur die allermeisten der 65 Millionen Menschen, die sich Ende 2015 auf der Flucht befanden, aus Entwicklungsländern, etwa aus Syrien, Afghanistan, Somalia oder Kolumbien. Etwa 86 Prozent der weltweit Geflüchteten halten sich auch in Ländern des globalen Südens wie der Türkei, Jordanien, Iran oder Äthiopien auf. Viele von ihnen haben als so genannte Binnenflüchtlinge noch nicht einmal die Grenzen des eigenen Herkunftslandes verlassen. Auch wenn bei vielen Deutschen der Eindruck entstanden ist, die halbe Welt habe sich auf den Weg nach Deutschland oder Europa gemacht, so ist die globale Flüchtlingskrise doch in erster Linie eine Krise der ärmeren Länder.

In der öffentlichen und politischen Debatte um die „Bekämpfung“ von Fluchtursachen wird selten tatsächlich zwischen Flucht und Migration unterschieden. Basierend auf der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 gilt als Flüchtling, wer in ein anderes Land flüchtet, weil er aufgrund seiner Rasse, Religion, politischen Überzeugung, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt wird. In einer über das enge Korsett des Völkerrechts hinausgehenden Definition kann man Flucht als eine Reaktion auf eine Bedrohung der physischen oder psychischen Integrität beschreiben. Diese Bedrohung wird vor allem durch bewaffnete Konflikte verursacht.

Mehr Gewalt, mehr Kriege, mehr Flüchtlinge

Der seit mehreren Jahren massive Zuwachs der weltweiten Flüchtlingszahlen steht in einem eindeutigen Zusammenhang mit einer größeren Intensität bewaffneter Konflikte. Obwohl die Anzahl der Kriege und Bürgerkriege zwischen 2008 und 2014 stetig abnahm, wuchs nach Angaben des Internationalen Instituts für strategische Studien im gleichen Zeitraum die Zahl der Menschen, die in bewaffneten Konflikten getötet wurden, um unglaubliche 320 Prozent. Neben Kriegen und Bürgerkriegen wird Flucht aber auch durch Terror, Repression, Hunger oder Naturkatastrophen verursacht. In Zukunft werden die Auswirkungen des Klimawandels Fluchtdynamiken wohl noch weiter verschärfen. Meist kommt es erst dann zu größeren Fluchtbewegungen, wenn mehrere Flucht- und Konfliktursachen zusammen auftreten.

Auch wenn eine eindeutige Abgrenzung zu Flucht in manchen Fällen schwierig ist, kann Migration im Allgemeinen als eine Strategie von Menschen verstanden werden, ihre Lebensbedingungen gezielt durch Wanderung zu verbessern. Natürlich kann auch Migration negative Folgen haben, etwa einen Braindrain, also den starken Verlust von Fachkräften in den Herkunftsländern, oder die „sozialen Kosten“ getrennter Familien. Denn Migration bedeutet heute oftmals nicht mehr den Wegzug ganzer Familien, sondern beschränkt sich häufig auf den Weggang von Individuen.

Diesen negativen Aspekten stehen aber auch viele positive Aspekte wie Wissenstransfers und vor allem Rücküberweisungen gegenüber. Die Geldsendungen von Migranten an ihre Familien in Entwicklungs- und Schwellenländern haben in ihrer Gesamtsumme bereits vor 20 Jahren die komplette internationale Entwicklungshilfe hinter sich gelassen. So wurden im Jahr 2015 nach Angaben der Weltbank etwa 432 Milliarden Dollar in die Länder des globalen Südens geschickt. Dies übertrifft das Gesamtvolumen internationaler Entwicklungszusammenarbeit um mehr als das Dreifache. Dabei fließt dieses Geld bei den Empfängern nicht einfach nur in den Konsum, sondern wird auch reinvestiert und für Bildungs- und Gesundheitszwecke genutzt.

Es ist also wenig überraschend, dass sich die zuvor eher negative Betrachtung von Migration in der Entwicklungspolitik innerhalb der vergangenen beiden Jahrzehnte stark gewandelt hat. Auch die Sustainable Development Goals, die 2015 die Millennium Development Goals als normativen Rahmen für internationale Entwicklungspolitik ablösten, erkennen explizit das Potenzial von Migration für nachhaltige Entwicklung an. Das Unterziel 10.7 fordert explizit eine „geordnete, sichere, reguläre und verantwortungsvolle Migration und Mobilität, unter anderem durch die Anwendung einer planvollen und gut gesteuerten Migrationspolitik“. In der deutschen und internationalen Entwicklungspolitik hat sich ein neues Aktionsfeld unter dem Label „Migration und Entwicklung“ etabliert, das sich der Einbindung von Diasporaorganisationen in die Entwicklungszusammenarbeit oder auch der sozialen Betreuung von Migrationsprozessen widmet. Kurzum, es wird im Sinne eines triple win versucht, positive Aspekte von Migration zu fördern und negative Aspekte abzumildern – zum Wohle sowohl der Migranten und ihrer Familien als auch der Herkunfts- und Zuzugsländer.

Europa wird weiterhin Einwanderer brauchen

Diese Sichtweise auf Migration gerät in jüngerer Zeit jedoch zunehmend unter Druck – durch entwicklungspolitische Maßnahmen, die unter dem Label der Fluchtursachenbekämpfung firmieren. Diese Maßnahmen haben bei Licht besehen meist nicht die Bekämpfung von Fluchtursachen, sondern die Abwehr von Migration zum Ziel. Deutsche und europäische Entwicklungsmaßnahmen wie etwa der milliardenschwere EU Emergency Trust Fund for Africa zielen nicht nur darauf ab, irreguläre Migration aus Afrika einzudämmen. Vielmehr werden Aspekte wie die Rücknahme abgelehnter Asylbewerber zu einer zentralen Bedingung der Entwicklungszusammenarbeit zwischen den Geber- und den Nehmerländern gemacht. Etablierte Standards und Kriterien der Entwicklungszusammenarbeit wie ownership und eine strikte Orientierung an den Bedürfnissen der Entwicklungsländer drohen dagegen über Bord geworfen zu werden.

Ohnehin ist der angedachte Wirkmechanismus, wonach mehr Hilfe für den afrikanischen Kontinent zu mehr Wirtschaftswachstum, weniger Armut und letztlich weniger Migration führt, durchaus zweifelhaft. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Entwicklungshilfe direkt zu mehr Entwicklung führt – was bezweifelt werden darf, solange nicht auch andere Rahmenbedingen etwa im Handel geändert werden –, so zeigt die Forschung seit längerem, dass dies den Wunsch der Menschen zu migrieren, eher erhöhen würde. Vor lauter vermeintlicher Fluchtursachenbekämpfung sollte man auf dem europäischen Kontinent auch nicht vergessen, dass Europas Bevölkerung vergleichsweise mäßig wächst und zunehmend älter wird, während die afrikanische Bevölkerung weiterhin kräftig wächst und auch in den nächsten Jahrzehnten im Durchschnitt sehr jung bleiben wird. Eine im Sinne des triple win gut gemanagte Zuwanderung wäre ein kluger Weg, sozio-ökonomische Vorteile für beide Erdteile zu schaffen.

Zur Einhegung tatsächlicher Fluchtursachen sollte Entwicklungspolitik langfristig vor allem auf die Prävention zukünftiger Krisen setzen. Wenn bevölkerungsreiche Staaten wie Ägypten oder Pakistan scheitern und in große Bürgerkriege schlittern sollten, dann wäre eine Eskalation der globalen Flüchtlingskrise das logische Ergebnis. Deshalb muss das Augenmerk der Geberländer darauf gerichtet werden, diese Länder nachhaltig zu stabilisieren. Natürlich gehört es dazu, Partnerländer bei Herausforderungen wie Armut, mangelhafter Infrastruktur, den Folgen des Klimawandels oder einer hohen Jugendarbeitslosigkeit zu unterstützen. Gerade in fragilen oder autoritären Staaten sowie Post-Konflikt-Situationen bedeutet dies aber auch, dass – trotz der großen Herausforderung – Maßnahmen der zivilen Krisenprävention und zur Förderung von besserer, demokratischer Regierungsführung ein Schwerpunkt der Entwicklungszusammenarbeit sein müssen. Denn wenn es in Staaten an demokratischer Teilhabe mangelt, können Konflikte sehr schnell eskalieren und neue Flüchtlingskrisen hervorrufen.

Kurzfristig muss Entwicklungszusammenarbeit dazu beitragen, Flüchtlingen in den Hauptaufnahmeländern eine bessere Lebensperspektive zu gewähren. Dies ist sicherlich nicht der Fall, wenn Menschen nur in Flüchtlingslagern „verwaltet“ werden. Die Förderung von Beschäftigung und gesellschaftlicher Teilhabe von Flüchtlingen unter besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse der „alteingesessenen“ Bevölkerung sind hier ganz wichtige Maßnahmen. Es stimmt einigermaßen positiv, dass die deutsche Entwicklungspolitik diese Dinge vor allem in den Nachbarstaaten Syriens aktiv vorantreibt.

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