Flotter Twen

Die Grünen geben sich ein neues Programm

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind eine junge Partei. Gerade einmal 21 Jahre ist es her, daß sich DIE GRÜNEN als "die Alternative zu den etablierten Parteien" (Grundsatzprogramm von 1980) gründeten. Manches hat sich im Wandel von der außerparlamentarischen Bewegung über die parlamentarische Kraft zur Regierungspartei auf Bundesebene geändert, eines jedoch nicht: Die Mandatsträger von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind weiterhin vergleichsweise jung. Renate Künast ist die jüngste Ministerin am Kabinettstisch von Bundeskanzler Schröder. Jürgen Trittin liegt nach Kurt Bodewig auf Platz 3 und auch Joschka Fischer gehört eher zu den jüngeren Semestern. Das gleiche Bild zeigt sich in der Bundestagsfraktion. Von den 47 Abgeordneten sind zehn unter 40 Jahre alt. Eine Quote, die schon jetzt prozentual deutlich über der von Franz Müntefering für die SPD Fraktion für 2002 ausgegeben Parole von "30 unter 40" liegt. Und auch die 39-jährige selbsternannte Inkarnation der Jugendkultur, Guido Westerwelle, wird - die Ablösung Wolfgang Gerhards vorausgesetzt - gerade mal sechs Jahre jünger sein als der derzeit jüngste Parteivorsitzende Fritz Kuhn.

Trotz dieser Zahlen hält sich in der Öffentlichkeit ein anderes Bild. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden als Partei mit Jugendproblem, als alternde Partei oder sogar als Ein-Generationen-Partei dargestellt. Nicht zu leugnen ist, daß der Anteil an jungen Wählern bei den letzten Wahlen zurück gegangen ist. Daraus den Schluß zu ziehen, die Partei überaltere, greift hingegen zu kurz. Er ließe sich allenfalls über die Dauer der Parteizugehörigkeit und nicht über das biografische Alter konstruieren. Doch auch diese Folgerung ist falsch. Zwar bestimmt die Gründergeneration die öffentliche Wahrnehmung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, aber schon längst sorgen Angehörige der zweiten grünen Generation für einen produktiven Generationenmix. Matthias Berninger wurde Anfang des Jahres zum jüngsten Parlamentarischen Staatssekretär, Klaus Müller ist Umweltminister in Schleswig-Holstein und Tarek Al-Wazir Fraktionsvorsitzender im Hessischen Landtag. Alle drei sind mit Ende Zwanzig in ihre heutigen Ämter gekommen und Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre den GRÜNEN beigetreten. Diese drei Beispiele für die Ergänzung der Gründergeneration durch eine zweite Generation sind nicht Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Im Gegenteil: Sie werden ergänzt durch zahlreiche junge Mitarbeiter auf allen Ebenen und getragen durch die Entwicklung der Mitgliedschaft von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. So sind beispielsweise im Landesverband Hessen 38 Prozent der Mitglieder unter 40 Jahre alt und mehr als die Hälfte nach 1989 eingetreten.

Weder biografisches noch Dienstalter können also den Vorwurf der Ein-Generationen-Partei begründen. Bleibt die Frage nach den Inhalten. Die oft gestellte Frage nach den neuen Themen der GRÜNEN ist in Wahrheit die Frage nach den neuen Themen der Politik. Es ehrt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mehr als es ihnen schadet, daß die Beantwortung dieser Frage primär von ihnen erwartet wird.

Der Wechsel von der Kriegsgeneration Helmut Kohls zur Nachkriegsgeneration Gerhard Schröders und Joschka Fischers war auch ein Agendawechsel für die deutsche Politik. Die Protagonisten der neuen sozialen Bewegungen und ihrer Ziele, die 1968 und in den Jahren danach ihren Ausgangspunkt hatten, wurden von Regierenden im Wartestand zu Bundeskanzler und Bundesministern. Daß für einige der Marsch durch die Institutionen zu einem langen Lauf zu sich selbst wurde, ist dabei weniger entscheidend als die Tatsache, daß sich mit ihrer Machtübernahme automatisch die Frage nach den neuen Themen der Politik und den neuen Regierenden im Wartestand stellt. Auch wenn es mit Sicherheit noch eher mehr denn weniger als eine weitere Legislaturperiode braucht, um den Stillstand der letzten schwarz-gelben Jahre aufzulösen, stellt sich schon jetzt die Frage nach der politischen Perspektive für die ersten beiden Dekaden des neuen Jahrhunderts. Die Opposition ist nicht in der Lage, diese Frage zu beantworten. Statt aus ihrer Niederlage von 1998 Lehren für die Zukunft zu ziehen, sucht sie ihr Heil in der Vergangenheit. Bei aller notwendigen Kritik an den 68ern: Die Mehrheit der Deutschen lebt lieber in der pluralistischen Gesellschaft des Jahres 2001 als in der formierten der 60er Jahre. Nicht wer 1968 mit Anfang zwanzig der einen oder anderen Übertreibung nachrannte, hat ein Problem, sondern wer 2001 das Rad der Geschichte zurück drehen und eine deutsche Leitkultur etablieren will.

Der Frage nach den neuen Themen der Politik stellen sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit der Debatte um ein neues Grundsatzprogramm. Die Zukunft der Arbeit, das Verhältnis von Ökonomie und Ökologie, die drohende Klimakatastrophe, die Sicherung der sozialen Systeme, aufkeimender Rassismus, die Spaltung der deutschen Gesellschaft in Ost und West, die Zukunft der Parteiendemokratie, die Folgen der Globalisierung für regionale Politik oder die Gleichstellung von Frauen sind Themen, die die gesellschaftliche Debatte bewegen.

Das erste Grundsatzprogramm von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stammt noch aus dem Gründungsjahr 1980 und kann daher weder den Wandel von einer Protest- zu einer Regierungspartei noch die Ergänzung der Gründer- durch die zweite grüne Generation widerspiegeln. Auch der mit der Vereinigung der GRÜNEN mit dem BÜNDNIS 90 fixierte Grundkonsens löste dieses Problem nicht. Gerade für eine junge Partei, deren Traditionen erst im Entstehen sind, ist es wichtig, daß der Blick für das übergeordnete Politikmodell nicht verloren geht.

Den offenen gesellschaftlichen Fragen und der eigenen Parteientwicklung sind BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine theoretische Debatte schuldig, die langfristige Entwicklungslinien aufzeigt und die eigene Wertorientierung in Konkurrenz zu den liberalen, sozialdemokratischen, konservativen und sozialistischen Geisteshaltungen ausbaut und weiterentwickelt. Das Grundsatzprogramm soll diese Schuld einlösen. Ziel ist ein Bild von der Gesellschaft, in der wir leben wollen. Das Grundsatzprogramm wird die Meßlatte sein, die an die alltägliche Politik angelegt eine Ziel- und Positionsbestimmung ermöglicht.

Insbesondere die jungen Parteimitglieder werden dabei auf eine Stärke setzen, die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu einer eigenständigen politischen Kraft hat werden lassen: das Denken in großen politischen Zusammenhängen und die Berücksichtigung der Interessen kommender Generationen. Neben der ökologischen Herausforderung wird in den nächsten zwanzig Jahren die demografische Entwicklung unsere Gesellschaft vor neue Aufgaben stellen. Die nach 1970 Geborenen sind die erste Generation, die voll von der Wucht dieser Veränderungen betroffen sein werden. Das Ungleichgewicht zwischen Jung und Alt wird zu einem zunehmend wichtigen Thema werden. Die Debatten um Haushaltskonsolidierung und Rentenreform haben nur einen Vorgeschmack auf die Auseinandersetzungen der Zukunft gegeben. Weniger als zwei Arbeitnehmer werden im Jahr 2020 genug erwirtschaften müssen, um einem älteren Mitbürger eine ausreichende soziale Absicherung zu geben, selbst über die Runden zu kommen und womöglich noch eigene Kinder zu versorgen. Eine Aufgabe der Grundsatzdebatte von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist es, die Auswirkungen dieses Alterungsprozesses auf alle gesellschaftlichen Bereiche zu identifizieren und wirksame Antworten darauf zu formulieren.

Im Herbst 2001 soll das neue Grundsatzprogramm auf einem Bundesparteitag beraten und beschlossen werden, und schon jetzt sind junge Parteimitglieder aktiv an der Gestaltung beteiligt. Unter der Überschrift Der junge Blick - Wie 2020 leben? hat ein Redaktionsteam unter der Federführung des Bundesvorstandsmitglieds Niombo Lomba junge Parteimitglieder und Externe gebeten, ihre Erwartungen und Vorstellungen für die Politik von morgen aufzuschreiben. Die Texte werden im Frühjahr als Buch erscheinen.

Es tut sich also einiges bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in punkto Jugend. Durch die Wahl des neuen Bundesvorstands ist auch nach außen die neue Kraft der GRÜNEN deutlich geworden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind gut aufgestellt. Alles in allem ist die Partei kein Ein-Generationen-Projekt, sondern ein flotter Twen, der noch vieles vor hat.

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