Flickt die Preußenfetzen!

Brandenburgs Sozialminister Alwin Ziel hat die politische Bühne verlassen. Sein Lieblingsthema aber wird bleiben. Zu Recht, meint ANSGAR OSWALD

Es war der letzte große Auftritt der journalistischen Generation Golf. Unter Anleitung ihres Stichwortgebers Florian Illies plädierte die Frankfurter Allgemeine dafür, dem irgendwann einmal aus den zu fusionierenden Ländern Brandenburg und Berlin entstehende neue Bundesland den Namen Preußen zu geben. Den Anstoß hatte Brandenburgs ehemaliger Sozial- und früherer Innenminister Alwin Ziel gegeben. Dessen Vorschlag traf den Nerv deutscher Nachkriegsempfindlichkeit. Historiker meldeten sich zu Wort - und natürlich die Kommentatoren und Essayisten der Zeitungen. Lapidar stellte die FAZ fest: "Die Debatte löst eine Selbstvergewisserung der Berliner Republik aus." In der Tat.


Die Zeit witterte sogleichwieder deutschtümelnd Finsteres hinter den Zeilen der unverdächtigen FAZ-Autoren. Gravitätisch mahnte ihr Herausgeber Michael Naumann, "nicht bei jeder Gelegenheit die Geschichtstruhe zu öffnen und im Wahljahr keine nationalen Emotionen zu wecken". Doch um Emotionen geht es gerade, schon weil unser Alltag davon durchdrungen ist (was, nebenbei bemerkt, nicht zuletzt die Medien selbst bewerkstelligen). Und es geht auch darum, die Geschichtstruhe zu öffnen und Preußen endlich mit der Gegenwart zu konfrontieren. Denn gerade das ist mit Preußen seit 1945 nicht geschehen. Nicht in der Bundesrepublik. Preußen war qua Beschluß des Alliierten Kontrollrats von 1947 politisch abgeschafft "durch Bundesländer aus Preußenfetzen", wie es Rudolf Walter Leonhardt 1961 in seinem Buch X-Mal Deutschland formulierte.


Intellektuell hingegen war Preußen allgegenwärtig. Entrückt der politischen Wirklichkeit, Spielball der Widersprüche, markiert von "Vergangenheitsbewältigung" und "Erinnerungskultur", von "Geschichtsentsorgung" und "Verdrängungsarbeit". "Kein europäischer Nachbar quält seine Sprache mit so seltsamen Begriffen", mokierte sich Michael Naumann in der Zeit. Wie wahr.


Für die Erinnerungskultur war Wolf Jobst Siedler zuständig, der darauf den Erfolg seines Verlages gründete. Mit jedem neuen Buch entrückte der Kulturkritiker Preußen weiter und erledigte mit dessen Idealisierung jede Menge "Verdrängungsarbeit" gleich mit. Ein emotionsgeladenes Thema war Preußen allenfalls, wenn die Generation der 68er-Studenten ihren Vätern wieder einmal Rechenschaft über ihr Tun und Lassen zur Zeit des Nationalsozialismus abverlangten. Im Übrigen war es ein Terminus für das im Schutz der föderalen Stiftung Preußischer Kulturbesitz musealisierte Gute und Schöne - vom Porzellan bis zur Architektur.


Ganz anders dagegen in der DDR, die nach einer Phase proletarischer Bilderstürmerei den Nutzen von Preußens staatstragende Tugendkanon entdeckte und sich für ihren "sozialistischen Patriotismus" dienstbar machte: "Das Interesse an Preußen, das sich auf verschiedenen Ebenen unter den Fittichen der Staatsmacht äußerte, war weder flüchtige Laune noch modische Nostalgie", hat der Historiker Jens Flemming über den Umgang der SED mit dem preußischen Erbe geschrieben. Die DDR war mit ihrem Parteiabsolutismus in ihrem gesamten Habitus bis hinein in die Traditionspflege in jeder Hinsicht der gesellschaftliche Neuinterpret des autoritären Preußengeistes.


Die Bundesrepublik war nur dem Wort des Grundgesetzes nach Sachverwalter des aufgelösten Deutschen Reiches; die DDR hat diese Anwaltschaft ideologisch ausgeschlachtet und politisch reklamiert. Was auch sonst nicht wundert: "Wer Berlin zur neuen Hauptstadt macht, schafft geistig ein neues Preußen", wusste Konrad Adenauer. Und Berlin war Hauptstadt, politische Mitte des Staatszentralismus der DDR. Es hat damit seine Hauptstadt-Funktion seit 1871 nie mehr abgetreten. Dass Berlin nun wieder Kapitale eines vereinten Deutschland ist, bedeutet für die Ostdeutschen Kontinuität, für die Westdeutschen einen Bruch der Geschichte. Die Bundesrepublik kam auf das DDR-Territorium und, nicht umgekehrt.


Eingedenk des Wortes Adenauer wird sich diese Bundesrepublik nun mit Preußen befassen müssen. Und sie tut es - seit 1991: Mit der Umbettung der Gebeine der Hohenzollernregenten Friedrich Wilhelm I., dem Soldatenkönig, und Friedrich II., dem Künstler, Krieger und Philosophen, nach Potsdam. Im Jahr 1993 beging man das tausendjährige Jubiläum Potsdams, das in Deutschland wie sonst nur noch Weimar nicht einfach nur eine Stadt wie andere auch ist, sondern Symbol für eine Sache - in diesem Fall architektonischer Ausdruck für den Geist einer Staatsidee. 2001 folgte schließlich das 300-jährige Preußenjubläum. Und über alledem liegt das Gezeter um die historisierende Rekonstruktion des Schlosses in Berlin sowie in Potsdam gleich der gesamten Altstadt mit ihrem herrschaftlichen Architekturband. Auch als Touristenattraktion kehrt Preußen zurück und füllt die Läden mit Devotionalien und Reproduktionen alter Stadt- und Staatslandkarten bis hin zu Büsten des "Alten Fritz".


Ein Zwang zu einer Neudefinition deutscher Identität ergibt sich aus alldem nicht. Sie hat sich schon durch den Aufeinanderprall zweier unterschiedlicher Gesellschaften verändert. Ist auch die Demokratietradition der Bundesrepublik längst selbst zu einer guten und bewährten Staatsidee geworden, so ist Demokratie aber wiederum keine statische Veranstaltung, sondern stets im Wandel. Umso mehr ist die Selbstvergewisserung in der Vergangenheit für ein demokratisches Gemeinwesen legitim. Das hat jüngst der Heidelberger Archäologe Tonio Hölscher anlässlich der Ausstellung über die griechische Klassik im Martin-Gropius-Bau mit Hinweis auf die Athener Stadtrepublik wieder in Erinnerung gerufen. Indes ist der Mangel an emotionalen Identitätsklammern ein Kennzeichen der deutschen Demokratie.


Ist auch Alwin Ziel in Pension gegangen, sein Thema selbst wird die Tagesordnung und die Feuilletons erneut erreichen. Das liegt an der Aktualität des Ansinnens von Ziel: "Mir ist in erster Linie darum zu tun, das Projekt eines gemeinsamen Landes Berlin-Brandenburg voranzubringen", hat er erklärt. Ein Projekt, das an provinziellem Gezerre und dem Misstrauen der Bevölkerung abermals zu scheitern droht. Gegenstand des Misstrauens ist Berlin selbst, zu dessen Gunsten der Rest der DDR Republik zu realsozialistischen Zeiten darben musste, als es noch darum ging, in der Hauptstadt, den Nachweis für die Überlegenheit des Sozialismus zu erbringen. Berlin war Frontstadt und die DDR irgendwie immer Umland. In Berlin herrschte - für DDR-Verhältnisse - Überfluss. So was prägt sich ein. Und auch dreizehn Jahre nach der Wende ist die Sogwirkung des Stadtstaates Berlin auf sein Umland größer als die Furcht berechtigt wäre, von einem so genannten Bundesland Preußen könne ein neuer Revanchismus ausgehen. Den Sinn eines weiteren Bindestrich-Bundeslandes Berlin-Brandenburg will keiner außer den Politikern erkennen.


Der Name Preußen dagegen wäre berechtigt, weil die Konstruktion Preußens von Brandenburg ihren Ausgang nahm. Er wäre staatsrechtlich völlig unverfänglich, weil Preußen historisch mehr auf einer Idee als auf einem geschlossenen Terri-torium beruhte. Und er wäre geeignet, die Reflexe provinzieller Zänkerei zu neutralisieren. Aber die Debatte zeigt deutlich auch die vertane Chance der Neugliederung der Bundesländer. War in der Bonner Republik des Wirtschaftswunder eine möglichst große Kleinstaaterei sinnvoll, so ist sie es heute jedenfalls nicht mehr. Im Streit um den Länderfinanzausgleich finden sich die Länder auf dem Gebiet der DDR ausschließlich als Mittellose auf der Nehmerseite. Eine Lage, in der zusehends auch die Kleinstaaten der alten Bundesrepublik stecken.


Viele schwache, vom Bund abhängige Länder sind kein Garant mehr für den Föderalismus. Die Gefahr besteht, dass das föderative Prinzip sich selbst ad absurdum führt. Der ostdeutsche Historiker Karlheinz Blaschke plädierte deshalb bereits 1990 dringend für eine Ordnung der neuen Bundesländer, die deren politisch-administrative und wirtschaftliche Existenzfähigkeit sicherstellen sollte. Also maximal vier Bundesländer zwischen Elbe und Oder. Sachsen-Anhalt, das künstliche Interimskonstrukt der Nachkriegszeit, kam da gar nicht erst vor. Doch vorerst war der Drang, landsmannschaftliche Gefühle in staatlichen Konstruktionen abzubilden, größer als die politische Vernunft - eine Entscheidung, die sich längst als fatal herausstellt.


Ein Bundesland Preußen wäre daher die Chance, einen Staat aus der Geschichtsvitrine in den Alltag zurückzuholen und damit begrifflich zu entmythologisieren. Es wäre zugleich dazu geeignet, landsmannschaftliche Gefühle und rationale Notwendigkeit auf sinnvolle Weise miteinander zu verknüpfen und von Ostdeutschland aus eine Neuordnung der Bundesrepublik zu beginnen, die mit starken Ländern den föderalstaatlichen Dualismus für die Zukunft sichert. Anderenfalls könnte die Zentralisierung bestimmter Aufgaben, wie sie sich auf dem Gebiet der Kultur und im Bildungswesen bereits deutlich abzeichnet, zu Lasten der Länder bedenklich voranschreiten. Ein solcher Zentralismus wäre dann allerdings nicht das Resultat neuen Preußentums, sondern dem Versagen der föderalen Ordnung zuzuschreiben.

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