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zu Tamar Amar-Dahl, Israels Krise ist Israels Chance, Berliner Republik 4/2011

Eigentlich sind die Forderungen der neuen israelischen Pro­test­bewegung so alt wie die der sozialdemokratischen Bewegung in Europa: erschwingliche Mieten, bezahlbare Lebensmittel, ausreichende Entlohnung – eine Chance auf Glück und Wohlstand. Dennoch sind die Mitglieder der linken Parteien, die sich den Protesten angeschlossen haben, unter den Demonstranten nicht gern gesehen. Weil die Protestierenden ihnen die Mit­schuld an der Misere geben, werden Parteien zwar geduldet, aber von der Organisation, der Pressearbeit und den Reden ausgeschlossen. Das berichteten mir Mitglieder der linken Parteien Meretz und Labor bei einem Besuch in Israel. Ihre Analyse: Die Demonstrationen seien „unpolitisch“.

Somit stellt sich in Tel Aviv die gleiche Frage wie in Madrid, London, Washington und Berlin: Wie gelingt es, die Energie der Demonstranten zu kanalisieren? Wie können sie ein Gewinn für linke Parteien werden? Und wie können wir ihnen vermitteln, dass ihre Forderungen auch unsere sind? Einer der Orga­nisatoren der israelischen Proteste ist Oren Pasternack. Im vergangenen Jahr trat er aus der Labor Partei aus, weil ihm die Lage seiner Partei zu aussichtslos erschien. Wie viele andere Jugend­liche hat er seine Ansichten während der Proteste deutlich nach links verschoben. Heute ist er, prototypisch für die meisten Aktivisten, politisch heimatlos. Er sagt, es sei gar nicht notwendig, die Bewegung in das etablierte Parteiensystem zu überführen – Erfolgsaussichten dafür gebe es ohnehin nicht.

Theoretisch käme als Sprachrohr der Protestbewegung Meretz in Frage. Diese Partei kommt der SPD wohl am nächsten, was ihre Werte betrifft, befindet sich allerdings in einer desaströsen Lage. In erster Linie mangelt es an Geld. Es gibt so gut wie keine hauptamtlichen Mitarbeiter. Die Parteizentrale befindet sich in einem heruntergekommenen Haus in Tel Aviv, wo man sich das Bad mit den benachbarten Mietern teilt. Die Mitglieder sind sehr engagiert, aber es fehlt die Infrastruktur, um die Protestbewegung systematisch anzusprechen und aufzufangen.

Und da sind die Vorbehalte. Nimrod Barnea, Mitglied im Vorstand von Meretz, drückt es so aus: „Die Forderungen der Demonstranten sind in vieler Hinsicht abstrakt. Um sie verwirklichen zu können, müssen sie durch den Filter des politischen Systems, müssen ihre Wünsche übersetzt werden. Es ist absurd, dass die Menschen den Zusammenhang zwischen Wahl­ver­halten und ihrer sozialen Lebenswirklichkeit immer noch nicht erkannt haben.“ Manchen Parteimitgliedern erscheinen die De­monstranten wie Kinder, die zwar ihre Unzufriedenheit ausdrücken können, aber kaum Ideen für Lösungsansätze haben.

Um auf die Unterschiede zwischen rechten und linken Par­teien aufmerksam zu machen, hat Meretz mehrere Kam­pagnen gestartet. „Gebt uns den Sozialstaat zurück“ heißt eine davon. Gerade erst hat die Partei einen Antrag in der Knesset gestellt, soziale Rechte ins Grundgesetz aufzunehmen, der Ende Okto­ber erwartungsgemäß abgelehnt wurde. Aber die Kam­pagnen haben eine gewisse Wirkung: Die Anzahl der Mitglieder und Aktivisten in Labor und Meretz sind gestiegen.

Wie Tamar Amar-Dahl in der vergangenen Ausgabe der Berliner Republik eindringlich beschrieben hat, ist Armut in Israel weit verbreitet – vor allem unter Einwanderern, Arabern und der Landbevölkerung. Ein Beispiel: Der durchschnittliche Stundenlohn eines Arabers liegt laut israelischem Statistikamt bei 5 Euro, ein Israeli verdient im Schnitt 8 Euro pro Stunde. Nun wacht die Mittelschicht plötzlich auf und stellt fest, dass in ihrem Land seit gut 25 Jahren neoliberale Politik betrieben wird. Die Bevölkerung, die Politik und die Medien sorgten sich so sehr um die blanke Existenz ihres Staates, dass die Sozialpolitik ein Randthema war. Ein junger Journalist, der sich wie viele andere als „unpolitisch“ beschreibt, erzählte mir, er schäme sich für seine bisherige Ignoranz. Dann wollte er von mir wissen, welche wirtschaftspolitischen Bücher er lesen soll, um mehr über den Sozialstaat zu erfahren.

Inzwischen hat die Bevölkerung allen Grund zu Ärger und Protest: Die Studiengebühren sind kaum bezahlbar; viele Studenten leben bei ihren Eltern, weil die Mieten zu hoch sind. Ein Liter Milch kostet 1,30 Euro, selbst in Studenten­knei­pen kostet ein Bier 4 Euro. Deshalb müssen fast alle Stu­die­renden arbeiten gehen – nicht wie in Deutschland für ein paar Stunden am Abend, sondern 30 oder 40 Stunden in der Woche. Junge Eltern haben kaum Möglichkeiten, ihre Kinder betreuen zu lassen. Ein Platz in den kommerziellen Kinder­gärten kostet 800 Euro monatlich, ein staatliches System gibt es nicht. Rentner sind auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen. Die staatliche Rente beträgt gerade mal 16 Prozent des letzten Einkommens, während die privaten Pensionsfonds von den Folgen der Finanzkrise bedroht werden, besonders wenn sie weltweit investiert haben.

Dennoch verzeichnen die linken Parteien in Umfragen nur leichte Zuwächse. Und das, obwohl die Umfragewerte häufig deutlich besser sind als die tatsächlichen Wahlergebnisse. Erschwerend kommt hinzu: Die Stimmen wandern nicht von rechts nach links, sondern von der Mitte nach links,  so dass es nach jetzigem Stand keine Mehrheit für eine Mitte-links-Regierung gäbe.

Mit dem Gefangenenaustausch für den Soldaten Gilat Shalit ist es Benjamin Netanjahu gelungen, die Sympathien wieder auf seine Seite zu ziehen. In den Medien steht ein möglicher Krieg gegen den Iran im Mittelpunkt. Daher besteht die Gefahr, dass die Protestbewegung im Sande verläuft. Zwar bildete die Regierung eine sozialpolitische Kommission unter Vorsitz von Manuel Trachtenberg, dem Vorsitzenden des Wissenschaftsrates. Doch was sie beschloss, war Makulatur. Die kosmetischen Korrektur­vorschläge wurden allerdings gut beworben – das Marketing­budget der Kommission war höher als das aller anderen Kommis­sionen. Die meisten Vor­schlä­ge werden die Knesset ohnehin nicht passieren, weil die rechten Parteien Widerstand leisten.

Die Protestzelte am Rothschild Boulevard sind abgebaut. Jetzt stehen die Unzufriedenen vor der weit größeren Aufgabe: Ihren Protest am Leben zu halten und tatsächlichen Einfluss auf die Sozial- und Wirtschaftspolitik zu nehmen. Dazu werden sie die linken Parteien brauchen. Nimrod Barnea sieht die Zukunft eher pessimistisch: „Im Zelt zu wohnen und bunte Schilder zu malen ist schön und wichtig, aber die eigentliche Aufgabe ist die Umverteilung von Reichtum in unserer Gesellschaft. Eine Sisyphusaufgabe. Festivals come cheap. And reality sucks.“ «

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