Europas große Einigungskrise?

Die Finanzkrise hat den Machtkampf zwischen Staat und Markt wiederbelebt. Wirksame Krisenbewältigung könnte zur politischen Union Europas führen und Kapitalakteure unter demokratische Kontrolle bringen

Was ist das, was wir seit gut zwei Jahren erleben und unter den Stichworten Finanz-, Wirtschafts- und Euro-Krise abhandeln: eine Episode, die in wenigen Jahren vergessen sein wird, oder ein historischer Einschnitt, über den wir noch in Jahrzehnten reden werden? Aus der Perspektive des Zeitgenossen, der die Ereignisse Tag für Tag der Zeitung entnimmt und versucht, sich einen Reim darauf zu machen, sind diese Fragen eigentlich kaum zu beantworten. Wer in einem Zug sitzt, der durch die Landschaft rast, tut sich leichter, seine Position relativ zum Zug zu bestimmen als die Position des Zuges relativ zum Land. Dennoch, das Gefühl ist da, dass hier Großes in Bewegung gekommen sein könnte. Das Gefühl bezieht sich auf zwei zusammenhängende, aber abgrenzbare Bereiche: zum einen auf das Kräfteverhältnis von Staaten und Märkten, zum anderen auf das unvollendete Projekt der europäischen Einigung.

Das Verhältnis von politischer und wirtschaftlicher Macht ist kein neues Thema. Aber die Finanz- und Wirtschaftskrise schlägt ein neues Kapitel auf. Nachdem der Staat über Jahre hinweg auf dem Rückzug zu sein schien vor den Kräften der Globalisierung, Deregulierung und Privatisierung, war in der Krise zunächst ein Wiedererstarken des Staates zu beobachten. Schließlich war es der Staat – der amerikanische, der deutsche, der britische –, der als einziger in der Lage war, die taumelnden Giganten der Finanz-, Versicherungs- und Automobil-Industrie zu retten. Aber die berechtigte Frage, ob dies tatsächlich ein Sieg des Staates war, ließ nicht lange auf sich warten. War es nicht eher seine ultimative Niederlage, dass die Unternehmen ihre Rettung mittels Steuergeldern erzwingen konnten? Too big to fail – Bundeskanzlerin Merkel selbst hat in diesem Zusammenhang vom „Erpressungspotenzial“ einzelner Akteure gesprochen.

Mit dem Hinweis auf einzelne Akteure war sie auf der richtigen Spur, einer Spur, die sich im Dickicht der allgemeinen Diskussion immer dort verliert, wo kritisch, aber abstrakt auf „die Märkte“ verwiesen wird. So bekennt zwar der Präsident der Deutschen Bundesbank in der öffentlichen Anhörung zur so genannten Euro-Rettung, er sei „selbst über die Tatsache bestürzt“, dass er zum dritten Mal nach dem Bankenrettungsprogramm und der Griechenland-Hilfe in den Deutschen Bundestag geladen sei und Bundestag und Bundesrat innerhalb einer Woche Beschlüsse fassen müssten. Er zeigt Verständnis, wenn der Eindruck entstehe, „dass man Getriebener der Märkte und nicht mehr Handelnder“ sei. Aber die Märkte bleiben abstrakt und anonym. Dabei ist es ein Unterschied, ob man nass wird, weil es regnet – oder weil der Nachbar den Gartenschlauch herüber hält.

„Die Märkte“ gibt es gar nicht

Nun weiß jeder halbwegs ordentliche Ökonom und daher sicher auch der Volkswirtschaftsprofessor Axel Weber, dass „die Märkte“ gar nicht existieren, sondern dass es sich dabei um von Menschenhand gemachte Institutionen handelt, die nur deswegen weiter bestehen, weil genug Menschen an sie glauben und durch ständige Wiederholung bestimmter Handlungen am Leben erhalten. Das Eigenleben, das die Märkte führen, ist nur geborgt. Wir verlängern es täglich aus unterschiedlichen Motiven: Nützlichkeitserwägungen, Eigeninteresse, politischer Überzeugung oder intellektueller Bequemlichkeit. Dabei verhalten wir uns den Märkten gegenüber so rational wie die alten Griechen gegenüber ihren Göttern: Wir opfern alles Mögliche auf ihrem Altar, in der Hoffnung, sie zu besänftigen und wohlgesonnen zu stimmen. Wenn es zwei Wochen später doch wieder regnet, grübeln wir darüber, ob wir zwei zusätzliche Lämmer darbieten oder die Rettungspakete anderweitig ausweiten sollen – anstatt mal nachzusehen, wer uns da immer wieder nass macht.

Denn die Märkte sind nicht anonym. Die organisierten Gruppen von Personen, die hinter den „Erwartungen der Märkte“ stehen, lassen sich benennen. Da gibt es die „institutionellen Investoren“, also die Rating-Agenturen, Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, internationalen Großkanzleien, Großbanken und Großkonzerne. Deren Vorstände, Partner, Inhaber und wichtigsten Anteilseigner sind bekannt. Ihre Interessen auch.

Insofern sind Versuche zur Krisenbewältigung auch Machtkämpfe verschiedener institutioneller Akteure mit unterschiedlichen Interessen – den demokratisch gewählten Parlamenten und Regierungen einerseits und den internationalen Partnerschaften des Kapitals andererseits. Wir Bürger landen auf der Seite der Verlierer, wenn wir die Kämpfe nicht als solche erkennen und annehmen.

Simon Johnson, der 2007 und 2008 dem Internationalen Währungsfonds (IWF) als Chefökonom diente, hat bereits im Jahr 2009 den „stillen Coup“ beschrieben, mit dem sich die Finanzindustrie über Jahre hinweg die Regierungen in Washington Untertan gemacht habe. Ihr größter Trumpf war ihre angebliche Unersetzlichkeit. Während zu anderen Zeiten oder in anderen Gesellschaften derjenige über Macht verfügte oder verfügt, der Söldner finanzieren oder dicke Umschläge mit Bargeld überreichen konnte, ist das größte Kapital der modernen Finanzindustrie ideeller Art: unser nahezu unerschütterlicher Glaube an ihre Bedeutung für unseren Anteil am Wohlstandskuchen. (Wobei die über eine Milliarde Dollar auch nicht zu verachten ist, die die amerikanische Finanzindustrie zwischen den Jahren 1999 und 2008 indirekt an Wahlkampfspenden geleistet hat.)

Wie weit die Macht der Finanzindustrie, ihrer Helfer und Partner weltweit reicht, lässt sich daran ablesen, wie sehr sie selbst im Moment ihres Scheiterns die Regeln des Spiels diktiert. Während der Bankenrettung muss mancher Abgeordneter das Gefühl gewonnen haben, dass er weniger zu sagen hat als ein Rechnungsprüfer, der an der Festlegung der International Financial Reporting Standards mitwirkt. In der aktuellen Staatsschulden- und Eurokrise hängen Wohl und Wehe ganzer Volkswirtschaften (nach vielen eigenen Fehlern) maßgeblich davon ab, wie sie von genau jenen Rating-Agenturen bewertet werden, die jahrelang Schrott zu Gold erklärt haben.

Erwächst aus der Krise die Gemeinschaft?

Die Macht des Staates ist ausgehöhlt. Ähnlich wie in Gesellschaften, derer sich die organisierte Kriminalität bemächtigt hat, laufen zentrale Entscheidungsstränge und Geldströme an den öffentlichen Foren vorbei. Man muss weder Verschwörungstheoretiker noch staatsgläubig, sondern nur Demokrat sein, um das beunruhigend zu finden. Die Reise wird nur dann in eine andere Richtung gehen, wenn wir als Gesellschaft die Kraft aufbringen, die Weichen anders zu stellen. Paradoxerweise könnte dies gerade auf der Ebene geschehen, die sonst immer als demokratisch defizitär angesehen wird: die europäische Ebene.

In ihren wechselnden Konfigurationen als Finanz-, Wirtschafts-, Staatschulden- und Währungskrise berührt die Krise nicht nur das Verhältnis von Staat und Markt in Europa, sondern auch das der europäischen Staaten zueinander. Die Krise hat die Kraft, Europa zu verändern. Ein schleichender Prozess des Scheiterns, erst der europäischen Währung und dann der Union, scheint ebenso wenig auszuschließen wie die Wende hin zu einer engeren, wahrhaft politischen Gemeinschaft. In diesem Fall übernähme die Krise jene historische Funktion, die in der bisherigen Geschichte des Kontinents so oft den Kriegen vorbehalten war, und könnte als große europäische Einigungskrise in die Geschichte eingehen.

Die Perspektive der handelnden Akteure ist zwangsläufig meist eine andere. Sie ist auf kürzere Zeithorizonte und pragmatische Fragen gerichtet. Bei den vielen Krisen-Gipfeln, „task forces“ und Sitzungen von EU-Ministerräten, nationalen Kabinetten und Parlamenten geht es zwar häufig um sehr, sehr viel Geld, aber wie viel wirklich auf dem Spiel steht, bleibt oft ungesagt. Im Vordergrund stehen technische Details: Gesellschafts- und Darlehensverträge für Rettungsschirme, Berechnungen von Zins- und Tilgungssätzen, Besicherungen von Anleihen, Refinanzierungskalender. Wer will sich da schon melden und eine Grundsatzdebatte über die europäische Identität und Solidarität anfangen? Niemand außer – ab und zu – Finanzminister Wolfgang Schäuble, den das Thema seit Jahrzehnten interessiert.

Vom Witz zum Glücksfall

Gleichwohl entscheiden die vielen kleinen Entscheidungen, die hier in einem Ministerrat und dort in einer Zweckgesellschaft getroffen werden, welchen Weg die Europäische Union nehmen wird. Niemand muss einen „Master-Plan“ vorlegen oder einen Verfassungskonvent einberufen – und doch könnte die politische Union auf uns kommen. Formen der menschlichen Zusammenarbeit bilden sich, wie Marx gelehrt hat, „gleichsam hinter dem Rücken der handelnden Personen“ heraus und verfestigen sich. Sollte dies  hier passieren, müssen das Intercreditor Agreement für das Darlehen an Griechenland und der Gesellschaftsvertrag der European Financial Stability Facility (EFSF) eines Tages wohl in einem Atemzug mit den Römischen Verträgen und dem Vertrag von Maastricht genannt werden, wenn man die Geschichte Europas erzählt. Denn seitdem sie mit diesen Verträgen die No-bailout-Klausel de facto hinter sich gelassen haben, stehen die Euro-Staaten füreinander ein wie nie zuvor. Der erste Euro-Bond könnte dann zum eigentlichen Gründungsdokument der politischen Union Europas werden.

Dann würde sich eine Sentenz bewahrheiten, die mir aus meinem Auslandsstudium in Paris Mitte der neunziger Jahre in den Ohren klingt. Lange bevor der Euro als Bargeld in Umlauf kam, argumentierten die französischen Dozenten: „Monnaie, c’est budget. Et budget, c’est politique.“ – „Währung ist Haushalt. Und Haushalt ist Politik.“ Für die etatistischer gesinnten Franzosen lag schon damals auf der Hand, dass eine Währungsunion über Zeit die politische Union erzwingen oder zu gravierenden politischen Problemen führen müsste – und zwar über den Druck, den Währungsfragen auf den Haushalt der Nationalstaaten ausüben.

Es wäre ein weiterer Treppenwitz der europäischen Geschichte, wenn nach einem gescheiterten Verfassungsprozess die engere politische Union als Nebenprodukt der Krisenbewältigungsversuche entstünde. Der Witz könnte sich aber als Glücksfall der Geschichte erweisen: Denn nur im Rahmen einer stärkeren europäischen Union kann gelingen, was neben der oberflächlichen Krisenbereinigung grundsätzlich aus Gerechtigkeitsgründen erforderlich ist – die Wiedererlangung der demokratischen Kontrolle über die Märkte.

Karl Polanyi hat 1944 sein Buch The Great Transformation veröffentlicht, das heute auf unheimliche Weise wieder aktuell ist, weil es der haute finance – der internationalen Finanz- und Banken-Welt – eine zentrale Rolle für Herausbildung, Erhalt und schließlich Zusammenbruch der gesamten „Zivilisation des 19. Jahrhunderts“ zuweist. Polanyis Mahnung, freie Märkte entstünden nicht „natürlich“, wenn man den Dingen ihren Lauf lässt, sondern sie beruhten auf bestimmten Entscheidungen, sollten wir uns zu Herzen nehmen. Denn sie verweist auf die Möglichkeit, die Entscheidungen auch anders zu treffen. Die richtige Entscheidung für Europa wäre, die Freiheit der Märkte dort enden zu lassen, wo sie die Freiheit der Menschen gefährdet. «

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