Europa-Predigt für bereits Bekehrte

Streitschrift oder Bewerbungsbuch? Martin Schulz hat viel Richtiges zum Thema Europa aufgeschrieben - leider allzu holzschnittartig

Eine Streitschrift nennt Martin Schulz sein Buch über Europa. Man könnte es auch ein Bewerbungsbuch nennen, denn der SPD-Politiker und amtierende Präsident des Europäischen Parlaments würde gerne die Rollen tauschen. Sein Ziel ist es, vom Parlamentspräsidenten zum Regierungschef der EU zu werden. Es geht um Macht. Das steht nicht im Buch, aber man muss es wissen, um die Schrift richtig verstehen zu können.

Den Posten des EU-Regierungschefs gibt es noch nicht. Die Bundeskanzlerin, die CDU und auch die deutschen Sozialdemokraten wollen, dass die EU-Kommission zu einer vollwertigen, demokratisch verantwortlichen Exekutive wird. Bis es so weit ist, wird noch viel Zeit vergehen, weil vorher eine Vertragsreform nötig ist. Und die nimmt in der EU Jahre in Anspruch. Schulz beschreibt einen Trampelpfad, der schneller in die Nähe des Ziels führt: Der nächste EU-Kommissionspräsident soll vom Europaparlament gewählt werden, und geborener Kandidat wäre der Spitzenkandidat derjenigen Partei, die bei der Wahl 2014 die meisten Stimmen erhält. Schulz hofft, dass er dies sein wird, denn er möchte die europäischen Sozialisten anführen. Und er hat beste Chancen, das zu schaffen.

Die Idee, über gemeinsame Spitzenkandidaten der Parteien der oft sterilen, farblosen Europapolitik und den Wahlen zum Europäischen Parlament mehr Leben einzuhauchen, darüber hinaus den künftigen Präsidenten der Kommission demokratisch legitimieren zu lassen, vertreten auch die Grünen. Sie ist gut und sicher einer der starken Punkte des Buches von Schulz. Schade ist nur, dass er seine eigenen Ambitionen nicht erwähnt, denn er macht ja keinen theoretischen Vorschlag, sondern will ihn selber ausfüllen. Und wenn es bei der Wahl 2014 gerade um Personen gehen soll, wäre es doch gut, wenn diese möglichst früh Farbe bekennen würden.

Schulz plant einen kleinen Aufstand

Politisch spannend ist Schulz’ Plan: Bislang suchen die Staats- und Regierungschefs den Präsidenten der EU-Kommission aus. Meist ist es ein Ehemaliger aus ihrem eigenen Kreis, zumindest aber ein wichtiger Minister, dem sie das wichtige Amt anvertrauen. Wenn es nun ein Parlamentarier schaffen würde, an die Spitze der EU-Exekutive zu gelangen, wäre das mehr als ein Novum. Wer vom Volkswillen getragen wird, den können die Regierungschefs nicht so einfach verhindern, ohne den Souverän zu provozieren. Der Schulz-Plan würde die EU vom Kopf auf die Füße stellen. Richtig angelegt und durchgefochten, könnte die Wahl zum Europaparlament fast so etwas wie ein kleiner Aufstand der Volksvertreter sein, mit dem sie die Arroganz der Macht beenden und den Völkern die EU zurückgeben.

Doch all das spielt Schulz leider nicht durch, es bleibt bei ein paar trockenen Sätzen. Auch so hat er, das muss man anerkennen, das Plädoyer eines Pro-Europäers geschrieben. Doch diesem Plädoyer fehlt es an Leidenschaft, an Frische und, was besonders schmerzt: an Bürgernähe. Schulz fundamentale Argumente sind alle richtig. Im Wesentlichen sind es drei: Die Aufgabe der EU, Frieden zwischen ihren Nationen zu stiften, hat sich noch nicht überlebt. In der globalisierten Welt können die Europäer sich nur gemeinsam behaupten. Und für eine besser funktionierende EU brauchen wir mehr, nicht weniger Europa. Doch es reicht heute nicht mehr, diese richtigen Argumente wie Gebotstafeln hochzuhalten in der Erwartung, dass sie von selber durchschlagende Wirkung erzielen.

Dagegen würde Schulz jetzt wohl einwenden, dass er dies ja auch nicht getan habe. Auf fast hundert Seiten befasst er sich mit den Schwächen der EU. Dabei fallen harte Sätze wie der, dass die EU „umso erbärmlicher erscheint, je näher man an ihr Zentrum heranrückt“. Oder jener, dass „die europäische Idee unter die Räder gekommen ist“. Wohlgemerkt: im Indikativ. Europa habe in der Krise ebenso versagt wie beim arabischen Frühling, stellt Schulz fest. Das sind ausgesprochen schwere Vorwürfe, die aber nur mit schwachen Argumenten gekontert werden. Im Grunde führt Schulz nur zwei auf, die er immer wieder variiert: Daran seien entweder die Regierungschefs und ihre Machtversessenheit schuld sowie ein angeblicher neoliberaler Konsens. Was aber hat denn das Europaparlament dagegen getan, möchte man fragen.

Was ebenso verwundert, ist die Tat-sache, dass der Pro-Europäer Schulz sich zum Teil die krudesten Argumente der Europagegner zu eigen macht. Die Entscheidung über den Euro sei „politisch motiviert gewesen“ und „der Preis, den wir für die deutsche Wiedervereinigung zu zahlen hatten“. Wie bitte? Hat der Präsident des Europaparlaments vergessen, dass Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher zweieinhalb Jahre vor dem Fall der Mauer eine Währungsunion forderte, weil ihm klar war, dass ein Binnenmarkt nicht existieren kann, wenn er ständig durch Währungsschwankungen gestört wird?

Merkwürdigkeiten und Widersprüche

Das ist leider nicht die einzige Merkwürdigkeit, um nicht zu sagen Nachlässigkeit in diesem Buch. Die Globalisierung führt Schulz auf „politische Entscheidungen“ der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds zurück. Die Tatsache, dass mehrere Milliarden Menschen aus Asien, Afrika und Lateinamerika in der Weltwirtschaft mitspielen wollen und nicht mehr als selbstverständlich hinnehmen, dass der Norden sie dominiert, erwähnt er nicht einmal. Menschen aus den Entwicklungsländern kommen aber durchaus vor, wenn auch in eher robusten Formulierungen: „Bei Bedarf wollen wir Einwanderer ins Land holen können, wenn es uns etwa an Fachkräften mangelt oder unsere Sozialversicherungen unbezahlbar werden.“ Der Migrant als Notstopfen.

Seit Jahren gibt es eine engagierte Debatte über den europäischen Föderalismus. Schulz aber schreibt, die EU habe „schon längst die Schwelle zum Staatenbund überschritten“. Dabei haben wir dieses Stadium bereits hinter uns gelassen. Schulz selbst will nach einer neuen Vertragsreform, die weiter in Richtung Föderalismus führen soll, eine Volksabstimmung darüber in allen europäischen Ländern durchführen. „Und jene Staaten, die den neuen Vertrag nicht ratifizieren können oder wollen, sollten die Möglichkeit nutzen, die EU zu verlassen.“ An dieser Stelle müsste Schulz doch zumindest überlegen, was geschähe, wenn es (wie schon 2005) in Frankreich ein „Nein“ gäbe. Machen wir dann einfach das Licht aus? Oder geht es ohne Frankreich weiter? Schulz verwendet keinen Gedanken darauf. Überraschenderweise sagt er aber an anderer Stelle, es sei jetzt nicht die Zeit für eine Verfassungsdebatte, denn nun müsse „erst mal das Feuer gelöscht werden“. Dann wiederum fordert er mitten in einer langen Passage mit Kritik an der heutigen EU: „Was wir dringend brauchen, ist eine echte europäische Regierung, die parlamentarisch gewählt und kontrolliert wird.“ Und genau die erfordert einen neuen Vertrag oder eine Verfassung. Was also gilt?

Das Europäische Parlament müsse mehr Kompetenzen erhalten, das ist eine weitere Grundmelodie des Buches. Erst dann werde sich die Wahlbeteiligung erhöhen. Doch weist Schulz selbst nach, dass die Rechte des Parlaments kontinuierlich ausgeweitet wurden, die Wahlbeteiligung aber „kontinuierlich zurückgeht“. Mit diesem Paradox müsste sich der Präsident des Parlaments doch auseinandersetzen, bevor er behauptet, neue Kompetenzen für die Europaabgeordneten würden die Bürger begeistert an die Urnen treiben.

Steckt Schulz zu tief im Gerangel fest?

Auch zur europäischen Identität äußert Schulz Erstaunliches: Der Eurovision Song Contest trage „zu einer gemeinsamen Identität“ bei. Die möchte man nicht unbedingt über sich ergehen lassen. Nach dieser Schlager-Begeisterung wundert man sich fast nicht mehr, wenn Schulz bemerkt: „Eine positive Nebenerscheinung der Krise ist, dass wir uns mehr für unsere Nachbarländer zu interessieren beginnen.“ Meint er damit die vermeintliche Entdeckung vieler Deutscher, die Spanier und Griechen arbeiteten zu wenig? Oder den frischen Zorn der Südländer auf Deutschland, das mutmaßlich die Eurozone beherrschen will? An Stellen wie diesen fragt man sich, ob Schulz die von der Eurokrise ausgelösten frischen Ressentiments nicht mitbekommt – was eigentlich nicht sein kann, denn er warnt ja auch vor den „alten Dämonen“ des Nationalismus, die noch nicht besiegt seien.

Die grundsätzlichen Argumente von Martin Schulz für eine Vertiefung der EU sind richtig und wichtig. Er schreibt viel Bedenkenswertes zur deutschen Verantwortung für Europa und zu dem, was wir Europa verdanken. Doch vielleicht steckt Schulz zu tief im Gerangel der europäischen Institutionen fest, um die unmittelbaren Zweifel an der EU insgesamt noch wirklich nachvollziehen zu können. Sie kommen vor in seinem Buch, werden aber routiniert abgearbeitet. Man darf bezweifeln, dass seine Sprache, seine oft seltsamen Beispiele die Menschen erreichen, die von der EU enttäuscht sind. Ohne Europa können wir uns in der Welt nicht behaupten, droht der Rückfall in die Barbarei: Das halte ich für richtige Aussagen. Doch wenn man sie so holzschnittartig predigt wie Schulz, wird daraus fast eine Provokation für alle, die nicht bereits überzeugt sind.

Martin Schulz, Der gefesselte Riese: Europas letzte Chance, Berlin: Rowohlt Verlag 2013, 272 Seiten, 19,95 Euro

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