Das fabelhafte Programm des François Hollande

Bei manchen deutschen Sozialdemokraten steht die französische Parti Socialiste derzeit hoch im Kurs. Gute Gründe dafür gibt es nicht. Denn schlüssige Konzepte für Frankreichs riesige Probleme sucht man im Programm des sozialistischen Präsidentschaftskandidaten vergeblich. Sollte François Hollande dennoch gegen Nicolas Sarkozy gewinnen, wird er sehr schnell einen klaren Kurs vorgeben müssen.

Bis zu den Mordanschlägen in Toulouse und Montauban standen die wirtschaftliche Lage Frankreichs, die Beschäftigungspolitik und die Finanzen im Mittelpunkt der Kampagnen zu den Präsidentschaftswahlen. Diese Themen und die Frage, wer von den Präsidentschaftskandidaten die überzeugenderen Antworten darauf gibt, werden vermutlich auch bei der Stichwahl am 6. Mai 2012 entscheidend sein – selbst wenn die innere Sicherheit aufgrund der Morde eines französischen Anhängers von Al-Kaida an Maghrebinern und Juden schlagartig nach vorne gerückt ist.

Nicolas Sarkozys politische Grundmelodie ist das „starke Frankreich“, das in Europa zwar eine wichtige Rolle spielt, aber keine weiteren Souveränitätsrechte abtritt und zur Not auch mal einen nationalen Alleingang wagt – etwa um die Grenzen für Zuwanderer oder für Waren aus den Schwellenländern zu schließen. Den vor allem auf weitere Reformen und das Vorbild Deutschland ausgerichteten Wahlkampf, zu dem Sarkozy anfangs ansetzte, hat er unter dem Einfluss seiner derzeit zwei wichtigsten Berater – der eine ein Rechtskonservativer, der andere ein eingefleischter Europaskeptiker – rasch abgeblasen.

Ist François Hollande, der immer noch beste Chancen hat, am 6. Mai in der Stichwahl zum Präsidenten Frankreichs gewählt zu werden, ein ermunterndes Vorbild für die Linke in Europa? Bislang hält er nicht mit einem schlüssigen, begeisternden eigenen Vorschlag gegen Sarkozys Ideen. Sein Motto lautet zwar „Der Wandel ist jetzt“, aber was er darunter versteht, lässt sich nur schwer und schon gar nicht in einem Satz ausdrücken. Seine engen Berater argumentieren, er wolle den Franzosen, die in einer Art kollektiver Depression versunken seien, vor allem wieder Hoffnung auf politische Gestaltungsfähigkeit und eine gute Zukunft Frankeichs geben. Doch diese Botschaft spricht bislang weder aus seinem Programm noch aus seinen Auftritten.

Der Mann, dessen Stunde kam, als der eigentlich als sozialistischer Kandidat vorgesehene Dominique Strauss-Kahn seinen Ruf und seine Karriere mit einem Zimmermädchen in einem New Yorker Hotelzimmer verspielte, hat ein Programm von 60 Einzelvorschlägen unterbreitet. Der erste und damit wohl wichtigste ist: die Gründung einer staatlichen Investitionsbank. Soviel zum Thema Begeisterungsfähigkeit.

Widersprüche wohin man auch schaut

Im Querschnitt betrachtet ist Hollandes 60-Punkte-Plan eine seltsame Mischung aus Einsicht in wirtschaftliche Zwänge – er will die staatliche Verschuldung abbauen und das zerfranste Steuersystem grundüberholen – und altlinkem Staatsglauben. Dieser drückt sich in vielerlei neuen Ausgabenprogrammen und noch mehr Steuererhöhungen aus. Bis nach Deutschland vorgedrungen ist seine Ankündigung, er werde für Einkommen über eine Million Euro den Spitzensteuersatz auf 75 Prozent erhöhen. Das Zustandekommen dieses nicht ganz unwichtigen Vorschlags und die Reaktionen darauf sprechen Bände über die völlig andere Wahlkampfführung in Frankreich.

François Hollande kündigte den 75-Prozent-Knaller an, ohne den Vorschlag mit wichtigen Mitgliedern seines Teams besprochen zu haben und ohne sagen zu können, welchen Effekt er hätte. In Deutschland wäre das als Ausweis von Stümperhaftigkeit und mangelnder Seriosität angekommen. In Frankreich freute man sich mehrheitlich darüber, dass endlich ein Politiker die Spitzenverdiener zur Kasse bitten will. In Wirklichkeit brächte diese Zusatzsteuer nur ein minimales Aufkommen, und Hollande selber hatte noch unlängst ausführlich begründet, wieso solch hohe Steuern sinnlos sind. Aber das ist vielen Franzosen egal.

Vieles an Hollandes Programm ist wider-sprüchlich. Immer wieder bekennt er sich ausdrücklich zu dem Ziel, die Schulden abzubauen. Und er weist richtigerweise darauf hin, dass an Staatsschulden nur die Vermögenden verdienen, auf deren Konten die staatlichen Zinszahlungen landen. Doch er traut sich nicht, ein Sanierungsprogramm durchzubuchstabieren. Seine eigenen Mitarbeiter räumen ein, dass trotz aller Steuererhöhungen ungefähr 50 Milliarden Euro fehlen, damit seine Rechnung aufgeht. Ebenso offen bleibt, wie der sozialistische Kandidat die Begrenzung des Anstiegs der Staatsausgaben auf ein Prozent jährlich erreichen will. Der Trend liegt näher an zwei Prozent, und angesichts der zahlreichen neuen Ausgaben, die Hollande etwa im Schulwesen vorhat, muss er an anderer Stelle hart einschneiden. Doch er sagt nicht, wo.

Diese Widersprüchlichkeit erklärt sich aus der Rücksichtnahme auf innerparteiliche Strömungen, die einander spinnefeind sind. Nur mit Mühe hat Hollande die Linke, die in ihrer Europa-skepsis und im Glauben an die heilsame Wirkung möglichst hoher Steuern den Kommunisten gleicht, und die diversen anderen, mehr an Personen als an politischen Grundeinstellungen ausgerichteten „courants“ dazu gebracht, während des Wahlkampfs die Feindseligkeiten einzustellen. Der Preis, den er dafür zahlte, war unter anderem das Versprechen, in der Eurozone den Fiskalpakt neu zu verhandeln.

Paradoxerweise wird nun gerade diese schwer begründbare Forderung zum Anlass einer neuen Zusammenarbeit zwischen SPD und Parti Socialiste: Weil die schwarz-gelbe Koalition in Berlin keine Zweidrittelmehrheit für den Vertrag bekommt, wenn die SPD nicht hilft, können die deutschen Sozialdemokraten Bedingungen stellen. Und sie stellen praktisch wortgleich dieselben Bedingungen wie Hollande: Gemeinsame europäische Initiativen für Wachstum, „Project Bonds“ für eine europäische Energiewende und für Initiativen gegen Jugendarbeitslosigkeit, mehr Kredite der Europäischen Investitionsbank. Dank der SPD gewinnen Hollandes Forderungen plötzlich realpolitisches Gewicht. So viel Gemeinsamkeit zwischen deutschen Sozialdemokraten und französischen Sozialisten hat es sehr lange nicht gegeben.

Leider ist das Verlangen nach einem anderen Fiskalpakt für die Eurozone ein politischer Solitär in Hollandes Programm. Es gibt keinen schlüssigen Entwurf für ein „anderes Europa“, das der Kandidat als sein Ziel reklamiert, und in halblaut aufgesagten Nebensätzen lässt Hollande Ansichten erkennen, die Sarkozys Forderungen nach dichten Außengrenzen der EU und einer anderen Außenhandelspolitik sehr nahe kommen.

Keine Ideen zum Thema Integration

Wie realitätstauglich sind Hollandes Vorstellungen? So sinnvoll vieles von dem ist, was er zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit vorschlägt (das meiste liest sich wie von der SPD abgeschrieben): Sein Programm bleibt merkwürdig weit von der Lebenswirklichkeit vieler Franzosen entfernt. Fast nichts findet sich zu Einwanderung und Integration. Wird er in Fernsehinterviews zur Rede gestellt, sagt der Sozialist nach manchen Windungen, auch er wolle die Zahl der Zuwanderer verringern. Nichts ist von ihm zu hören darüber, dass nicht Zahlen, sondern die Art der Zuwanderung entscheidend ist, nichts sagt er über ein Einstiegsfenster für Begabte und Fähige. Von ihm kommt nur ein sprödes: „Ich werde die Zahl der Zuwanderer verringern, durch schnellere Asylverfahren.“

Eine komplette Leerstelle sind die ungelösten Probleme der Vorstädte. Dabei sind sie eine weit größere Gefahr für die friedliche Entwicklung des Landes und für ein halbwegs harmonisches Zusammenleben der Gesellschaft als die im Wahlkampf immer wieder beschworene angebliche Belastung der Mittelschichten. Vor mehr als zwanzig Jahren erschienen in Frankreich die ersten Studien über die aussichtslose Lage der Banlieues, noch vor wenigen Jahren wurden sie von blutigen Unruhen erschüttert. Sarkozy hat zwar mit Milliardenaufwand viele Viertel renovieren lassen, an den sozioökonomischen Benachteiligungen und an der Verzweiflung vieler Bewohner der Vorstädte aber hat sich wenig geändert. Umso frappierender, dass ein sozialistischer Kandidat über diese flagrante Ungerechtigkeit der französischen Gesellschaft einfach hinweggeht. Es ist ein Treppenwitz, dass die französischen Großbanken mehr über Hilfe für die Banlieues reden als Sarkozys Herausforderer.

Dritte Schwäche: Wohnungsnot und hohe Mieten, die sehr viele Franzosen betreffen, tauchen zwar als Missstand in Hollandes Programm auf, doch bietet er keine überzeugenden Lösungen an. Staatlichen Unternehmen will er Flächen abnehmen und als Bauland ausweisen – leichter gesagt als getan –, und die Förderung soll erhöht werden. Das wird nicht reichen, um ein wirklich existenzielles Problem des Landes konstruktiv anzugehen.

Was also ist von Hollande zu erwarten, sollte er tatsächlich gewählt werden? So wenig sein Programm an schlüssigen Antworten gibt, so sicher ist: Er wird sich sehr schnell entscheiden müssen, wie er die Sanierung des Haushalts und soziale Verbesserungen auf einen Nenner bringt. Anderenfalls werden seine Wähler ihn ebenso schnell fallen lassen wie die Investoren, die heute noch französische Staatsanleihen kaufen.


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